s hat die Krätze", knurrte der Alte.
"Das Leben lieben und zugleich die Menschen verachten, das geht selten
gut aus", sagte Fabian und stand auf. Er verließ den Gast, der noch
immer Kaffee trank, bat Frau Hohlfeld, den Onkel nicht zu stören, und ging
zum Arbeitsamt seines Bezirks.
Nachdem er drei Beamte absolviert hatte, das heißt nach zwei
Stunden, erfuhr er, daß er fehl am Ort sei und sich an eine westliche
Filiale zu wenden habe, die speziell für Büroangestellte bestimmt war. Er
fuhr mit dem Autobus zum Wittenbergplatz und ging in das angegebene Lokal.
Die Auskunft war falsch gewesen. Er geriet mitten in eine Schar arbeitsloser
Krankenschwestern, Kindergärtnerin-nen und Stenotypistinnen und erregte, als
einziger männ-licher Besucher, die größte Aufmerksamkeit.
Er zog sich zurück, trat auf die Straße und fand, ein paar
Hausnummern weiter, einen Laden, der wie das Geschäft eines Konsumvereins
aussah, jetzt aber eben jene Filiale des Arbeitsamtes darstellte, in der er
sich melden sollte. Hinter dem ehemaligen Ladentisch saß ein Beamter,
davor standen, in langer Kette, erwerbslose Angestellte, legten, einer nach
dem anderen, die Stempelkarte vor und erhielten den erforderlichen
Kontrollvermerk.
Fabian war erstaunt, wie sorgfältig diese Arbeitslosen gekleidet waren,
manche konnten geradezu elegant ge-nannt werden, und wer ihnen auf dem
Kurfürstendamm begegnet wäre, hätte sie fraglos für freiwillige
Müßiggänger gehalten. Vermutlich verbanden die Leute den morgendlichen
Gang zur Stempelstelle mit einem Bummel durch die vornehmen
Geschäftsstraßen. Vor den Schau-fenstern stehen zu bleiben, kostete
noch immer nichts, und wer wollte erkennen, ob sie nichts kaufen konnten,
oder ob sie es nur nicht wollten? Sie trugen ihre Feiertags-anzüge, und sie
taten recht daran, denn wer hatte so viele Feiertage wie sie?
Ernst und auf Haltung erpicht, standen sie in Reih und Glied und
warteten, bis sie ihre Stempelkarte wieder einstecken durften. Dann gingen
sie hinaus, als verließen sie eine zahnärztliche Klinik.
Manchmal schimpfte der Beamte und legte eine Karte beiseite. Ein
Gehilfe trug sie in den Nebenraum. Dort thronte ein Inspektor und zog
unregelmäßige Besucher der Kontrollstelle zur Rechenschaft. Von Zeit
zu Zeit trat eine Art von Portier aus der Tür und rief einen Namen. Fabian
las die Druckschriften, die an den Wänden hingen. Es war verboten, Armbinden
zu tragen. Es war verboten, Umsteigebilletts der Straßenbahn von den
Erstinhabern zu übernehmen und weiter zu benutzen. Es war verboten,
politische Debatten hervorzurufen und sich an ihnen zu beteiligen. Es wurde
mitgeteilt, wo man für dreißig Pfennige ein ausgesprochen nahrhaftes
Mittagessen erhal-ten könne. Es wurde mitgeteilt, für welche
Anfangsbuch-staben sich die Kontrolltage verschoben hatten. Es wurde
mitgeteilt, für welche Berufszweige die Nachweisadressen und die
Auskunftszeiten geändert worden waren. Es wurde mitgeteilt. Es war verboten.
Es war verboten. Es wurde mitgeteilt.
Das Lokal leerte sich allmählich. Fabian legte dem Beam-ten seine
Papiere vor. Der Mann sagte, Propagandisten seien hier nicht üblich, und er
empfehle Fabian, sich an die Stelle zu wenden, die für freie Berufe,
Wissenschaftler und Künstler zuständig sei. Er nannte die Adresse.
Fabian fuhr mit dem Autobus bis zum Alexanderplatz. Es war fast Mittag.
Er geriet in der neuen Filiale in eine sehr gemischte Gesellschaft. Den
Anschlägen entnahm er, daß es sich möglicherweise um Ärzte, Juristen,
Ingenieure, Diplomlandwirte und Musiklehrer handelte. "Ich bin jetzt bei der
Krisenfürsorge", sagte ein kleiner Herr. "Ich kriege 24,50 Mark. Auf jeden
Kopf meiner Familie kom-men in der Woche 2,72 Mark, und auf einen Tag für
einen Menschen 38 Pfennige. Ich habe es in meiner chronischen Freizeit genau
ausgerechnet. Wenn das so weitergeht, fange ich nächstens an, einzubrechen."
"Wenn das so leicht wäre", seufzte sein Nachbar, ein kurzsichtiger
Jüngling. "Sogar Stehlen will gelernt sein. Ich habe ein Jahr im Gefängnis
gesessen. Also, es gibt erfreulichere Milieus."
"Es ist mir egal, wenigstens vorher", erklärte der kleine Herr erregt.
"Meine Frau kann den Kindern nicht mal ein Stück Brot in die Schule
mitgeben. Ich sehe mir das nicht länger mit an."
"Als ob Stehlen Sinn hätte", sagte ein großer, breiter Mensch,
der am Fenster lehnte. "Wenn der Kleinbürger nichts zu fressen hat, will er
gleich zum Lumpenproleta-riat übergehen. Warum denken Sie nicht
klassenbewußt, Sie kleine häßliche Figur? Merken Sie noch immer
nicht, wo Sie hingehören? Helfen Sie die politische Revolution vorbereiten."
"Bis dahin sind meine Kinder verhungert."
"Wenn man Sie einsperrt, weil Sie geklaut haben, verhungern Ihre werten
Herren Kinder noch rascher", sagte der Mann am Fenster. Der kurzsichtige
Jüngling lachte und schaukelte entschuldigend mit der Schulter. "Meine
Soh-len sind völlig zerrissen", sagte der kleine Herr. "Wenn ich jedesmal
hierherlaufe, sind die Schuhe in einer Woche hin, und zum Fahren habe ich
kein Geld."
"Kriegen Sie keine Stiefel von der Wohlfahrt?" fragte der Kurzsichtige.
"Ich habe so empfindliche Füße", erklärte der kleine Herr.
"Hängen Sie sich auf!" meinte der Mann am Fenster.
"Er hat einen so empfindlichen Hals", sagte Fabian.
Der Jüngling hatte ein paar Münzen auf den Tisch gelegt und zählte sein
Vermögen. "Die Hälfte des Geldes geht regelmäßig für
Bewerbungsschreiben drauf. Porto braucht man. Rückporto braucht man. Die
Zeugnisse muß ich mir jede Woche zwanzigmal abschreiben und
beglaubigen lassen. Kein Mensch schickt die Papiere zurück. Nicht einmal
Antwort erhält man. Die Bürofrit-zen legen sich vermutlich mit meinem
Rückporto Brief-markensammlungen an."
"Aber die Behörden tun, was sie tun können", sagte der Mann am Fenster.
"Unter anderem haben sie Gratiszeichenkurse für Arbeitslose eingerichtet.
Das ist eine wahre Wohltat, meine Herren. Erstens lernt man Äpfel und
Beefsteaks malen, und zweitens wird man davon satt. Die Kunsterziehung als
Nahrungsmittel."
Der kleine Herr, dem jeder Humor abhanden gekommen zu sein schien,
sagte bedrückt: "Das nützt mir gar nichts. Ich bin nämlich Zeichner."
Dann ging ein Beamter durch den Warteraum, und Fabian erkundigte sich,
vorsichtig geworden, ob er Aussicht habe, hier abgefertigt zu werden. Der
Beamte fragte nach dem Ausweis des regionalen Arbeitsamts.
"Sie haben sich noch nicht gemeldet? Das müssen Sie vorher erledigen."
"Jetzt geh ich wieder dorthin, wo ich vor fünf Stunden die Tournee
begonnen habe", sagte Fabian. Aber der Beamte war nicht mehr da.
"Die Bedienung ist zwar höflich", meinte der Jüngling, "aber daß
die Auskünfte immer stimmen, kann kein Mensch behaupten."
Fabian fuhr mit dem Autobus zum Arbeitsamt seines Wohnbezirks. Er hatte
bereits eine Mark Fahrgeld ver-braucht und blickte vor Wut nicht aus dem
Fenster.
Als er ankam, war das Amt geschlossen. "Zeigen Sie mal Ihre Papiere
her", sagte der Portier. "Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein." Fabian
gab dem Biedermann das Zettelpaket: "Aha", erklärte der Türsteher nach
eingehender Lektüre. "Sie sind ja gar nichts arbeitslos." Fabian setzte sich
auf einen der bronzenen Meilensteine, welche die Einfahrt zierten.
"Sie haben bis zum Monatsende gewissermaßen bezahlten Urlaub. Das
Geld haben Sie doch von Ihrer Firma er-halten?"
Fabian nickte.
"Dann kommen Sie mal in vierzehn Tagen wieder", schlug der andere vor.
"Bis dahin können Sie es ja mit Bewerbungsschreiben probieren. Lesen Sie die
Stellenan-gebote in den Zeitungen. Viel Sinn hat es nicht, aber man soll's
nicht beschreien."
"Glückliche Reise", sprach Fabian, nahm die Papiere in Empfang und
begab sich in den Tiergarten, wo er ein paar Brötchen verzehren wollte. Zu
guter Letzt verfütterte er sie aber an die Schwäne, die mit ihren Jungen im
Neuen See spazieren fuhren.
Als er gegen Abend das Zimmer betrat, fand er seine Mutter vor. Sie
saß auf dem Sofa, legte ein Buch beiseite und sagte: "Da staunst du,
mein Junge."
Man umarmte sich. Sie fuhr fort: "Ich mußte nachsehen, was du
machst. Vater paßt inzwischen auf, daß niemand ins Geschäft
kommt. Ich hatte Sorgen um dich. Du beantwortest meine Briefe nicht mehr.
Zehn Tage hast du nicht geschrieben. Es ließ mir keine Ruhe, Jakob."
Er setzte sich neben die Mutter, streichelte ihre Hände und erklärte,
es gehe ihm gut.
Sie betrachtete ihn prüfend. "Komme ich dir ungelegen?"
Er schüttelte den Kopf. Sie stand auf. "Die Wäsche habe ich dir schon
in den Schrank geräumt. Deine Wirtin könnte mal reinemachen. Ist sie noch
immer zu fein dazu? Was denkst du, was ich mitgebracht habe." Sie öffnete
den Spankorb und legte Pakete auf den Tisch. "Blutwurst", sagte sie, "ein
Pfund, aus der Breiten Straße, du weißt schon. Kaltes Schnitzel.
Leider kann man hier nicht in die Küche, sonst würde ich's aufbraten.
Schinkenspeck. Eine halbe Salamiwurst. Tante Martha läßt grüßen.
Ich war gestern bei ihr im Garten. Ein paar Stück Seife aus dem Laden. Wenn
das Geschäft bloß nicht so schlecht ginge. Ich glaube, die Leute
waschen sich nicht mehr. Und hier eine Krawatte, gefällt sie dir?"
"Du bist so gut", sagte Fabian. "Aber du sollst nicht so viel Geld für
mich ausgeben."
"Quatsch mit Sauce", sagte die Mutter und legte die Eßwaren auf
einen Teller. "Sie mag uns ein bißchen Tee kochen, deine Gnädige. Ich
hab's ihr schon erzählt. Morgen abend fahre ich zurück. Ich bin mit dem
Perso-nenzug gekommen. Die Zeit verging schnell. Ein Kind war im Abteil. Wir
haben viel gelacht. Was macht dein Herz? Du rauchst zu viel? Überall stehen
leere Zigaretten-schachteln herum."
Fabian sah der Mutter zu. Sie hantierte vor lauter Rührung wie ein
Gendarm.
"Ich mußte gestern daran denken", sagte er, "wie das damals war,
als ich im Internat steckte, und du warst krank, und ich rannte abends
davon, über den Exerzier-platz, nur um zu sehen, wie es dir ginge. Einmal,
das weiß ich noch, schobst du einen Stuhl vor dir her und stütztest
dich darauf, sonst hättest du mir gar nicht öffnen können."
"Du hast viel durchgemacht mit deiner Mutter", sagte sie. "Man
müßte sich öfter sehen. Wie geht's in der Fabrik?"
"Ich habe ihnen ein Preisausschreiben vorgeschlagen. Daran können sie
eine Viertelmillion verdienen."
"Für zweihundertsiebzig Mark im Monat, diese Bande." Die Mutter war
empört. Dann klopfte es. Frau Hohlfeld brachte den Tee, stellte das Tablett
auf den Tisch und sagte: "Ihr Onkel ist schon wieder da."
"Dein Onkel?" fragte die Mutter erstaunt.
"Ich habe mich schon gewundert", erklärte die Wirtin.
"Hoffentlich haben Sie sich dabei keinen Schaden getan, gnädige Frau",
erwiderte Fabian, und Frau Hohlfeld entfernte sich gekränkt. Fabian holte
den Erfinder ins Zimmer und sagte: "Mama, das ist ein alter Freund von mir.
Er hat gestern auf dem Sofa geschlafen, und ich habe ihn zu meinem Onkel
ernannt, um das Verfahren abzu-kürzen." Er wandte sich an den Erfinder. "Das
ist meine Mutter, lieber Onkel. Die beste Frau des Jahrhunderts. Nehmen Sie
Platz. Aus dem Sofa wird heute freilich nichts. Aber ich möchte Sie für
morgen einladen, wenn es Ihnen recht ist."
