eder. Doch nachdem wir uns wieder in
das Bild vertieft haben, erklure ich mich bereit. Ich gehe sogar noch
weiter. "Kunnten auch mal sehen, ob wir nicht ein reines Hemd zu fassen
kriegen -"
Albert meint aus irgendeinem Grunde: "Fußlappen wuren noch
besser."
"Vielleicht auch Fußlappen. Wir wollen mal ein bißchen
spekulieren gehen."
Doch da schlendern Leer und Tjaden heran; sie sehen das Plakat, und im
Handumdrehen wird die Unterhaltung ziemlich schweinisch. Leer war in unserer
Klasse der erste, der ein Verhultnis hatte und davon aufregende Einzelheiten
erzuhlte. Er begeistert sich in seiner Weise an dem Bilde, und Tjaden stimmt
muchtig ein.
Es ekelt uns nicht gerade an. Wer nicht schweinigelt, ist kein Soldat;
nur liegt es uns im Moment nicht ganz, deshalb schlagen wir uns seitwurts
und marschieren der Entlausungsanstalt zu mit einem Gefuhl, als sei sie ein
feines Herrenmodengeschuft.
Die Huuser, in denen wir Quartier haben, liegen nahe am Kanal. Jenseits
des Kanals sind Teiche, die von Pappelwuldern umstanden sind; - jenseits des
Kanals sind auch Frauen.
Die Huuser auf unserer Seite sind geruumt worden. Auf der andern jedoch
sieht man ab und zu noch Bewohner.
Abends schwimmen wir. Da kommen drei Frauen am Ufer entlang. Sie gehen
langsam und sehen nicht weg, obschon wir keine Badehosen tragen.
Leer ruft zu ihnen hinuber. Sie lachen und bleiben stehen, um uns
zuzuschauen. Wir werfen ihnen in gebrochenem Franzusisch Sutze zu, die uns
gerade einfallen, alles durcheinander, eilig, damit sie nicht fortgehen. Es
sind nicht gerade feine Sachen, aber wo sollen wir die auch herhaben. Eine
Schmale, Dunkle ist dabei. Man sieht ihre Zuhne schimmern, wenn sie lacht.
Sie hat rasche Bewegungen, der Rock schlugt locker um ihre Beine. Obschon
das Wasser kalt ist, sind wir muchtig aufgeruumt und bestrebt, sie zu
interessieren, damit sie bleiben. Wir versuchen Witze, und sie antworten,
ohne daß wir sie verstehen; wir lachen und winken. Tjaden ist
vernunftiger. Er luuft ins Haus, holt ein Kommißbrot und hult es hoch.
Das erzielt großen Erfolg. Sie nicken und winken, daß wir
hinuberkommen sollen. Aber das durfen wir nicht. Es ist verboten, das
jenseitige Ufer zu betreten. uberall stehen Posten an den Brucken. Ohne
Ausweis ist nichts zu machen. Wir dolmetschen deshalb, sie muchten zu uns
kommen; aber sie schutteln die Kupfe und zeigen auf die Brucken. Man
lußt auch sie nicht durch.
Sie kehren um, langsam gehen sie den Kanal aufwurts, immer am Ufer
entlang. Wir begleiten sie schwimmend. Nach einigen hundert Metern biegen
sie ab und zeigen auf ein Haus, das abseits aus Buumen und Gebusch
herauslugt. Leer fragt, ob sie dort wohnen.
Sie lachen - ja, dort sei ihr Haus.
Wir rufen ihnen zu, daß wir kommen wollen, wenn uns die Posten
nicht sehen kunnen. Nachts. Diese Nacht.
Sie heben die Hunde, legen sie flach zusammen, die Gesichter darauf,
und schließen die Augen. Sie haben verstanden. Die Schmale, Dunkle
macht Tanzschritte. Eine Blonde zwitschert: "Brot - gut -"
Wir bestutigen eifrig, daß wir es mitbringen werden. Auch noch
andere schune Sachen, wir rollen die Augen und zeigen sie mit den Hunden.
Leer ersuuft fast, als er "ein Stuck Wurst" klarmachen will. Wenn es
notwendig wure, wurden wir ihnen ein ganzes Proviantdepot versprechen. Sie
gehen und wenden sich noch oft um. Wir klettern an das Ufer auf unserer
Seite und achten darauf, ob sie auch in das Haus gehen, denn es kann ja
sein, daß sie schwindeln. Dann schwimmen wir zuruck.