Der alte Herr setzte sich, hustete, stülpte den Hut auf den Schirmknauf
und drückte Fabian ein Kuvert in die Hand. "Stecken Sie das rasch ein", bat
er. "Es ist meine Maschine. Man ist hinter mir her. Meine Familie will mich
wieder einmal ins Irrenhaus bringen. Sie hofft wahrscheinlich, mir dabei die
Notizen abzujagen und zu Geld zu machen."
Fabian steckte den Briefumschlag ein. "Man will Sie ins Irrenhaus
sperren?"
"Ich habe nichts dagegen", bemerkte der Alte. "Man hat seine Ruhe dort.
Der Park ist wundervoll. Der leitende Arzt ist ein erträglicher Kerl, selber
ein bißchen verrückt und spielt ausgezeichnet Schach. Ich war schon
einmal dort. Wenn mir's zu dumm wird, rück ich wieder aus. Entschuldigen
Sie, meine Dame", sagte er zu der Mutter. "Ich mache Ihnen Ungelegenheiten.
Erschrecken Sie nicht, wenn man mich abholt. Es wird gleich klingeln. Ich
bin soweit. Die Papiere sind gut aufgehoben. Verrückt bin ich übrigens
nicht, ich bin meinen werten Angehörigen zu vernünftig. Lieber Freund,
schreiben Sie mir ein paar Zeilen nach Bergendorf in die Heilanstalt."
Es klingelte.
"Da sind sie schon", rief der Alte. Frau Hohlfeld ließ zwei
Herren eintreten.
"Ich bitte, die Störung zu entschuldigen", sagte der eine und verbeugte
sich. "Vollmachten, die Sie gern einsehen können, veranlassen mich, Herrn
Professor Kollrepp aus Ihrem Kreise zu entfernen. Unten wartet mein Auto."
"Wozu die Umstände, lieber Sanitätsrat? Sie sind dünner geworden. Ich merkte
es schon gestern, daß ihr mir auf der Spur wart. Tag, Winkler. Da
wollen wir mal in Ihren Wagen klettern. Wie geht's meiner lieben Familie?"
Der Arzt hob die Schultern.
Der Alte ging zum Schrank hinüber, öffnete ihn, sah hinein und
schloß die Tür wieder. Dann trat er zu Fabian und nahm dessen Hand.
"Ich danke Ihnen sehr." Er schritt zur Tür. "Sie haben einen guten Sohn",
sagte er zu der alten Frau. "Das kann nicht jeder von sich behaup-ten." Dann
verließ er das Zimmer. Der Arzt und der Wärter folgten ihm. Fabian und
seine Mutter blickten durchs Fenster. Ein Auto stand vor dem Haus. Die drei
Männer traten aus der Tür. Der Chauffeur half dem alten Erfinder in einen
Staubmantel. Die Pelerine wurde ver-staut.
"Ein komischer Mann", sagte die Mutter, "aber verrückt ist er nicht."
Das Auto fuhr davon. "Warum sah er eigentlich in den Schrank?"
"Ich habe ihn heute früh in den Schrank gesperrt, damit die Wirtin
nichts merkte", sagte der Sohn. Die Mutter goß Tee ein. "Aber
leichtsinnig ist es trotzdem von dir, wildfremde Menschen hier schlafen zu
lassen. Wie schnell kann etwas passieren. Hoffentlich hat er deine Sachen im
Schrank nicht schmutzig gemacht."
Fabian schrieb sich die Adresse der Irrenanstalt auf das Kuvert und
schloß es weg. Dann setzte er sich zum Essen. Nach dem Abendbrot sagte
er: "Komm, mach dich fertig. Wir gehen ins Kino." Während sich die Mutter
anzog, besuchte er Cornelia und erzählte ihr, daß seine Mutter da sei.
Die Freundin war müde und lag schon im Bett. "Ich schlafe, bis du aus dem
Kino zurück bist", meinte sie. "Siehst du dann noch einmal zu mir herein?"
Er versprach es.
Der Tonfilm, den Fabian und seine Mutter sahen, war ein albernes
Theaterstück, das in zwei Dimensionen verlief. Abgesehen davon war nicht
gespart worden, der vorge-führte Luxus überschritt jede Grenze. Man hatte,
obwohl dergleichen anstandshalber nicht gezeigt wurde, den Ein-druck, unter
den Betten stünden goldene Nachttöpfe. Die Mutter lachte wiederholt, und das
freute Fabian so sehr, daß er mitlachte.
Nach Hause gingen sie zu Fuß. Die Mutter war vergnügt. "Wenn ich
früher so gesund gewesen wäre wie heute, mein Junge, dann hättest du es
besser gehabt", meinte sie nach einiger Zeit.
"Es war auch so nicht übel", sagte er. "Und außerdem ist es
vorbei."
Zu Hause stritten sie sich ein bißchen, wer im Bett und wer auf
dem Sofa schlafen solle. Endlich siegte Fabian. Die Mutter bereitete das
Sofa zur Nacht. Er müsse erst einmal nebenan, sagte er dann. "Dort wohnt
eine junge Dame, und ich bin mit ihr befreundet." Er verabschiedete sich für
alle Fälle, gab der Mutter einen Kuß und öffnete leise die Tür.
Eine Minute später kam er wieder. "Sie schläft schon", flüsterte er und
bestieg sein Sofa.
"Früher wäre das nicht möglich gewesen", bemerkte Frau Fabian.
"Das hat ihre Mutter auch gesagt", meinte der Sohn und drehte sich nach
der Wand. Plötzlich, kurz vor dem Einschlafen, stand er noch einmal auf,
tappte durchs dunkle Zimmer, beugte sich über das Bett und sagte wie einst:
"Schlaf gut, Muttchen."
"Du auch", murmelte sie und öffnete die Augen. Er konnte das nicht
sehen. Er tastete sich im Finstern zum Sofa zurück.
DREIZEHNTES KAPITEL
Das Kaufhaus und Arthur Schopenhauer
Das reziproke Bordell
Die zwei Zwanzigmarkscheine
Am anderen Morgen wurde er von seiner Mutter geweckt. "Aufstehen,
Jakob! Du kommst zu spät ins Büro!" Er machte sich rasch fertig, trank den
Kaffee im Stehen und verabschiedete sich.
"Ich werde inzwischen Ordnung schaffen", sagte sie. "Sowas von Staub
überall. Und an deinem Mantel ist der Henkel abgerissen. Geh ohne Mantel. Es
ist ja warm draußen." Fabian lehnte an der Tür und sah zu, wie die
Mutter hantierte. Ihr aus Nervosität und Ordnungsliebe addierter Fleiß
wirkte anheimelnd. Das Zimmer war erfüllt davon, es erinnerte plötzlich an
zu Hause. "Daß du dich ja nicht fünf Minuten hinsetzt und die Hände in
den Schoß legst", warnte er.
"Wäre es nicht schöner, wenn ich jetzt Zeit hätte? Wir könnten in den
Tiergarten gehen. Oder ins Aquarium. Oder wir blieben hier, und du würdest
mir wieder einmal davon erzählen, wie komisch ich als Kind war. Als ich die
Bettstelle mit der Stecknadel zerkratzte und dich dann bei der Hand nahm, um
dir das herrliche Gemälde zu zeigen. Oder als ich dir zum Geburtstag
weißen und schwarzen Zwirn und ein Dutzend Nähnadeln und Druckknöpfe
schenkte."
"Und ein Heft Stecknadeln und weiße und schwarze Nähseide. Es ist
mir noch wie heute", sagte die Mutter und strich sein Jackett glatt. "Der
Anzug müßte gebügelt werden."
"Und eine Frau müßte ich haben und sieben kleine ulkige Kinder",
ergänzte er in weiser Voraussicht. "Scher dich an die Arbeit!" Die Mutter
stemmte die Arme in die Hüften. "Arbeiten ist gesund. Übrigens, ich hole
dich am Nachmittag vom Büro ab. Ich warte vor der Tür. Dann bringst du mich
zum Bahnhof."
"Es ist sehr schade, daß du nur einen Tag bleiben kannst." Er kam
noch einmal zurück.
Die Mutter sah ihn nicht an. Sie machte sich am Sofa zu schaffen. "Ich
hielt es drüben nicht mehr aus", murmelte sie. "Aber nun geht's schon
wieder, du mußt nur länger schlafen, und du darfst das Leben nicht zu
schwer neh-men, mein Junge. Es wird dadurch nicht leichter."
"Nun gehe ich aber, sonst komme ich wirklich noch zu spät", sagte er.
Sie blickte ihm vom Fenster aus nach und nickte. Er winkte und lachte
und lief schnell, bis das Haus nicht mehr zu sehen war. Dann verlangsamte er
den Schritt und blieb schließlich stehen. Ein hübsches Versteckspiel
trieb er da mit der alten Frau! Rannte auf und davon, obwohl er nichts zu
tun hatte. Ließ sie da oben allein in dem fremden, häßlichen
Zimmer, obwohl er wußte, daß sie jede Stunde, die sie mit ihm
Zusammensein durfte, bereit war, gegen ein ganzes Jahr ihres Lebens
einzutauschen. Am Nachmittag würde sie ihn vom Büro abholen. Er mußte
ihr eine Komödie vorspielen. Sie durfte nicht wissen, daß er entlassen
war. Der Anzug, den er trug, war der einzige, den er sich in
zweiunddreißig Jahren selber gekauft hatte. Ihr Leben lang hatte sie
deswegen geschuf-tet und gespart. Sollte das denn nie ein Ende nehmen?
Weil es zu regnen anfing, ging er im Kaufhaus des Westens spazieren.
Kaufhäuser sind, obwohl das gar nicht in ihrer Absicht liegt,
außerordentlich geeignet, Leuten, die kein Geld und keinen Schirm
haben, Unterhaltung zu bieten. Er höre einer Verkäuferin zu, die sehr
gewandt Klavier spielte. Aus der Lebensmittelabteilung vertrieb ihn der
Fischgeruch, den er seit seiner Kindheit, vielleicht auf Grund einer
embryonalen Erinnerung, nicht ausstehen konnte. In der Möbeletage wollte ihm
ein junger Mann unbedingt einen großen Kleiderschrank verkaufen. Das
Stück sei preiswert, die Gelegenheit unwiederbringlich. Fabian entzog sich
der unerhörten Zumutung und wan-derte in die Buchabteilung. Er geriet an
einem der Anti-quariatstische über einen Auswahlband von Schopenhau-er,
blätterte und las sich fest. Der Vorschlag dieses verbiesterten Onkels der
Menschheit, Europa mit Hilfe einer indischen Heilpraxis zu veredeln, war
freilich eine Kateridee, wie bisher alle positiven Vorschläge, ob sie nun
von Philosophen des neunzehnten oder von Nationalöko-nomen des zwanzigsten
Jahrhunderts stammten. Aber davon abgesehen war der Alte unübertrefflich.
Fabian fand eine typologische Erörterung und las:
"Eben dieser Unterschied ist es, den Plato durch die Ausdrücke
̉έυχολος und
δύσχολος bezeichnete. Dersel-be
läßt sich zurückführen auf die bei verschiedenen Menschen sehr
verschiedene Empfänglichkeit für ange-nehme und unangenehme Eindrücke,
infolge welcher der eine noch lacht bei dem, was den anderen fast zur
Verzweiflung bringt, und zwar pflegt die Empfänglichkeit für angenehme
Eindrücke desto schwächer zu sein, je stärker sie für unangenehme ist, und
umgekehrt. Nach gleicher Möglichkeit des glücklichen und unglück-lichen
Ausgangs einer Angelegenheit wird der
δύσχολος bei dem unglücklichen sich
ärgern oder grämen, bei dem glücklichen sich aber nicht freuen; der
̉έυχολος hingegen wird über den
glücklichen sich freuen. Wenn dem
δύσχολος von zehn Vorhaben neun
gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern ärgert sich über das
eine mißlungene: der ̉έυχολος
weiß, im umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu
trösten und auf-zuheitern.
Wie nun aber nicht leicht ein Übel ohne alle Kompensa-tionen ist, so
ergibt sich auch hier, daß die
δύσχολοι, also die finsteren und
ängstlichen Charaktere, im ganzen zwar imaginäre, dafür aber weniger reale
Unfälle und Leiden zu überstehen haben werden als die heiteren und
sorglosen; denn wer alles schwarz sieht, stets das Schlimmste befürchtet und
demnach seine Vorkehrun-gen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet haben,
als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht leiht."
"Was darf ich Ihnen verkaufen?" fragte ein ältliches Fräulein.
"Haben Sie baumwollene Socken?" fragte Fabian.
Das ältliche Fräulein betrachtete ihn entrüstet und sagte: "Im
Erdgeschoß." Fabian legte das Buch auf den Tisch und stieg eine Treppe
abwärts. Hatte Schopenhauer damit recht, daß er, gerade er, jene zwei
menschlichen Gattun-gen als einander ebenbürtig gegenüberstellte? Hatte
nicht gerade er in seiner Psychologie behauptet: die Lustempfindung sei
nichts anderes als ein seelisches Minimum an Unlust? Hatte er in diesem Satz
die Anschauung der δύσχολοι wider
besseres Wissen verabsolutiert? In der Abteilung für Porzellan und
keramisches Kunstgewerbe war ein Auflauf. Fabian trat hinzu. Käufer,
Verkäuferin-nen und Bummler umstanden ein kleines verheultes Mäd-chen, das
zehn Jahre sein mochte, einen Schulranzen trug und ärmlich angezogen war.
Das Kind zitterte am ganzen Körper und blickte entsetzt in die bösen,
aufgeregten Gesichter der Erwachsenen ringsum. Der Abteilungschef kam. "Was
ist los?"
"Ich habe das freche Ding erwischt, wie es einen Aschen-becher stahl",
erklärte eine alte Jungfer. "Hier!" Sie hob eine kleine bunte Schale hoch
und zeigte sie dem Vorge-setzten.
"Marsch zum Direktor!" kommandierte der Cutaway.
"Jugend von heute", sagte eine aufgetakelte Gans.
"Marsch zum Direktor!" rief eine der Verkäuferinnen und packte die
Kleine an der Schulter. Das Kind weinte sehr.
Fabian schob sich durch die Versammlung. "Lassen Sie auf der Stelle das
Kind los!"
"Erlauben Sie mal", meinte der Abteilungsleiter.
"Was fällt Ihnen ein, sich einzumischen?" fragte jemand. Fabian gab der
Verkäuferin einen Klaps auf die Finger, daß sie das Kind
losließ, dann zog er das kleine Mädchen an seine Seite. "Warum hast du
denn ausgerechnet einen Aschenbecher weggenommen?" fragte er. "Rauchst du
schon Zigarren?"
"Ich hatte kein Geld", sagte das Mädchen. Dann hob es sich auf die
Zehenspitzen. "Mein Papa hat heute Ge-burtstag."
"Einfach stehlen, weil man kein Geld hat. Es wird immer schöner",
bemerkte die aufgetakelte Gans. "Schreiben Sie uns einen Kassenzettel aus",
sagte Fabian zu der Verkäuferin. "Wir behalten den Aschenbecher."
"Das Kind verdient aber Strafe", behauptete der Abtei-lungsleiter.
Fabian trat auf den Mann zu. "Wenn Sie sich meinem Vorschlag widersetzen
wollen, schmeiße ich Ihnen den ganzen Porzellanladen kaputt."
Der Cutaway zuckte mit den Schultern, die Verkäuferin schrieb einen
Zettel aus und brachte den Aschenbecher zur Auslieferung. Fabian ging zur
Kasse, zahlte und nahm das Päckchen in Empfang. Dann begleitete er das Kind
bis zum Ausgang. "Hier hast du deinen Aschenbecher", sagte er. "Aber
paß gut auf, daß er nicht entzweigeht. Es war einmal ein kleiner
Junge, der kaufte einen großen Koch-topf, um ihn seiner Mutter am
Heiligen Abend zu schen-ken. Als es soweit war, nahm er den Topf in die Hand
und segelte durch die halb offene Tür. Der Christbaum schim-merte
großartig. "Da, Mutter, da hast du..." sagte er und wollte sagen: "Da
hast du den Topf." Es gab aber einen Krach, der Topf zerbrach an der Tür.
"Da, Mutter, da hast du den Henkel", sagte der Junge nun, denn er hatte nur
noch den Henkel in der Hand."
Das kleine Mädchen sah zu ihm auf, hielt das Paket mit beiden Händen
fest und meinte: "Mein Aschenbecher hat ja gar keinen Henkel." Sie knickste
und lief fort. Dann drehte sie sich noch einmal um, rief: "Danke schön!" und
verschwand.
Fabian trat auf die Straße. Es regnete nicht mehr. Er stellte
sich an die Bordschwelle und sah den Autos zu. Ein Wagen hielt. Eine alte
Dame, mit Paketen behangen, schob sich schwerfällig vom Sitz und wollte
aussteigen. Fabian öffnete den Wagenschlag, half der Dame vom Trittbrett,
zog höflich den Hut und trat zur Seite. "Da!" sagte jemand neben ihm. Es war
die alte Dame. Sie drückte ihm etwas in die Hand, nickte und ging ins
Kaufhaus. Fabian machte die Hand auf. Er hielt einen Groschen. Er hatte
unfreiwillig einen Groschen verdient. Sah er bereits wie ein Bettler aus?
Er steckte die Münze ein, trat trotzig an den Straßenrand und
öffnete einen zweiten Wagen. "Da!" sagte jemand und gab ihm wieder einen
Groschen. "Das wächst sich zu einem Beruf aus", dachte Fabian und hatte eine
Viertel-stunde später fünfundsechzig Pfennig verdient. "Wenn jetzt Labude
vorbeikäme und den literarhistorisch vorge-bildeten Autoöffner sähe",
überlegte er. Aber der Gedan-ke erschreckte ihn nicht. Nur der Mutter hätte
er nicht begegnen mögen und auch Cornelia nicht. "Eine milde Gabe gefällig?"
fragte eine Frau und gab ihm ein größeres Geldstück. Es war Frau Irene
Moll. "Ich habe dich lange Zeit beobachtet, mein Junge", sagte sie und
lächelte schadenfroh. "Wir begegnen einander, wo wir können. Geht's dir so
dreckig? Du warst voreilig, als du das Angebot meines Mannes ablehntest, und
auch die Schlüssel hättest du behalten können. Ich wartete darauf, dich in
meinem Bett wiederzusehen. Deine Zurückhal-tung macht sinnlich. Hier, hilf
mir die Pakete tragen. Das Trinkgeld hast du schon."
Fabian ließ sich die Pakete aufladen und folgte schweigsam.
"Was kann ich für dich tun?" fragte sie nachdenklich. "Stellung
eingebüßt, was? Ich bin nicht nachtragend. Auf Moll ist leider nicht
mehr zu zählen. Er ist zu Schiff nach Frankreich oder sonstwohin. Und jetzt
wohnt die Krimi-nalpolizei bei uns. Moll hat die seinem Notariat übergebenen
Gelder unterschlagen. Seit Jahren schon, nie hätte ich ihm das zugetraut.
Wir haben ihn unterschätzt." "Wovon leben Sie denn nun?" fragte Fabian.
"Ich habe eine Pension eröffnet. Große Wohnungen sind jetzt
billig. Die Möbel hat mir ein alter Bekannter ge-schenkt, das heißt,
die Bekanntschaft ist jung, der Be-kannte ist alt. Ihm gehören nur ein paar
Gucklöcher in den Türen."
"Und wer wohnt in dieser übersichtlichen Pension?" "Junge Männer, mein
Herr. Wohnung und Verpflegung gratis. Außerdem erhalten sie
dreißig Prozent der Ein-nahmen."
"Welche Einnahmen?"
"Mein Verein unchristlicher Männer wird von Damen der besten
Gesellschaft mit wahrer Leidenschaft frequentiert. Die Damen sind nicht
immer schön und schlank, und daß sie mal jung waren, glaubt ihnen kein
Mensch. Aber sie haben Geld. Und wieviel ich auch verlange, sie zahlen. Und
wenn sie vorher ihre Herren Ehemänner bestehlen oder ermorden sollten, sie
kommen. Meine Pensionäre verdienen. Der Möbelhändler sieht zu. Die Damen
gehen ihren Passionen nach. Drei junge Leute sind mir schon abgekauft
worden. Sie haben beträchtliche Einkünfte, eigene Wohnung und kleine
Freundinnen nebenher, heimlich, versteht sich. Der eine, ein Ungar, wurde
von der Frau eines Industriellen erworben. Er lebt wie ein Prinz. Wenn er
klug ist, hat er in einem Jahr ein Vermö-gen. Dann kann er die alte
Schießbudenfigur abschaffen."
"Also ein Männerbordell", sagte Fabian.
"So ein Institut hat heute viel mehr Existenzberechti-gung als ein
Frauenhaus", erklärte Irene Moll. "Außer-dem träumte ich schon als
junges Mädchen davon, Be-sitzerin eines solchen Etablissements zu werden.
Ich bin sehr zufrieden. Ich habe Geld, ich engagiere fast täglich neue
Kräfte für das Unternehmen, und jeder, der sich um eine Pensionärstelle
bewirbt, muß bei mir eine Art Aufnahmeprüfung bestehen. Ich nehme
nicht jeden! Wirkliche Talente sind selten. Naturbegabungen gibt es schon
eher. Ich werde Fortbildungskurse einrichten müssen."
Sie blieb stehen. "Ich bin angelangt." Die Pension lag in einem
großen eleganten Mietshaus. "Ich möchte dir einen Vorschlag machen.
Als Pensionär kommst du nicht in Frage, mein Lieber. Du bist zu wählerisch,
du bist auch schon zu alt für die Branche, meine Kundschaft bevorzugt
Zwanzigjährige. Außerdem leidest du an falschem Stolz. Ich könnte dich
als Sekretär verwenden. Allmählich wird eine geordnete Buchführung
notwendig. Du könntest in meinen Privaträumen arbeiten, wohnen könntest du
auch dort. Wie denkst du darüber?"
"Hier sind die Pakete", sagte Fabian. "Ich möchte mei-nem Brechreiz
nicht zuviel zumuten."
In diesem Augenblick kamen zwei junge Burschen aus dem Haus. Sie waren
schick angezogen, zögerten, als sie Frau Moll erblickten, und nahmen die
Hüte ab.
"Gaston, hast du heute Ausgang?" fragte sie. "Mackie meinte, ich soll
mir mal das Auto ansehen, das ihm Nummer Sieben versprochen hat. In zwanzig
Minu-ten bin ich wieder da."
"Gaston, du gehst sofort auf dein Zimmer. Was ist das denn für eine
Wirtschaft? Mackie geht allein. Marsch! Für drei Uhr hat sich Nummer Zwölf
angemeldet. Bis dahin schläfst du, los!"
Der junge Mann ging ins Haus zurück, der andere setzte, nochmals
grüßend, seinen Weg fort.
Frau Moll wandte sich Fabian zu. "Du willst wieder nicht?" Sie nahm ihm
die Pakete ab. "Ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit. Die Adresse weißt
du nun. Überlege dir's. Verhungern ist Geschmackssache. Außerdem
tätest du mir einen persönlichen Gefallen. Wirklich. Je mehr du dich
sträubst, um so mehr reizt mich der Gedanke. Es eilt nicht, Zeitvertreib
habe ich mittlerweile genug." Sie ging ins Haus.
"Das grenzt an Zwangsläufigkeit", murmelte Fabian und kehrte um.
Er aß in einer Kneipe Bockwurst mit Kartoffelsalat. Dazu las er
die Zeitungen, die im Lokal aushingen, und notierte sich Stellenangebote.
Dann kaufte er in einem muffigen Papierladen Schreibmaterial und
verfaßte vier Bewer-bungsschreiben. Als er sie in den Kasten gesteckt
hatte, fand er, es sei Zeit. Und er pilgerte, recht müde, zu der
Zigarettenfabrik.
"Sieht man Sie auch mal wieder?" fragte der Portier.
"Ich will mich mit meiner Mutter hier treffen", antwortete Fabian.
Der Portier kniff ein Auge zu. "Verlassen Sie sich ganz auf mich."
Es war Fabian peinlich, daß der Mann die Komödie zu durchschauen
schien. Er ging rasch ins Verwaltungsge-bäude, setzte sich in eine
Fensternische und sah alle fünf Minuten auf die Uhr. Sooft er Schritte
hörte, drückte er sich dicht an den Fensterrahmen. In zehn Minuten war
Büroschluß. Die Angestellten hatten es eilig. Sie bemerk-ten ihn
nicht.
Er wollte sein Versteck gerade verlassen, als er wieder Schritte und
Stimmen vernahm, die sich näherten.
"Ich werde morgen in der Direktionssitzung von dem Preisausschreiben
berichten, das Sie da vorbereitet haben, lieber Fischer", sagte die eine
Stimme. "Der Vorschlag ist beachtlich, man wird Sie würdigen lernen."
"Herr Direktor sind sehr gütig", erwiderte die andere Stimme.
"Eigentlich habe ich das Projekt ja nur von Herrn Fabian geerbt."
"Erbmasse ist ein Besitz wie jeder andere, Herr Fischer!" Der Ton des
Direktors war unfreundlich. "Ist Ihnen mein Vorschlag unangenehm? Wäre Ihnen
eine Gehaltszulage so zuwider? Nun also! Außerdem bedarf das Projekt
einiger Verbesserungen. Ich werde gleich, unter Zugrun-delegung Ihres
Materials, ein Expose in die Maschine diktieren. Glauben Sie mir, es wird
Effekt machen, unser Preisausschreiben. Sie können jetzt nach Hause gehen.
Sie haben es gut."
"Meister muß sich immer plagen. Von Schiller", bemerkte Fischer.
Fabian trat aus der Nische. Fischer sprang er-schrocken einen Schritt
zurück. Direktor Breitkopf fin-gerte im Kragen. "Ich bin weniger überrascht
als Sie", sagte Fabian und ging zur Treppe.
"Da kommt er ja schon", meinte der Portier, der sich mit Fabians Mutter
unterhielt. Sie hatte den Koffer abgestellt, die Reisetasche, die Handtasche
und den Schirm auf den Koffer gelegt und nickte dem Sohn zu. "Hübsch
fleißig gewesen?" fragte sie. Der Portier lächelte gutmütig und
spazierte in seinen Verschlag.
Fabian gab der Mutter die Hand. "Wir haben noch eine halbe Stunde
Zeit", sagte er und nahm das Gepäck auf. Als sie einen Eckplatz im Zug
belegt hatten (im mittelsten Wagen, denn Frau Fabian hielt es für
angebracht, die üblen Folgen eines etwaigen Eisenbahnunglücks von vornherein
zu reduzieren), bummelten sie vor dem Kupee auf und ab.