Ohne Ausweis darf niemand uber die Brucke, deshalb werden wir einfach
nachts hinuberschwimmen. Die Erregung packt uns und lußt uns nicht
los. Wir kunnen es nicht an einem Fleck aushalten und gehen zur Kantine.
Dort gibt es gerade Bier und eine Art Punsch.
Wir trinken Punsch und lugen uns phantastische Erlebnisse vor. Jeder
glaubt dem andern gern und wartet ungeduldig, um noch dicker aufzutrumpfen.
Unsere Hunde sind unruhig, wir paffen ungezuhlte Zigaretten, bis Kropp sagt:
"Eigentlich kunnten wir ihnen auch ein paar Zigaretten mitbringen." Da legen
wir sie in unsere Mutzen und bewahren sie auf.
Der Himmel wird grun wie ein unreifer Apfel. Wir sind zu viert, aber
drei kunnen nur mit; deshalb mussen wir Tjaden loswerden und geben Rum und
Punsch fur ihn aus, bis er torkelt. Als es dunkel wird, gehen wirunsern
Huusern zu. Tjaden in der Mitte. Wir gluhen und sind von Abenteuerlust
erfullt. Fur mich ist die Schmale, Dunkle, das haben wir verteilt und
ausgemacht.
Tjaden fullt auf seinen Strohsack und schnarcht. Einmal wacht er auf
und grinst uns so listig an, daß wir schon erschrecken und glauben, er
habe gemogelt, und der ausgegebene Punsch sei umsonst gewesen. Dann fullt er
zuruck und schluft weiter.
Jeder von uns dreien legt ein ganzes Kommißbrot bereit und
wickelt es in Zeitungspapier. Die Zigaretten packen wir dazu, außerdem
noch drei gute Portionen Leberwurst, die wir heute abend empfangen haben.
Das ist ein anstundiges Geschenk.
Vorluufig stecken wir die Sachen in unsere Stiefel; denn Stiefel mussen
wir mitnehmen, damit wir druben auf dem andern Ufer nicht in Draht und
Scherben treten. Da wir vorher schwimmen mussen, kunnen wir weiter keine
Kleider brauchen. Es ist ja auch dunkel und nicht weit.
Wir brechen auf, die Stiefel in den Hunden. Rasch gleiten wir ins
Wasser, legen uns auf den Rucken, schwimmen und halten die Stiefel mit dem
Inhalt uber unsere Kupfe.
Am andern Ufer klettern wir vorsichtig hinauf, nehmen die Pakete heraus
und ziehen die Stiefel an. Die Sachen klemmen wir unter die Arme. So setzen
wir uns, naß, nackt, nur mit Stiefeln bekleidet, in Trab. Wir finden
das Haus sofort. Es liegt dunkel in den Buschen. Leer fullt uber eine Wurzel
und schrammt sich die Ellbogen. "Macht nichts", sagt er fruhlich.
Vor den Fenstern sind Luden. Wir umschleichen das Haus und versuchen,
durch die Ritzen zu spuhen. Dann werden wir ungeduldig. Kropp zugert
plutzlich. "Wenn nun ein Major drinnen bei ihnen ist?"
"Dann kneifen wir eben aus", grinst Leer, "er kann unsere
Regimentsnummer ja hier lesen", und klatscht sich auf den Hintern.
Die Haustur ist offen. Unsere Stiefel machen ziemlichen Lurm. Eine Tur
uffnet sich, Licht fullt hindurch, eine Frau stußt erschreckt einen
Schrei aus. Wir machen "Pst, pst - camerade - bon ami -" und heben
beschwurend unsere Pakete hoch.
Die andern beiden sind jetzt auch sichtbar, die Tur uffnet sich ganz,
und das Licht bestrahlt uns. Wir werden erkannt, und alle drei lachen
unbundig uber unsern Aufzug. Sie biegen und beugen sich im Turrahmen, so
mussen sie lachen. Wie geschmeidig sie sich bewegen!