"Nicht so weit weg." Sie hielt den Sohn am Ärmel. "Wie leicht wird ein
Koffer gestohlen. Kaum dreht man sich um, fort ist er." Schließlich
wurde Fabian mißtrauischer als die Mutter und spähte unentwegt durchs
Fenster zum Gepäcknetz.
"Nun kann's wieder abgehen", sagte sie. "Der Henkel vom Mantel ist
angenäht. Im Zimmer sieht's wieder menschlich aus. Frau Hohlfeld ist
beleidigt. Darauf kann man aber keine Rücksicht nehmen."
Fabian lief zu einem der fahrbaren Büfetts und brachte eine
Schinkensemmel, eine Packung Keks und zwei Apfelsinen.
"Junge, bist du leichtsinnig", sagte sie. Er lachte, kletterte ins
Abteil, schob ihr heimlich einen Zwanzigmarkschein in die Handtasche und
kletterte wieder auf den Bahnsteig.
"Wann wirst du endlich mal wieder nach Hause kommen?" fragte sie. "Ich
koche alle deine Lieblingsgerichte, jeden Tag ein anderes, und wir gehen zu
Tante Martha in den Garten. Im Geschäft ist ja so wenig los."
"Ich komme, sobald ich kann", versicherte er.
Als sie aus dem Kupeefenster blickte, meinte sie: "Bleib recht gesund,
Jakob. Und wenn's hier nicht vorwärts gehen will, pack dein Bündel und komm
heim."
Er nickte. Sie sahen einander an und lächelten, wie man auf Bahnsteigen
zu lachen pflegt, ähnlich wie beim Foto-grafen, nur daß weit und breit
kein Fotograf zu sehen ist. "Laß dir's gutgehen", flüsterte er. "Es
war schön, daß du da warst."
Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn.
Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel. "Wenig mit Liebe, Deine
Mutter", war daraufge-schrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu
lesen. "Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem
Pergamentpapier mehrere Tage."
Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im
Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzig-markschein finden, den er
ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen war das Ergebnis
gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber
gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft
anders als die arithmetische.
Am selben Abend bat ihn Cornelia um hundert Mark. Im Korridor des
Filmkonzerns sei ihr Makart begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins
Gebäude der Kon-kurrenz gekommen. Er hatte sie angesprochen. Sie sei der
Typ, den er schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht
sich. Sie solle ihn morgen im Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der
Regisseur wä-ren auch da. Vielleicht probiere man's mal mit ihr.
"Ich muß mir über Mittag einen neuen Jumper und einen Hut
besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast gar kein Geld mehr. Aber ich
kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Denke dir, wenn ich jetzt
Filmschauspielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?"
"Doch", sagte er und gab ihr seinen letzten Hundertmark-schein.
"Hoffentlich bringt dir das Glück." "Mir?" fragte sie.
"Uns", korrigierte er ihr zu Gefallen.
VIERZEHNTES KAPITEL
Der Weg ohne Tür
Fräulein Selows Zunge
Die Treppe mit den Taschendieben
In dieser Nacht träumte Fabian. Wahrscheinlich träumte er häufiger, als
er glaubte. Aber in dieser Nacht weckte ihn Cornelia, und so entsann er sich
des Traumes. Wer hätte ihn, vor Tagen noch, aus seinen Träumen wecken
sollen? Wer hätte ihn mitten in der Nacht ängstlich rütteln sollen, bevor er
neben Cornelia schlief? Er hatte mit vielen Frauen und Mädchen geschlafen,
das war richtig, aber neben ihnen?
Er lief im Traum durch eine endlose Straße. Die Häuser waren
unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häuser hatten weder
Fenster noch Türen. Und der Him-mel war weit entfernt und fremdartig wie
über einem tiefen Brunnen. Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. Er
sah, die Straße hörte nicht auf, aber er ging und wollte sie zu Ende
gehen.
"Es hat keinen Zweck", sagte da eine Stimme. Er blickte sich um. Der
alte Erfinder stand hinter ihm, in der verschossenen Pelerine, mit dem
schlechtgerollten Schirm und dem ergrauten steifen Hut.
"Guten Tag, lieber Professor", rief Fabian. "Ich dachte, Sie wären im
Irrenhaus."
"Hier ist es ja", sagte der Alte und schlug mit der Schirmkrücke gegen
eines der Gebäude. Es hallte ble-chern, dann ging ein Tor auf, wo keines
war.
"Meine neueste Erfindung", sagte der Alte. "Gestatten Sie, lieber
Neffe, daß ich vorausgehe, ich bin hier zu Hause." Fabian folgte. In
der Portierloge hockte Direktor Breitkopf, hielt sich den Bauch und stöhnte:
"Ich kriege ein Kind. Die Sekretärin hat sich wieder mal nicht vorge-sehen."
Dann schlug er sich dreimal auf die Glatze, und das klang laut wie ein Gong.
Der Professor steckte dem Direktor den schlechtgerollten Schirm tief in
den Schlund und spannte den Schirm auf. Breitkopfs Gesicht zerplatzte wie
ein Ballon.
"Verbindlichen Dank", sagte Fabian.
"Nicht der Rede wert", erwiderte der Erfinder. "Haben Sie meine
Maschine schon gesehen?" Er nahm Fabian an der Hand und führte ihn durch
einen Gang, in dem bläuliches Neonlicht brannte, ins Freie.
Eine Maschine, groß wie der Kölner Dom, türmte sich vor ihnen
auf. Halbnackte Arbeiter standen davor, mit Schau-feln bewaffnet, und
schippten Hunderttausende von klei-nen Kindern in einen riesigen Kessel, in
dem ein rotes Feuer brannte.
"Kommen Sie an das andere Ende", sagte der Erfinder. Sie fuhren auf
laufenden Bändern durch den grauen Hof.
"Hier", sagte der alte Mann und zeigte in die Luft.
Fabian blickte empor. Gewaltige, glühende Bessemerbir-nen senkten sich
nieder, kippten automatisch um und schüttelten ihren Inhalt auf einen
horizontalen Spiegel. Der Inhalt war lebendig. Männer und Frauen fielen auf
das glitzernde Glas, stellten sich gerade und starrten wie gebannt auf ihr
handgreifliches und doch unerreichbares Abbild. Manche winkten in die Tiefe
hinunter, als kenn-ten sie sich. Einer zog eine Pistole aus der Tasche und
schoß. Er traf, obwohl er, gestrichen Korn, seinem Bild ins Herz
gezielt hatte, seine wirkliche große Zehe und verzog das Gesicht. Ein
anderer drehte sich im Kreise. Offensichtlich wollte er seinem Abbild die
Kehrseite zuwenden, der Versuch mißlang.
"Hunderttausend am Tag", erläuterte der Erfinder. "Da-bei habe ich die
Arbeitszeit verkürzt und die Fünftagewo-che eingeführt."
"Lauter Verrückte?" fragte Fabian.
"Das ist eine Frage der Terminologie", antwortete der Professor. "Einen
Moment, die Kupplung versagt." Er trat an die Maschine heran und stocherte
mit seinem Schirm in einer Öffnung. Plötzlich verschwand der Schirm, dann
verschwand die Pelerine, sie zog den alten Mann hinter sich her. Er war
fort. Seine Maschine hatte ihn verschluckt.
Fabian fuhr auf dem laufenden Band zurück, quer durch den grauen Hof.
"Es ist ein Unglück passiert!" schrie er einem der halbnackten Arbeiter zu.
Da purzelte ein Kind aus dem Kessel. Es trug eine Hornbrille und hielt einen
schlechtgerollten Schirm im Händchen. Der Arbeiter nahm den Säugling auf die
Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden Kessel zurück. Fabian fuhr von
neuem den Hof entlang und wartete unter den schwankenden Besse-merbirnen,
daß sein alter Freund, erneut verwandelt, wiederkäme.
Er wartete vergebens. Statt dessen fiel er selbst, ein zweiter Fabian,
aber mit Pelerine, Schirm und Hut, aus einem der gewaltigen Kippkästen,
stellte sich zu den anderen Figuren und starrte, gleich ihnen, auf die
Spiegel-bilder. An seinen Sohlen, mit dem Kopf nach unten, hing sein Abbild,
ein dritter Fabian, im Spiegel und starrte aufwärts, dem zweiten Fabian ins
Gesicht. Dieser zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Maschine und
sagte: "Mechanische Seelenwanderung, Patent Kollrepp." Dann schritt er auf
den wirklichen Fabian zu, der im Hof stand, ging mitten in ihn hinein und
war nicht mehr da.
"Wie angegossen", gestand Fabian, nahm dem Maschi-nenmenschen, der ihn
unsichtbar ausfüllte, den Schirm ab, zog die Pelerine zurecht und war wieder
das einzige Exemplar seiner selbst.
Er blickte zu dem glänzenden Spiegel hinüber. Die Men-schen versanken
plötzlich darin wie in einem durchsichti-gen Sumpf. Sie rissen die Münder
auf, als ob sie vor Schreck schrien, aber es war nichts zu hören. Sie sanken
völlig unter die Spiegelfläche. Ihre Abbilder flohen, wie Fische, mit dem
Kopf voran, wurden immer kleiner und verschwanden ganz. Nun standen die
wirklichen Men-schen unten, und es war, als seien sie in Bernstein gefangen.
Fabian trat ganz nahe. Das war kein Spiegelbild mehr, was er sah. Über den
untergegangenen Wesen lag bloß eine Glasplatte, und die Leute lebten
weiter. Fabian kniete nieder und blickte hinab.
Fette, nackte Frauen, mit Sorgenfalten quer überm Leib, saßen an
Tischen und tranken Tee. Sie trugen durchbro-chene Strümpfe und im Genick
geflochtene Hütchen. Armbänder und Ohrgehänge blitzten. Eines der alten
Weiber hatte sich einen goldenen Ring durch die Nase gezogen. An anderen
Tischen saßen dicke Männer, halb-nackt, behaart wie Gorillas, mit
Zylindern, manche in lila Unterhosen, alle mit großen Zigarren
zwischen den dicken Lippen. Die Männer und Frauen schauten gierig auf einen
Vorhang. Er wurde zur Seite gezogen, und junge geschminkte Burschen in
enganliegenden Trikots stolzier-ten wie gezierte Mannequins über einen
erhöhten Lauf-steg. Den Jünglingen folgten, auch in Trikots, junge Mädchen,
sie lächelten affektiert und brachten alles, was an ihnen rund war,
angestrengt zur Geltung. Fabian erkannte einige, die Kulp, die Bildhauerin,
die Selow, auch Paula aus Haupts Festsälen war dabei.
Die alten Frauen und Männer preßten die Operngläser an die Augen,
sprangen auf, stolperten über Stühle und Tische, drängten dem Laufsteg zu,
schlugen einander, um vorwärts zu kommen, und wieherten wie geile Pferde.
Die dicken mit Schmuck beladenen Weiber rissen junge Bur-schen vorn Steg,
warfen sie heulend auf die Erde, knieten flehend nieder, spreizten die
fetten Beine, zerrten sich Brillanten von den Armen und Fingern und aus den
Ohrlappen und hielten sie bettelnd den verhurt lächelnden Gestalten
entgegen. Die alten Männer griffen mit ihren Affenarmen nach den Mädchen,
auch nach Jünglingen, und umarmten, blaurot vor Aufregung, wen sie
faßten. Unterhosen, Krampfadern, Sockenhalter, zerrissene far-bige
Trikots, fette und faltige Gliedmaßen, verzerrte Visagen, grinsende
Pomadenmünder, braune schlanke Arme, im Krampf zuckende Füße füllten
den Boden aus. Es war, als läge ein lebendiger Perserteppich auf der Erde.
"Deine Cornelia ist auch dabei", sagte Frau Irene Moll. Sie saß neben
ihm, und sie naschte aus einer großen Bonbontüte kleine junge Männer.
Sie riß ihnen zuerst die Kleider ab. Das sah aus, als ob sie in Papier
gewickelte Napolitains schälte. Fabian suchte Cornelia. Sie stand, während
sich alle anderen wild verknäuelt am Boden wälzten, allein auf dem Laufsteg
und wehrte sich gegen einen dicken brutalen Mann, der ihr mit der einen Hand
den Mund aufsperrte und mit der anderen seine brennende Zigarre, mit der
Glut voran, in den Mund stoßen wollte. "Sträuben nützt bei dem
nichts", meinte die Moll und kramte in ihrer Tüte. "Das ist Makart, ein
Filmfabrikant, Geld wie Heu. Seine Frau hat sich vergiftet." Cornelia wankte
und stürzte neben Makart in den Tumult.
"Spring ihr doch nach", sagte die Moll. "Aber du hast Angst, das Glas
zwischen dir und den anderen könnte zerbrechen. Du hältst die Welt für eine
Schaufensterausla-ge." Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber jetzt sah
Fabian den Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke Bein war eine
Prothese. Er stand auf einem Himmelbett und fuhr wie ein Wellenreiter über
das Gezappel der Menschen. Er schwang seinen Krückstock und schlug der Kulp,
die sich an dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände, bis das
Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank.
Wilhelmy befestigte eine Schnur am Stock, band einen Geldschein ans
Ende der Schnur und warf diese Angel aus. Die Menschen unter ihm sprangen
wie Fische in die Luft, schnappten nach der Banknote, fielen ermattet zurück
und schnellten wieder hoch. Da! Eine Frau hielt den Schein im Mund. Es war
die Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken hatte ihre Zunge durchbohrt.