"Un moment -." Sie verschwinden und werfen uns Zeugstucke zu, die wir
uns notdurftig umwickeln. Dann durfen wir eintreten. Eine kleine Lampe
brennt im Zimmer, es ist warm und riecht etwas nach Parfum. Wir packen
unsere Pakete aus und ubergeben sie ihnen. Ihre Augen glunzen, man sieht,
daß sie Hunger haben.
Dann werden wir alle etwas verlegen. Leer macht die Geburde des Essens.
Da kommt wieder Leben hinein, sie holen Teller und Messer und fallen uber
die Sachen her. Bei jedem Scheibchen Leberwurst heben sie, ehe sie es essen,
das Stuck zuerst bewundernd in die Huhe, und wir sitzen stolz dabei.
Sie ubersprudeln uns mit ihrer Sprache - wir verstehen nicht viel, aber
wir huren, daß es freundliche Worte sind. Vielleicht sehen wir auch
sehr jung aus. Die Schmale, Dunkle, streicht mir uber das Haar und sagt, was
alle franzusischen Frauen immer sagen: "La guerre - grand malheur - pauvres
garuons -"
Ich halte ihren Arm fest und lege meinen Mund in ihre Handfluche. Die
Finger umschließen mein Gesicht. Dicht uber mir sind ihre erregenden
Augen, das sanfte Braun der Haut und die roten Lippen. Der Mund spricht
Worte, die ich nicht verstehe. Ich verstehe auch die Augen nicht ganz, sie
sagen mehr, als wir erwarteten, da wir hierher kamen.
Es sind Zimmer nebenan. Im Gehen sehe ich Leer, er ist mit der Blonden
handfest und laut. Er kennt das ja auch. Aber ich - ich bin verloren an ein
Fernes, Leises und Ungestumes und vertraue mich ihm an. Meine Wunsche sind
sonderbar gemischt aus Verlangen und Versinken. Mir wird schwindelig, es ist
nichts hier, woran man sich noch halten kunnte. Unsere Stiefel haben wir vor
der Tur gelassen, man hat uns Pantoffeln dafur gegeben, und nun ist nichts
mehr da, was mir die Sicherheit und Frechheit des Soldaten zuruckruft: kein
Gewehr, kein Koppel, kein Waffenrock, keine Mutze. Ich lasse mich fallen ins
Ungewisse, mag geschehen, was will - denn ich habe etwas Angst, trotz allem.
Die Schmale, Dunkle bewegt die Brauen, wenn sie nachdenkt; aber sie
sind still, wenn sie spricht. Manchmal auch wird der Laut nicht ganz zum
Wort und erstickt oder schwingt halbfertig uber mich weg; ein Bogen, eine
Bahn, ein Komet. Was habe ich davon gewußt - was weiß ich davon
? - Die Worte dieser fremden Sprache, von der ich kaum etwas begreife, sie
schlufern mich ein zu einer Stille, in der das Zimmer braun und halb
beglunzt verschwimmt und nur das Antlitz uber mir lebt und klar ist.
Wie vielfultig ist ein Gesicht, wenn es fremd war noch vor einer Stunde
und jetzt geneigt ist zu einer Zurtlichkeit, die nicht aus ihm kommt,
sondern aus der Nacht, der Welt und dem Blut, die in ihm zusammenzustrahlen
scheinen. Die Dinge des Raumes werden davon angeruhrt und verwandelt, sie
werden besonders, und vor meiner hellen Haut habe ich beinahe Ehrfurcht,
wenn der Schein der Lampe daraufliegt und die kuhle braune Hand
daruberstreicht.
Wie anders ist dies alles als die Dinge in den Mannschaftsbordells, zu
denen wir Erlaubnis haben und wo in langer Reihe angestanden wird. Ich
muchte nicht an sie denken; aber sie gehen mir unwillkurlich durch den Sinn,
und ich erschrecke, denn vielleicht kann man so etwas nie mehr loswerden.
Dann aber fuhle ich die Lippen der Schmalen, Dunklen, und drunge mich
ihnen entgegen, ich schließe die Augen und muchte alles damit
ausluschen, Krieg und Grauen und Gemeinheit, um jung und glucklich zu
erwachen; ich denke an das Bild des Mudchens auf dem Plakat und glaube einen
Augenblick, daß mein Leben davon abhungt, es zu gewinnen. - Und um so
tiefer presse ich mich in die Arme, die mich umfassen, vielleicht geschieht
ein Wunder.