Wilhelmy zog die Schnur ein, die Selow näherte sich, verzerrten Ge-sichts,
dem Bett. Aber hinter ihr tauchte die Bildhauerin auf, umschlang die
Freundin mit beiden Armen und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt weit
aus dem Mund. Wilhelmy und die Bildhauerin suchten das Mädchen an sich zu
ziehen, jeder auf seine Seite. Die Zunge wurde immer länger, lang wie ein
rotes Gummiband, und sie war zum Reißen gespannt. Wilhelmy rang nach
Luft und lachte.
"Wunderbar", rief Irene Moll. "Das grenzt an Tauziehen. Wir leben im
Zeitalter des Sports." Sie zerknüllte die leere Tüte und sagte: "Jetzt
freß ich dich." Sie riß ihm die Pelerine herunter. Ihre Finger
griffen wie Scheren inein-ander und zerschnitten Fabians Anzug. Er schlug
ihr mit der Schirmkrücke auf den Kopf. Sie taumelte und ließ ihn los.
"Ich liebe dich doch", flüsterte sie und weinte. Ihre Tränen drangen wie
kleine Seifenblasen aus ihren Augen-winkeln, wurden immer größer und
stiegen schillernd in die Luft.
Fabian erhob sich und ging weiter.
Er geriet in einen Saal, der keine Wände hatte. Unzählige Treppenstufen
führten von dem einen Ende des Saales hinauf zum anderen Ende. Auf jeder
Stufe standen Leute. Sie blickten interessiert nach oben und griffen
einander in die Taschen. Jeder bestahl jeden. Jeder wühlte heimlich in den
Taschen des Vordermannes, und während er das tat, wurde er vom Hintermann
beraubt. Es war ganz ruhig im Saal. Trotzdem war alles in Bewegung. Man
stahl emsig, und man ließ sich bestehlen. Auf der untersten Stufe
stand ein kleines zehnjähriges Mädchen und zog dem Vorder-mann einen bunten
Aschenbecher aus dem Mantel. Plötz-lich war Labude auf der obersten Stufe.
Er hob die Hände, blickte die Treppe hinunter und rief: "Freunde!
Mitbür-ger! Die Anständigkeit muß siegen!"
"Aber natürlich!" brüllten die anderen im Chor und kramten einander in
den Taschen.
"Wer für mich ist, hebe die Hand!" schrie Labude. Die anderen hoben die
Hand. Jeder hob eine Hand, mit der anderen stahl er weiter. Nur das kleine
Mädchen auf der untersten Stufe hob beide Hände.
"Ich danke euch", sagte Labude, und seine Stimme klang gerührt. "Das
Zeitalter der Menschenwürde bricht an. Vergeßt diese Stunde nicht!"
"Du bist ein Narr!" rief Cornelia, stand neben Labude und zog einen
großen hübschen Mann hinter sich her.
"Meine besten Freunde sind meine größten Feinde", sagte Labude
traurig. "Mir ist es gleich. Die Vernunft wird siegen, auch wenn ich
untergehe."
Da fielen Schüsse. Fabian sah hoch. Überall waren Fen-ster und Dächer.
Und überall standen finstere Gestalten mit Revolvern und Maschinengewehren.
Die Menschen auf der Treppe warfen sich lang hin, aber sie stahlen
weiter. Die Schüsse knatterten. Die Menschen starben, die Hände in fremden
Taschen. Die Treppe lag voller Leichen.
"Um die ist es nicht schade", sagte Fabian zu dem Freund. "Nun komm!"
Aber Labude blieb in dem Ku-gelregen stehen. "Um mich auch nicht mehr",
flüsterte er, drehte sich nach den Fenstern und Dächern um und drohte ihnen.
Aus den Dachluken und aus den Giebeln fielen Schüsse in die Tiefe. Aus den
Fenstern hingen Verwundete. Auf einer Giebelkante rangen zwei athleti-sche
Männer. Sie würgten und bissen einander, bis der eine taumelte und beide
abstürzten. Man hörte den Auf-schlag der hohlen Schädel. Flugzeuge
schwirrten unter der Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser. Die
Dächer begannen zu brennen. Grüner Qualm quoll aus den Fenstern.
"Warum machen das die Leute?" Das kleine Mädchen aus dem Kaufhaus
faßte Fabians Hand.
"Sie wollen neue Häuser bauen", erwiderte er. Dann nahm er das Kind auf
den Arm und stieg, über die Toten kletternd, die Stufen hinunter. Auf halbem
Weg begegne-te er einem kleinen Mann. Der stand da, schrieb Zahlen auf einen
Block und rechnete mit den Lippen. "Was machen Sie da?" fragte Fabian.
"Ich verkaufe die Restbestände", war die Antwort. "Pro Leiche
dreißig Pfennig, für wenig getragene Charaktere fünf Pfennig extra.
Sind Sie verhandlungsberechtigt?"
"Gehen Sie zum Teufel", schrie Fabian.
"Später", sagte der kleine Mann und rechnete weiter. Am Fuß der
Treppe setzte Fabian das kleine Mädchen hin.
"Nun geh nach Hause", meinte er. Das Kind lief davon. Es hüpfte auf
einem Bein und sang.
Er stieg wieder die Stufen empor. "Ich verdiene keinen Pfennig",
murmelte der kleine Mann, an dem er wieder vorbeikam. Fabian beeilte sich.
Oben brachen die Häuser zusammen. Stichflammen stiegen aus den Steinhaufen.
Glühende Balken neigten sich und sanken um, als tauch-ten sie in Watte. Noch
immer ertönten vereinzelt Schüsse. Menschen mit Gasmasken krochen durch die
Trümmer. Sooft sich zwei begegneten, hoben sie Gewehre, zielten und
schössen. Fabian sah sich um. Wo war Labude?
"Labude!" schrie er. "Labude!"
"Fabian!" rief eine Stimme. "Fabian!"
"Fabian!" rief Cornelia und rüttelte ihn. Er erwachte. "Warum rufst du
Labude?" Sie strich ihm über die Stirn.
"Ich habe geträumt", sagte er. "Labude ist in Frankfurt."
"Soll ich Licht machen?" fragte sie.
"Nein, schlaf rasch wieder ein, Cornelia, du mußt morgen hübsch
aussehen. Gute Nacht."
"Gute Nacht", sagte sie.
Und dann lagen beide noch lange wach. Jeder wußte es vom anderen,
aber sie schwiegen.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Ein junger Mann, wie er sein soll
Vom Sinn der Bahnhöfe
Cornelia schreibt einen Brief
Am nächsten Morgen saß er, als Cornelia ins Büro ging, am offenen
Fenster. Sie hatte eine Mappe unterm Arm und schritt eifrig aus. Sie hatte
Arbeit. Sie verdiente Geld. Er saß am Fenster und ließ sich von
der Sonne kitzeln. Sie schien warm, als sei die Welt in bester Ordnung,
nichts brachte sie aus der Fassung.
Cornelia war schon weit. Er durfte sie nicht zurückrufen. Wenn er es
getan und wenn er, aus dem Fenster gebeugt, gesagt hätte: "Komm wieder
herauf, ich will nicht, daß du arbeitest, ich will nicht, daß du
zu Makart gehst!", hätte sie geantwortet: "Was fällt dir ein? Gib mir Geld
oder halte mich nicht auf."
Er konnte sich nicht anders helfen, er streckte der Sonne die Zunge
heraus.
"Was machen Sie denn da?" fragte Frau Hohlfeld. Sie war unbemerkt
eingetreten.
Fabian sagte abweisend: "Ich fange Fliegen. Sie sind heuer groß
und knusprig."
"Gehen Sie nicht ins Geschäft?"
"Ich bin in den Ruhestand getreten. Vom nächsten Ersten ab erscheine
ich im Defizit des Finanzministeriums, als unvorhergesehene Mehrausgabe." Er
schloß das Fenster und setzte sich aufs Sofa.
"Stellungslos?" fragte sie.
Er nickte und holte Geld aus der Tasche. "Hier sind die achtzig Mark
für den nächsten Monat."
Sie nahm rasch das Geld und meinte: "Das war nicht so eilig, Herr
Fabian."
"Doch." Er legte die letzten Scheine und Münzen über-sichtlich auf den
Tisch und zählte, was ihm blieb. "Wenn ich mein Kapital auf die Bank bringe,
krieg ich drei Mark Zinsen im Jahr", sagte er. "Das lohnt sich kaum."
Die Wirtin wurde gesprächig. "In der Zeitung schlug gestern ein
Ingenieur vor, man solle den Spiegel des Mittelmeeres um zweihundert Meter
senken, dann kä-men große Ländereien ans Licht, wie vor der Eiszeit,
und man könne sie besiedeln und Millionen von Menschen darauf ernähren.
Außerdem sei, mit Hilfe kurzer Däm-me, eine durchgehende
Eisenbahnverbindung von Berlin bis Kapstadt möglich!"
Frau Hohlfeld war noch jetzt von dem Vorschlag des Ingenieurs
eingenommen und sprach voller Feuer.
Fabian pochte auf die Armlehne des Sofas, daß der Staub tanzte.
"Na also!" rief er. "Auf, ans Mittelmeer! Laßt uns seinen Spiegel
senken! Kommen Sie mit, Frau Hohl-feld?"
"Gern. Ich war seit meiner Hochzeitsreise nicht mehr dort. Eine
herrliche Gegend. Genua, Nizza, Marseille, Paris. Paris liegt übrigens nicht
am Mittelmeer." Sie gab dem Gespräch eine Wendung: "Da war das Fräulein
Doktor wohl sehr traurig?"
"Schade, daß sie schon fort ist, sonst hätten wir sie fragen
können."
"Ein bezauberndes Mädchen, und so vornehm, ich finde, sie ähnelt der
Königin von Rumänien, als sie noch jung war."
"Erraten." Fabian erhob sich und brachte die Wirtin zur Tür. "Es soll
eine Tochter der Königin sein. Aber bitte, nicht weitersagen."
Nachmittags saß er in einem großen Zeitungsverlag und
wartete, daß Herr Zacharias Zeit fände. Herr Zacharias war ein
Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu ihm gesagt
hatte: "Wenn Sie mich mal brauchen, melden Sie sich." Fabian blätterte
gedankenlos in einer der Zeitschriften, die den Tisch des Warteraums
zierten, und entsann sich des Gesprächs. Zacharias hatte damals der
Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachs-tum der christlichen Kirche
nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei, begeistert
zugestimmt; er hatte auch Wells' Forderung verfochten, daß es an der
Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife
und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst
von Idealen zu stellen. Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des
Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These; die Eig-nung des
Propagandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers zum
Propagandisten stünden außer-dem in Frage; Vernunft könne man nur
einer beschränk-ten Zahl von Menschen beibringen, und die sei schon
vernünftig. Zacharias und er hatten sich förmlich gestrit-ten, bis sie
fanden, der Meinungsstreit trage allzu akade-mischen Charakter, denn beide
möglichen Resultate - der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen
Aufklärung - setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe keiner Geld.
Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge. Papphülsen fielen
klappernd aus Metallröhren. Das Telefon des Aufsichtsbeamten klingelte
fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer
ins andere. Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger
Mitarbeiter, die Treppe hinunter.
"Herr Zacharias läßt bitten."
Ein Bote brachte ihn bis zur Tür. Zacharias gab Fabian temperamentvoll
die Hand. Es war die hervorstechendste Eigenschaft dieses jungen Mannes,
alles, was er tat, außerordentlich lebhaft zu besorgen. Er kam aus der
Begeisterung nicht heraus. Ob er sich nun die Zähne putzte oder ob er
debattierte, ob er Geld ausgab oder ob er seinen Vorgesetzten Vorschläge
machte, stets riß er sich ein Bein aus. Wer in seine Nähe kam, wurde
von dieser Humorlosigkeit infiziert. Plötzlich wurde ein Gespräch über das
Binden von Krawatten zum aufregendsten The-ma der Gegenwart. Und die
Vorgesetzten merkten, wenn sie mit Zacharias Geschäftliches erörterten, wie
ungeheu-er wichtig ihr Beruf, ihr Verlag und ihr Posten eigentlich waren.
Die Karriere des Mannes war nicht aufzuhalten. Daß er selbst
Wesentliches leistete, war unwahrschein-lich. Er diente dem Betrieb als
Katalysator, den Menschen seiner Umgebung als Stimulans. Er wurde
unentbehrlich und hatte jetzt schon, mit achtundzwanzig Jahren, ein
Monatsgehalt von zweitausendfünfhundert Mark. Fabian erzählte, was es zu
erzählen gab.
"Frei ist nichts", sagte Zacharias, "und ich wäre Ihnen so gern
gefällig. Außerdem bin ich überzeugt, daß wir beide glänzend
miteinander auskämen. Was machen wir bloß?" Er preßte die Hände
an die Schläfen wie ein Wahrsager dicht vor der Erleuchtung. "Was halten Sie
von Folgen-dem: Wenn ich Sie bei mir anstelle, als privaten Mitarbei-ter,
den ich aus eigener Tasche bezahle? Ich könnte eine Kraft wie Sie gut
gebrauchen. Man erwartet hier im Hause pro Tag ein Dutzend Anregungen von
mir. Bin ich ein Automat? Was kann ich dafür, daß den anderen noch
weniger einfällt? Wenn das so weitergeht, läuft sich mein Gehirn einen Wolf.
Ich habe seit kurzem ein kleines nettes Auto, Steyr, Sechszylinder,
Spezialkarosserie. Wir könn-ten jeden Tag ein paar Stunden ins Grüne fahren
und Eier legen. Ich chauffiere gern, es beruhigt die Nerven. Drei-hundert
Mark würde ich für Sie lockermachen. Und sobald hier ein Posten frei wird,
hätten sie ihn. Na?" Ehe Fabian antworten konnte, fuhr der andere fort:
"Nein, es geht nicht. Man würde sagen, Zacharias hält sich einen
weißen Neger. Ich bin vor keinem dieser Kerle sicher. Sie stehen alle
mit der Axt hinter der Tür, um mir eins über den Kürbis zu hauen. Was machen
wir bloß? Fällt Ihnen nichts ein?"
Fabian sagte: "Ich könnte mich auf den Potsdamer Platz stellen, mit
einem großen Schild vorm Bauch, auf dem etwa stünde: "Dieser junge
Mann macht augenblicklich nichts, aber probieren Sie's, und Sie werden
sehen, er macht alles." Ich könnte den Text auch auf einen großen
Luftballon malen."
"Wenn Sie den Vorschlag ernst meinten, wäre er gut!" rief Zacharias.
"Aber er ist nichts wert, weil Sie nicht daran glauben. Sie nehmen nur die
wirklich ernsten Dinge ernst, und vielleicht nicht einmal die. Es ist ein
Jammer. Mit Ihrer Begabung wäre ich heute leitender Direktor." Za-charias
wandte bei Leuten, die ihm überlegen waren, einen höchst raffinierten Trick
an: er gab diese Überlegen-heit zu, er bestand geradezu auf ihr.
"Was nützt es mir, daß ich begabter bin?" fragte Fabian betrübt.
Diese rhetorische Anfrage hatte Zacharias nicht erwartet. Wenn er selber
offen war, genügte das. Statt dessen kam einer des Wegs, bat um Rat und
wurde obendrein vorlaut.
"Es ist schade, daß Sie mir die Bemerkung übelnehmen", sagte
Fabian. "Ich wollte Sie nicht kränken. Ich bin auf meine Talente nicht
eingebildet, sie reichen glatt zum Verhungern. Und so schlecht, daß
ich auf sie stolz sein müßte, geht es mir erst in vierzehn Tagen."
Zacharias stand auf und begleitete den Besucher betont bis zur Treppe.
"Rufen Sie mich morgen mal an, gegen zwölf Uhr, nein, da habe ich eine
Konferenz, sagen wir nach zwei. Vielleicht fällt mir inzwischen was ein.
Servus."
Fabian hätte gern Labude angerufen, doch der war in Frankfurt. Er hätte
ihm beileibe nichts von seinen Sorgen erzählt. Sorgen hatte Labude selber.
Die bekannte Stimme wollte er hören, weiter nichts. Zwischen Freunden
konn-ten Gespräche übers Wetter Wunder wirken. Die Mutter war wieder fort.
Der ulkige alte Erfinder war, samt Pelerine, auf dem Weg ins Irrenhaus.
Cornelia kaufte sich einen neuen Hut, um ein paar Filmleuten zu gefallen.
Fabian war allein. Warum konnte man nicht, bis auf Widerruf, vor sich selber
davonlaufen? Obwohl er ziellos durch die City wanderte, stand er wenig
später vor dem Haus, in dem Cornelia angestellt war. Er setzte, ärgerlich
über sich, den Weg fort und ertappte sich dabei, daß er in jedes
Hutgeschäft schielte. Saß sie jetzt noch im Büro? Probierte sie
bereits Hüte und Jumper?
Am Anhalter Bahnhof kaufte er eine Zeitung. Der Mann, der im Kiosk
saß, sah gemütlich aus. "Könnten Sie jemanden brauchen, der Ihnen
hilft?" fragte Fabian.
"Nächstens lerne ich Strümpfe stricken", sagte der Mann, "vor einem
Jahr hatte ich doppelten Umsatz, und auch der war nicht üppig. Die Leute
lesen die Zeitungen neuerdings nur noch beim Friseur oder im Café. Bäcker
hätte man werden sollen. Das Brot kriegen die Leute beim Friseur noch nicht
umsonst."
"Neulich hat jemand vorgeschlagen, das Brot von Staats wegen ins Haus
zu liefern, genau wie das Leitungswas-ser", erzählte Fabian. "Passen Sie
auf, eines Tages schützt nicht mal das Brotbacken vorm Verhungern."
"Wollen Sie eine Stulle haben?" fragte der Mann im Kiosk.
"Eine Woche reicht's schon noch", sagte Fabian, bedankte sich und ging
zum Bahnhof hinüber. Er studierte den Fahrplan. Sollte er, vom letzten Geld,
ein Billett kaufen und zur Mutter kutschieren? Aber vielleicht wußte
Zacharias morgen einen Ausweg? Als er aus dem Bahnhof trat und wieder diese
Straßenfluchten und Häuserblocks vor sich sah, dieses hoffnungslose,
unbarmherzige Labyrinth, wurde ihm schwindlig. Er lehnte sich neben ein paar
Gepäckträgern an die Wand und schloß die Augen. Doch nun quälte ihn
der Lärm. Ihm war, als führen die Straßen-bahnen und Autobusse mitten
durch seinen Magen. Er kehrte wieder um, stieg die Treppe zum Wartesaal
hinauf und legte dort den Kopf auf eine harte Bank. Eine halbe Stunde später
war ihm wohler. Er ging zur Straßenbahn-haltestelle, fuhr nach Hause,
warf sich aufs Sofa und schlief sofort ein.
Abends erwachte er. Die Vorsaaltür schlug laut zu. Kam Cornelia? Nein,
jemand lief rasch die Treppe hinunter. Er ging ins andere Zimmer hinüber und
erschrak.
Der Schrank stand offen. Er war leer. Die Koffer fehlten. Fabian machte
Licht, obwohl es erst dämmerte. Auf dem Tisch, von der Vase beschwert, in
der Blumen aufs Wegwerfen warteten, lag ein Brief. Er nickte, nahm den Brief
und ging in sein Zimmer zurück.
"Lieber Fabian", schrieb Cornelia, "ist es nicht besser, ich gehe zu
früh als zu spät? Eben stand ich neben Dir am Sofa. Du schliefst, und Du
schläfst auch jetzt, während ich Dir schreibe. Ich bliebe gern, aber stell
Dir vor, ich bliebe! Ein paar Wochen noch, und Du wärst recht unglücklich.
Dich bedrückt nicht das Gewicht der Not, sondern der Gedanke, daß Not
so wichtig werden kann. Solange Du allein warst, konnte Dir nichts
geschehen, was auch geschah. Es wird wieder werden, wie es war. Bist Du sehr
traurig?
Sie wollen mich im nächsten Film herausstellen. Morgen unterschreibe
ich den Kontrakt. Makart hat mir zwei Zimmer gemietet. Es ist nicht zu
umgehen. Er sprach darüber, als handle es sich um einen Zentner Briketts.
Fünfzig Jahre ist er alt, und er sieht aus wie ein zu gut angezogener
Ringkämpfer im Ruhestand. Mir ist, als hätte ich mich an die Anatomie
verkauft. Wenn ich noch einmal in Dein Zimmer käme und Dich weckte? Ich
lasse Dich schlafen. Ich werde nicht zugrunde gehen. Ich werde mir
einbilden, der Arzt untersucht mich. Er mag sich mit mir beschäftigen, es
muß sein. Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig
macht. Und wir wollen doch heraus! Ich schreibe: Wir. Verstehst Du mich? Ich
gehe jetzt von Dir fort, um mit Dir zusammenzubleiben. Wirst Du mich
liebbehalten? Wirst Du mich noch anschauen wollen und umarmen können trotz
dem anderen? Morgen nachmittag werde ich, von vier Uhr ab, im Café
Schottenhaml auf Dich warten. Was soll aus mir werden, wenn Du nicht kommst?
Cornelia."
Fabian saß ganz still. Es wurde immer finsterer. Das Herz tat
weh. Er hielt die Knäufe des Sessels umklammert, als wehre er sich gegen
Gestalten, die ihn fortziehen wollten. Er nahm sich zusammen. Der Brief lag
unten auf dem Teppich und glänzte im Dunkel.
"Ich wollte mich doch ändern, Cornelia!" sagte Fabian.
SECHZEHNTES KAPITEL
Fabian fährt auf Abenteuer
Schüsse am Wedding
Onkel Felles Nordpark
Am selben Abend fuhr er mit der Untergrundbahn in den Norden hinauf. Er
stand am Fenster des Wagens und blickte unverwandt in den schwarzen Schacht,
in dem manchmal kleine Lampen vorbeizogen. Er starrte auf die belebten
Bahnsteige der unterirdischen Bahnhöfe. Er starrte, wenn sich der Zug aus
dem Schacht emporhob, auf die grauen Häuserzeilen, in düstere
Querstraßen und in erleuchtete Zimmer hinein, wo fremde Menschen rund
um den Tisch saßen und auf ihr Schicksal warteten. Er starrte auf das
glitzernde Gewirr der Eisenbahngeleise hinunter, über denen er dahinfuhr;
auf die Fernbahnhöfe, in denen die roten Schlafwagenzüge ächzend an die
weite Reise dachten; auf die stumme Spree, auf die von grellen
Leuchtschriften belebten Theatergiebel und auf den stern-losen violetten
Himmel über der Stadt.
Fabian sah das alles, als führen nur seine Augen und Ohren durch
Berlin, und er selber sei weit, weit weg. Sein Blick war gespannt, aber das
Herz war besinnungslos. Er hatte lange in seinem möblierten Zimmer gesessen.
Ir-gendwo in dieser unabsehbaren Stadt lag jetzt Cornelia mit einem
fünfzigjährigen Mann im Bett und schloß ergeben die Augen. Wo war sie?
Er hätte die Wände von allen Häusern reißen mögen, bis er die zwei
fand. Wo war Cornelia? Warum verdammte sie ihn zur Untätigkeit? Warum tat
sie das in einem der wenigen Augenblicke, wo es ihn zu handeln trieb? Sie
kannte ihn nicht. Sie hatte lieber falsch gehandelt, als ihm zu sagen:
"Handle du richtig!" Sie glaubte, er könne eher tausend Schläge erdul-den,
als selber einmal den Arm erheben. Sie wußte nicht, daß er sich
danach sehnte, Dienst zu tun und Verantwor-tung zu tragen. Wo aber waren die
Menschen, denen er so gern gedient hätte? Wo war Cornelia? Unter einem
dicken alten Mann lag sie und ließ sich zur Hure machen, damit der
liebe Fabian Lust und Zeit zum Nichtstun hatte. Sie schenkte ihm
großzügig jene Freiheit wieder, von der sie ihn befreit hatte. Der
Zufall hatte ihm einen Menschen in die Arme geführt, für den er endlich
handeln durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte,
verfluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und nun war beiden
nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die Arbeit Sinn erhielt, weil er
Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und weil er die Arbeit verlor, verlor
er Cornelia. Er hatte, durstig, ein Gefäß in der Hand gehalten und es
nicht tragen mögen, weil es leer war. Da, als er es kaum noch hoffte, war
das Schicksal gnädig gewesen und hatte das Gefäß gefüllt. Er hatte
sich darübergeneigt und end-lich trinken wollen. "Nein", hatte da das
Schicksal gesagt, "nein, du hieltest ja den Becher nicht gern", und das
Gefäß war ihm aus den Händen geschlagen worden, und das Wasser war
über seine Hände zur Erde geflossen.
Hurra! Nun war er frei. Er lachte so laut und böse, daß die
anderen Fahrgäste, leicht verstimmt, von ihm abrückten. Er stieg aus. Es war
ja gleichgültig, wo er ausstieg, er war frei, Cornelia erschlief sich,
weiß der Teufel wo, eine Karriere oder eine Verzweiflung oder beides.
Auf der Chausseestraße, am Trakt der Polizeikasernen, sah er in den
geöffneten Toren grüne Autos, Scheinwerfer blitzten. Polizisten kletterten
auf die Wagen und standen, entschlossen, in stummer Kolonne. Einige Autos
ratterten in nördlicher Richtung davon. Fabian folgte ihnen. Die
Straße war voller Menschen. Zurufe flogen den Wagen nach. Zurufe, als
wären es schon Steine. Die Mannschaf-ten blickten geradeaus.
Am Weddingplatz riegelten sie die Reinickendorfer Straße ab, auf
der Arbeitermassen näherzogen. Berittene Polizei wartete hinter der
Sperrkette darauf, zur Attacke befohlen zu werden. Uniformierte Proletarier
warteten, den Sturmriemen unterm Kinn, auf proletarische Zivilisten. Wer
trieb sie gegeneinander? Die Arbeiter waren nahe, ihre Lieder wurden immer
lauter, da ging die Polizei schrittweise vor, ein Meter Abstand von Mann zu
Mann. Der Gesang wurde von wütendem Gebrüll abgelöst. Man spürte, ohne die
Vorgänge sehen zu können, am Lärm, und wie er wuchs, daß die Arbeiter
und die Polizei dort vorn gleich aufeinanderstoßen würden.
Eine Minute später bestätigten Aufschreie die Vermu-tung. Man war
zusammengetroffen, die Polizei schlug zu. Jetzt setzten sich die Pferde
schaukelnd in Bewegung und trabten in das Vakuum hinein, die Hufe klapperten
übers Pflaster. Von vorn ertönte ein Schuß. Scheiben zerspran-gen. Die
Pferde galoppierten. Die Menschen auf dem Weddingplatz wollten nachdrängen.
Eine zweite Polizei-kette sperrte den Zugang zur Reinickendorfer
Straße, rückte langsam vor und säuberte den Platz. Steine flogen.
Ein Wachtmeister erhielt einen Messerstich. Die Polizei hob die
Gummiknüppel und ging zum Laufschritt über. Auf drei Lastautos kam
Verstärkung, die Mannschaften sprangen von den langsamfahrenden Wagen
herunter. Die Arbeiter ergriffen die Flucht, an den äußersten Rändern
des Platzes und in den Zugangsstraßen machten sie wieder halt. Fabian
drängte sich durch die lebendige Mauer und ging seiner Wege. Der Lärm
entfernte sich. Drei Straßen weiter schien es schon, als herrsche
überall Ruhe und Ordnung. Ein paar Frauen standen in einem Haustor. "He,
Sie!" sagte die eine. "Stimmt das, am Wedding gibt's Keile?"
"Sie nehmen einander Maß", antwortete er und ging vorbei.
"Ich lasse mich fressen, Franz ist wieder mittendrin", rief die Frau.
"Na, komm du nur nach Hause!" Mitten in der Straßenfront, unvermutet
zwischen alten, soliden Mietskasernen, lag ein Rummelplatz, der Onkel Pelles
Nordpark hieß. Leierkastenmusik überspülte die Gespräche der Mädchen,
die, Arm in Arm, in langer Kette vor dem Eingang bummelten. Verwegen tuende
Burschen mit schiefgezogenen Mützen strichen entlang und riefen Frechheiten.
Die Mädchen kicherten geschmeichelt und gaben unmißverständlich
Antwort.
Fabian trat durch das Tor. Das Gelände glich einem Trockenplatz.
Azetylenflammen zuckten und ließen die Wege und Buden halb finster.
Der Boden war klebrig und von Grasstoppeln bewachsen. Das Karussell war,
wegen mangelnder Nachfrage, mit Zeltbahnen verhangen. Män-ner in derben
Joppen, alte Frauen mit Kopftüchern, Kinder, die längst hätten im Bett
liegen müssen, trotteten den Budenweg entlang.
Ein Glücksrad rasselte. Die Menschen standen dicht zusammengedrängt,
die Augen hingen an der rotierenden Scheibe. Sie lief langsamer, überwand
noch ein paar Nummern, hielt still. "Fünfundzwanzig!" schrie der Aus-rufer.
"Hier, hier!" Eine alte Frau, mit der Brille auf der Nase, hob ihr Los.
Man reichte ihr den Gewinn. Was hatte sie gewonnen? Ein Pfund Würfelzucker.
Wieder schnurrte das Rad. "Siebzehn!"
"Hallo, das bin ich!" Ein junger Mann schwenkte sein Los. Er bekam ein
Viertelpfund Bohnenkaffee. "Was für Muttern", sagte er zufrieden und zog ab.
"Und jetzt folgt die große Prämie! Der Gewinner darf sich was
aussuchen!" Das Rad schwankte, tickte, stand still, nein, es rückte noch
eine Nummer weiter.
"Neun!"
"Mensch, hier!" Ein Fabrikmädchen klatschte in die Hände. Sie las die
Lotteriebestimmungen. "Der Hauptge-winn besteht aus fünf Pfund prima
Weizenmehl oder einem Pfund Butter oder dreiviertel Pfund Bohnenkaffee oder
eindreiviertel Pfund magerem Speck." Sie verlangte ein Pfund Butter.
"Allerhand für einen Groschen", rief sie. "Das kann man mitnehmen."
"Es folgt die nächste Ziehung!" brüllte der Ausrufer. "Wer hat noch
nicht, wer will noch mal? Sie da, Großmut-ter! Hier ist das Monte
Carlo der armen Luder! Keine Mark, keine halbe Mark, sondern einen
Groschen!" Ge-genüber war ein ähnliches Unternehmen. Aber die Tom-bola
bestand aus Fleisch und Wurst, und das Los kostete doppelt soviel.
"Der Hauptgewinn, meine Herrschaften, der Hauptgewinn besteht diesmal
aus einer halben Hamburger Gans!" kreischte eine Schlächtersgattin. "Zwanzig
Pfennige, nur Mut, mein Volk!" Ihr Gehilfe schnitt mit einem Riesen-messer
dünne Scheiben von einer Schlackwurst und ver-teilte an die Loskäufer
Kostproben. Den anderen lief das Wasser im Munde zusammen. Sie gruben zwei
Groschen aus dem Portemonnaie und griffen zu.
"Wie denkst du über Gänsebraten?" fragte einer ohne Schlips und Kragen
eine Frau.
"Schade ums Geld", sagte sie. "Wir haben kein Glück, Willem."
"Laß man", meinte er, "es ist manchmal komisch." Er nahm ein Los,
steckte der Frau die Scheibe Wurst, die er zugekriegt hatte, in den Mund und
blickte erwartungsvoll auf das Rad.
"Die Ziehung nimmt hiermit ihren Anfang", kreischte die
Schlächtersgattin. Das Glücksrad surrte. Fabian ging wei-ter. "Hippodrom und
Tanz" stand über einem großen Zelt. 20 Pfennig Entree. Er ging hinein.
Das Lokal bestand aus zwei Kreisen. Der eine war überhöht, wie ein Pfahlbau
stand er im Zelt, dort oben wurde getanzt. In der Mitte saß eine
Blechkapelle und spielte, als hätten die Musiker miteinander Streit gehabt.
Die Mädchen lehnten am Geländer. Die jungen Männer griffen zu. Man machte
keine Umstände. Der andere Kreis war eine Sandmanege, in der, zu den Klängen
der Kapelle, drei ausrangierte Gäule vor sich hintrabten. Sie wurden von
einem zylin-dergeschmückten Stallmeister, der die Peitsche schwang und
wiederholt "Terrab!" schrie, vom Einschlafen abge-halten. Auf einem kleinen
einäugigen Schimmel saß eine Frau im Herrensitz. Der Rock war hoch
über die Knie gerutscht. Sie trabte deutsch und lachte, sooft sie auf den
Sattel fiel.
Fabian setzte sich neben die Manege und trank ein Bier. Die Reiterin
zog jedesmal, wenn sie an ihm vorbeikam, den Rock herunter. Die
Beschäftigung war sinnlos. Der Rock rutschte immer wieder hoch. Als sie zum
vierten Male Fabians Tisch passierte, lächelte sie ein bißchen und
ließ den Rock oben. In der fünften Runde blieb der Schimmel vor dem
Tisch stehen und glotzte mit dem blinden Auge ins Bierglas. "Da gibt's
keinen Zucker", sagte die Frau und sah Fabian ins Gesicht. Der Stallmei-ster
knallte mit der Peitsche, und der kleine Schimmel schob weiter. Kaum war die
Frau vom Pferd gestiegen, setzte sie sich betont unabsichtlich an den
Nebentisch, schräg vor Fabian, so daß er ihre körperlichen Vorzüge
nicht übersehen konnte. Sein Blick blieb auf der Figur haften, und da
erwachte sein Schmerz aus der Narkose. Wo war Cornelia? War ihr die
Umarmung, in der sie jetzt lag, zuwider? Empfand sie, während er hier
saß, in einem fremden Bett Vergnügen? Er sprang auf. Der Stuhl fiel
um. Die Frau am Nebentisch blickte ihm wieder ins Gesicht, ihre Augen wurden
groß, der Mund krümmte und öffnete sich leicht, die Zungenspitze fuhr
feucht an der Oberlippe entlang.
"Kommen Sie mit?" fragte er unwillig. Sie kam mit, und sie gingen, ohne
viel zu reden, ins "Theater". Das war eine elende Bretterbaracke. "Auftreten
der renommierten Rheingoldsänger. Rauchen erlaubt. Zu den
Abendvor-stellungen haben Kinder keinen Anspruch auf Sitzplätze." Die Bude
war halbvoll. Die Zuschauer hatten die Hüte auf, rauchten Zigaretten und
ließen sich im Dunkel von der unüberbietbar albernen und verlogenen
Romantik, die ihnen für dreißig Pfennige vorgesetzt wurde, bis zu
Tränen rühren. Sie hatten mehr Mitleid mit dem ver-kitschten Kulissenzauber
als mit ihrer eigenen Not.
Fabian legte den Arm um die fremde Frau. Sie schmiegte sich dicht an
ihn und atmete schwer, damit er es höre. Das Stück war tieftraurig. Ein
flotter Student - Direktor Blasemann, grauhaarig und über fünfzig Jahre alt,
spielte die Rolle persönlich - kam jeden Morgen betrunken nach Hause. Das
lag an dem verdammten Sekt. Er sang Studen-tenlieder, bestellte einen sauren
Hering, wurde von der Portiersfrau abgekanzelt und schenkte einer alten
gichtkranken Hofsängerin, daß sie das Singen lasse, seinen letzten
Taler.
Doch das Schicksal schritt, so schnell es konnte. Die alte Hofsängerin
war - wer hätte sie sonst sein sollen? - niemand anders als die Mutter des
fünfzigjährigen Stu-denten! Zwölf Jahre hatte er sie nicht gesehen, erhielt
allmonatlich Geld von ihr und glaubte, sie sei noch immer, wie einst,
Hofopernsängerin. Natürlich erkann-te er sie nicht. Aber Mutteraugen sehen
schärfer, sie wußte sofort: der oder keiner. Jedoch, die Zuspitzung
des Dramas verzögerte sich. Eine Liebesaffäre brach herein. Der Student
liebte und wurde geliebt, letzteres geschah durch Fräulein Martin, jene
bildhübsche Nähe-rin, die gegenüber wohnte, die Nähmaschine trat und wie
eine Lerche sang. Ellen Martin, die singende Ler-che, wog gut zwei Zentner.
Sie hüpfte, daß sich die Bühne bog, aus der Kulisse und sang mit
Direktor Bla-semann, dem Studenten, Couplets. Der Anfang des
er-folgreichsten Duetts lautete:
"Schatzi du, ach Schatzi mein,
sollst mein ein und alles sein!"
Das junge Paar, das zusammen an die hundert Lenze zählen mochte, schob
sich wuchtig auf dem Hof, den die Szene darstellen sollte, hin und her; dann
versprach er ihr die Ehe, sie aber wurde traurig, weil er alte Sängerinnen
vom Hofe zu treiben pflege. Dann sangen sie das nächste Couplet.
Die Leute klatschten Beifall. Die Frau, um die Fabian seine Hand liegen
hatte, machte eine leichte Drehung, sie gab ihm die Brust. "Ach, ist das
schön", sagte sie. Vermutlich meinte sie das Stück.
Im Zuschauerraum herrschte wieder feierliche Stille. Die alte,
gebeugte, gichtkranke Hofsängerin, die den Sohn Medizin studieren und einem
feudalen Korps angehören ließ, wackelte aus der Kulisse, erreichte den
Hof mit Müh und Not, hob den Zeigefinger, der Pianist ge-horchte, und ein
rührseliges Mutterlied war im Entste-hen begriffen.
"Gehen wir", sagte Fabian und ließ den Büstenhalter der fremden
Frau los.
"Schon?" fragte sie erstaunt, aber sie folgte ihm.
"Hier wohne ich", erklärte sie vor einem großen Haus in der
Müllerstraße. Sie schloß auf. Er sagte: "Ich komme mit hinauf."
Sie sträubte sich, es klang nicht überzeugend. Er drückte sie in den
Hausflur. "Was werden bloß meine Wirtsleute sagen? Nein, sind Sie
stürmisch. Aber recht leise, ja?"
An der Tür stand: Hetzer.
"Wieso sind zwei Betten in deinem Zimmer?" fragte er.
"Pst, man kann uns hören", flüsterte sie. "Die Wirtsleute haben keinen
Platz zum Abstellen."
Er zog sich aus. "Mach nicht so viel Umstände", sagte er. Sie schien
Koketterie für unerläßlich zu halten und zierte sich wie eine späte
Jungfrau. Schließlich lagen sie neben-einander. Sie löschte das Licht,
und erst jetzt entkleidete sie sich völlig. "Einen Moment", flüsterte sie,
"nicht böse sein." Sie knipste eine Taschenlampe an, breitete ein Tuch über
sein Gesicht und untersuchte ihn im Schein der Taschenlampe wie ein alter
Kassenarzt. "Entschuldigen Sie, man kann heutzutage nicht vorsichtig genug
sein", erklärte sie anschließend. Und nun stand nichts mehr im Wege.
"Ich bin Verkäuferin in einem Handschuhgeschäft", be-richtete sie etwas
später. "Willst du bis morgen früh bleiben?" fragte sie nach einer weiteren
halben Stunde. Er nickte. Sie verschwand in der Küche, er hörte, wie sie
spülte. Sie brachte warmes Seifenwasser, wusch ihn sorg-fältig, mit
hausfraulichem Eifer, und stieg wieder ins Bett. "Stört es deine Wirtsleute
nicht, wenn du in der Küche Wasser wärmst?" fragte er. "Laß das Licht
brennen!"
Sie erzählte belanglose Dinge, fragte, wo er wohne, und nannte ihn
"Schatz". Er musterte die Zimmereinrichtung. Außer den Betten war noch
ein leidenschaftlich ge-schwungenes Plüschsofa anwesend, ferner ein
Waschtisch mit Marmorplatte, ein scheußlicher Farbendruck, wo-selbst
eine junge mollige Frau, im Nachthemd auf einem Eisbärenfell hockend, mit
einem rosigen Baby spielte, und ein Schrank mit einem Türspiegel, der
schlecht funktio-nierte. "Wo ist Cornelia?" dachte er und fiel wieder über
die nackte, erschrockene Verkäuferin her.
"Man sollte Angst vor dir haben", flüsterte sie danach. "Willst du mich
umbringen? Aber es ist wunderbar." Sie kniete sich neben ihn, betrachtete
aus geweiteten Augen sein gleichgültiges Gesicht und küßte ihn.
Als sie todmüde eingeschlafen war, lag er noch immer wach, allein in
einem fremden Zimmer, blickte ange-spannt ins Dunkel und dachte: "Cornelia,
was haben wir getan?"
SIEBZEHNTES KAPITEL
Kalbsleber, aber ohne Flechsen
Er sagt ihr die Meinung
Ein Reisender verliert die Geduld
"Ich habe gelogen", sagte die Frau am anderen Morgen. "Ich gehe gar
nicht ins Geschäft. Und die Wohnung gehört mir. Und wir sind ganz allein.
Komm in die Küche."
Sie goß Kaffee ein, strich Brötchen, klopfte ihm zärtlich auf die
Wange, band die Schürze ab und setzte sich zu ihm an den Küchentisch.
"Schmeckt's?" fragte sie munter, obwohl er nicht aß. "Blaß
siehst du aus, Schatz. Es ist aber auch kein Wunder. Greif tüchtig zu, damit
du wieder groß und stark wirst." Sie legte ihren Kopf an seine
Schulter und spitzte wie ein Backfisch die Lippen.
"Du hattest Angst, ich könnte dir das Sofa stehlen oder dir den Bauch
aufschlitzen?" fragte Fabian. "Und wie kom-men die zwei Betten in dein
Schlafzimmer?"
"Ich bin verheiratet", sagte sie. "Mein Mann reist für eine
Trikotagenfirma. Augenblicklich ist er im Rheinland. Dann fährt er nach
Württemberg. Er ist mindestens noch zehn Tage unterwegs. Willst du so lange
bleiben?"
Er trank Kaffee und gab keine Antwort. "Ich brauche wen", erklärte sie
heftig, als hätte ihr jemand widersprochen.
"Nie ist er da, und wenn er da ist, lohnt sich's auch nicht. Bleib die
zehn Tage bei mir. Mach dir's bequem. Ich koche gut. Geld habe ich auch. Was
willst du heute mittag essen?" Sie begann zu wirtschaften und blickte
ängstlich zu ihm hin. "Ißt du gern Kalbsleber mit Bratkartoffeln?
Warum antwortest du denn gar nicht?"
"Habt ihr Telefon?" fragte er.
"Nein", sagte sie. "Willst du fort? Bleib doch. Es war so schön. Es war
so schön wie noch nie." Sie trocknete sich die Hände und fuhr streichelnd
über sein Haar.
"Ich bleibe ja", meinte er. "Aber ich muß telefonieren." Sie
sagte, telefonieren könne man beim Fleischer Rarisch, und ob er ein halbes
Pfund frische Kalbsleber mitbringen wolle, ohne Flechsen. Dann gab sie ihm
Geld, öffnete vorsichtig die Vorsaaltür, und weil die Treppe leer war,
durfte er aus der Wohnung.
"Ein halbes Pfund frische Kalbsleber, aber ohne Flech-sen", sagte er im
Fleischerladen. Dann rief er, während man ihn bediente, Zacharias an. Das
Telefon war fettig. "Nein", erklärte Zacharias, "mir ist nichts eingefallen.
Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, das wäre doch gelacht, mein Lieber.
Wissen Sie was, kommen Sie mor-gen wieder mal vorbei. Es geht manchmal
schnell. Schlimmstenfalls plaudern wir ein bißchen. Ist es Ihnen
recht? Wiedersehen."
Fabian nahm die Kalbsleber in Empfang. Das Papier blutete. Er zahlte
und trug das Fleischpaket vorsichtig ins Haus. Weil die Nachbarin die
Türklinke putzte, stieg er bis zur vierten Etage hinauf. Nach einigen
Minuten kam er wieder herunter. Die Frau, mit der er die Nacht
zusam-mengewesen war, öffnete, ohne daß er zu klingeln brauchte, und
zog ihn in die Wohnung.
"Gott sei Dank", flüsterte sie. "Ich dachte schon, die Klatschtante
würde uns erwischen. Setz dich ins Wohn-zimmer, Schatz. Willst du Zeitung
lesen? Ich räume inzwischen auf."
Er legte das Geld, das er zurückbekommen hatte, auf den Tisch, setzte
sich ins Wohnzimmer und las die Zeitung. Er hörte die Frau singen. Nach
einer Weile brachte sie ihm Zigaretten und Kirschwasser und blickte ihm über
die Schulter. "Um eins wird gegessen", sagte sie. "Hoffentlich fühlst du
dich recht behaglich."
Dann verschwand sie wieder und sang draußen weiter. Er
las den Polizeibericht über den Krawall in der Reinickendorfer
Straße. Der Wachtmeister, der den Messerstich erhalten hatte, war im
Krankenhaus gestorben. Von den Demonstranten waren drei schwer verletzt
worden. Eini-ge andere hatte man verhaftet. Die Redaktion schrieb von
unverantwortlichen Elementen, welche die Arbeitslosen immer wieder
aufzuwiegeln versuchten, und von der bedeutenden Aufgabe, die der Polizei
zufalle. Es gehe nicht an, obwohl es von gewissen Kreisen ununterbro-chen
versucht werde, den Etat für die Schutzpolizei zu senken. Vorkommnisse wie
das gestrige führten, hieß es, so recht vor Augen, wie notwendig es
sei, prophylaktisch zu denken und zu handeln.
Fabian sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die Möbel waren, wo sich dazu
die Gelegenheit bot, verschnörkelt. Auf dem Vertiko standen drei
Leitzordner. Auf dem Tisch prangte ein bunter Glasteller, der schlug Wellen
und enthielt Ansichtskarten. Fabian nahm die oberste Karte. Sie zeigte den
Kölner Dom, und er dachte an das Zigaret-tenplakat. "Liebe Mucki", las er,
"geht's dir gut, und reicht das Geld? Ich habe ganz hübsche Aufträge
gemacht, morgen geht's nach Düsseldorf. Gruß und Kuß, Kurt." Er
legte die Karte auf den Teller zurück und trank ein Glas Kirschwasser.
Mittags aß er, um Mucki nicht zu verstimmen, den Teller leer. Sie
war froh darüber, als habe ein Hund den Napf saubergefressen. Hinterher gab
es Kaffee.
"Willst du mir gar nichts von dir erzählen, Schatz?" fragte sie.
"Nein", sagte er und ging ins Wohnzimmer. Sie lief hinter ihm her. Er
stand am Fenster.
"Komm aufs Sofa", bat sie. "Man könnte dich sehen. Und sei nicht böse."
Er setzte sich aufs Sofa. Sie brachte den Kaffee herein, nahm neben
Fabian Platz und knöpfte die Bluse auf.
"Jetzt kommt der Nachtisch", sagte sie. "Aber nicht wieder
beißen."
Gegen drei Uhr ging er.
"Wirst du auch bestimmt wiederkommen?" Sie stand vor ihm, brachte ihren
Rock und die Strümpfe in Ordnung und sah ihn bittend an. "Schwöre, daß
du wieder-kommst."
"Wahrscheinlich komme ich", sagte er. "Versprechen kann ich es nicht."
"Ich warte mit dem Abendbrot", erklärte sie, dann öffnete sie die Tür.
"Rasch!" flüsterte sie. "Die Luft ist rein."
Er sprang die Treppe hinunter. "Die Luft ist rein", dachte er und
empfand Abscheu vor dem Haus, das er verließ. Er fuhr zum Großen
Stern, durchquerte den Tiergarten bis zum Brandenburger Tor, verlor sich
wieder in den Anlagen, die Rhododendren blühten. Er geriet in die
Siegesallee. Die Dynastie der Hohenzollern und der Bildhauer Begas schienen
unverwüstlich.
Vor dem Café Schottenhaml machte Fabian kehrt. Was ließ sich hier
noch besprechen ? Es war zu spät zum Reden. Er ging weiter, kam auf die
Potsdamer Straße, stand unentschlossen auf dem Potsdamer Platz, lief
die Bellevuestraße hinauf und befand sich wieder vor dem Café. Und
jetzt trat er ein.
Cornelia saß da, als warte sie seit Jahren, und winkte ein wenig.
Er setzte sich. Sie nahm seine Hand. "Ich glaubte nicht, daß du
kämst", sagte sie schüchtern. Er schwieg und sah an ihr vorbei. "Es war
nicht recht von mir, nicht wahr?" flüsterte sie und senkte den Kopf. Tränen
fielen in ihren Kaffee. Sie schob die Tasse beiseite und trocknete sich die
Augen.
Er blickte vom Tisch fort. Die Wände zwischen den zwei Treppen, die,
barock gedrechselt, in das Obergeschoß führten, waren mit vielen
bunten Papageien und Kolibris bevölkert. Die Vögel waren aus Glas. Sie
hockten auf gläsernen Lianen und Zweigen und warteten auf den Abend und
seine Lampen, damit der zerbrechliche Ur-wald zu leuchten beginne.
Cornelia flüsterte: "Warum siehst du mich nicht an?" Dann preßte
sie das Taschentuch vor den Mund. Und ihr Weinen klang, als wimmere weit
entfernt ein verzweifeltes Kind. Das Lokal war leer. Die Gäste saßen
draußen vor dem Haus, unter großen roten Schirmen. Nur ein
Kellner stand in der Nähe, Fabian blickte ihr ins Gesicht. Ihre Augen
zitterten vor Aufregung. "Sprich endlich ein Wort", sagte sie mit rauher
Stimme. Sein Mund war ausgetrocknet. Die Kehle war zusammengepreßt. Er
schluckte mühsam.
"Sprich ein Wort", wiederholte sie ganz leise und faltete auf dem
Tischtuch, zwischen dem Nickelgeschirr, die Hände.
Er aß und schwieg.
"Was soll bloß aus mir werden?" flüsterte sie, als spreche sie zu
sich selber und er sei gar nicht mehr da. "Was soll bloß aus mir
werden?"
"Eine unglückliche Frau, der es gutgeht", sagte er viel zu laut.
"Überrascht dich das? Kamst du nicht deswegen nach Berlin? Hier wird
getauscht. Wer haben will, muß hingeben, was er hat."
Er wartete eine Weile, doch sie schwieg. Sie nahm die Puderdose aus der
Tasche, ließ sie dann aber ungeöffnet liegen. Er hatte sich wieder in
der Gewalt. Sein leicht ermüdbares Gefühl gab Ruhe und wich dem Drang,
Ordnung zu schaffen. Er blickte auf das, was geschehen war, wie auf ein
verwüstetes Zimmer, und begann, kalt und kleinlich, aufzuräumen. "Du kamst
mit Absichten hierher, die sich rascher erfüllt haben, als zu hoffen stand.
Du hast einen einflußreichen Menschen gefunden, der dich finanziert.
Er finanziert dich nicht nur, er gibt dir eine berufliche Chance. Ich
bezweifle nicht, daß du Erfolg haben wirst. Dadurch verdient er das
Geld zurück, das er gewissermaßen in dich hineingesteckt hat; dadurch
wirst du auch selber Geld verdienen und eines Tages sagen können: Mein Herr,
wir sind quitt." Fabian wunderte sich. Er erschrak vor sich selber und
dachte: Es fehlt nur, daß ich die Interpunktion mitspreche. Cornelia
betrachtete ihn, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Dann klappte sie die
Puderdose auf, musterte sich in dem kleinen runden Spiegel und fuhr mit der
weißen stäubenden Quaste über ihr verweintes, kindlich erstauntes
Ge-sicht. Sie nickte, er möge fortfahren.
"Was dann werden wird", sagte er, "was dann werden wird, wenn du Makart
nicht mehr brauchst, läßt sich nicht vorher sagen, es steht auch nicht
zur Debatte. Du wirst arbeiten, und dann bleibt von einer Frau nicht viel
übrig. Der Erfolg wird sich steigern, der Ehrgeiz wird wachsen, die
Absturzgefahr nimmt zu, je höher man steigt. Wahr-scheinlich wird er nicht
der einzige bleiben, dem du dich ausliefern wirst. Es findet sich immer
wieder ein Mann, der einer Frau den Weg versperrt und mit dem sie sich
langlegen muß, wenn sie über ihn hinweg will. Du wirst dich daran
gewöhnen, den Präzedenzfall hast du ja seit gestern hinter dir."
"Ich weine schon, und er schlägt mich noch", dachte sie verwundert.
"Aber die Zukunft ist nicht mein Thema", sagte er und machte eine
abschließende Handbewegung, als erdroßle er den Gedanken. "Zu
besprechen bleibt die Vergangen-heit. Du fragtest gestern nicht, als du
gingst. Warum interessiert dich nun meine Antwort? Du wußtest,
daß ich dich los sein wollte. Du wußtest, daß ich darauf
brannte, eine Geliebte zu haben, die in anderen Betten das Geld verdient,
das ich nicht besitze. Wenn du recht hattest, war ich ein Halunke. Wenn ich
kein Halunke war, war alles, was du tatest, falsch."
"Es war alles falsch", sagte sie und stand auf. "Leb wohl, Fabian."
Er folgte ihr und war mit sich sehr zufrieden. Er kränk-te sie, weil er
ein Recht dazu hatte, aber war das ein Grund? Auf der Tierga