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Irgendwie finden wir uns alle nachher wieder zusammen. Leer ist sehr
forsch. Wir verabschieden uns herzlich und schlupfen in unsere Stiefel. Die
Nachtluft kuhlt unsere heißen Kurper. Groß ragen die Pappeln in
das Dunkel und rauschen. Der Mond steht am Himmel und im Wasser des Kanals.
Wir laufen nicht, wir gehen nebeneinander mit langen Schritten.
Leer sagt: "Das war ein Kommißbrot wert!"
Ich kann mich nicht entschließen zu sprechen, ich bin gar nicht
einmal froh.
Da huren wir Schritte und ducken uns hinter einen Busch.
Die Schritte kommen nuher, dicht an uns vorbei. Wir sehen einen nackten
Soldaten, in Stiefeln, genau wie wir, er hat ein Paket unter dem Arm und
sprengt im Galopp vorwurts. Es ist Tjaden in großer Fahrt. Schon ist
er verschwunden. Wir lachen. Morgen wird er schimpfen. Unbemerkt gelangen
wir zu unseren Strohsucken.
Ich werde zur Schreibstube gerufen. Der Kompaniefuhrer gibt mir
Urlaubsschein und Fahrschein und wunscht mir gute Reise. Ich sehe nach,
wieviel Urlaub ich habe. Siebzehn Tage - vierzehn sind Urlaub, drei
Reisetage. Es ist zuwenig, und ich frage, ob ich nicht funf Reisetage haben
kann. Bertinck zeigt auf meinen Schein. Da sehe ich erst, daß ich
nicht sofort zur Front zuruckkomme. Ich habe mich nach Ablauf des Urlaubs
noch zum Kursus im Heidelager zu melden.
Die anderen beneiden mich. Kat gibt mir gute Ratschluge, wie ich
versuchen soll, Druckpunkt zu nehmen. "Wenn du gerissen bist, bleibst du da
hungen."
Es wure mir eigentlich lieber gewesen, wenn ich erst in acht Tagen
hutte fahren brauchen; denn so lange sind wir noch hier, und hier ist es ja
gut. -
Naturlich muß ich in der Kantine einen ausgeben. Wir sind alle
ein bißchen angetrunken. Ich werde trubselig; es sind sechs Wochen,
die ich fortbleiben werde, das ist naturlich ein muchtiges Gluck, aber wie
wird es sein, wenn ich zuruckkomme? Werde ich sie hier noch alle
wiedertreffen? Haie und Kemmerich sind schon nicht mehr da - wer wird der
nuchste sein ?
Wir trinken, und ich sehe einen nach dem andern an. Albert sitzt neben
mir und raucht, er ist munter, wir sind immer zusammen gewesen; - gegenuber
hockt Kat mit den abfallenden Schultern, dem breiten Daumen und der ruhigen
Stimme, Muller mit den vorstehenden Zuhnen und dem bellenden Lachen; -
Tjaden mit den Mauseaugen; - Leer, der sich einen Vollbart stehen lußt
und ausschaut wie vierzig.
uber unsern Kupfen schwebt dicker Qualm. Was wure der Soldat ohne
Tabak! Die Kantine ist eine Zuflucht, Bier ist mehr als ein Getrunk, es ist
ein Zeichen, daß man gefahrlos die Glieder dehnen und recken darf. Wir
tun es auch ordentlich, die Beine haben wir lang von uns gestreckt, und wir
spucken gemutlich in die Gegend, daß es nur so eine Art hat. Wie einem
das alles vorkommt, wenn man morgen abreist!
Nachts sind wir noch einmal jenseits des Kanals. Ich habe beinahe
Furcht, der Schmalen, Dunklen zu sagen, daß ich fortgehe und
daß, wenn ich zuruckkehre, wir sicher irgendwo weiter sind; daß
wir uns also nicht wiedersehen werden. Aber sie nickt nur und lußt
nicht allzuviel merken. Ich kann das erst gar nicht recht verstehen, dann
aber begreife ich. Leer hat schon recht: wure ich an die Front gegangen,
dann hutte es wieder geheißen: "pauvre garc.on"; aber ein Urlauber -
davon wollen sie nicht viel wissen, das ist nicht so interessant. Mag sie
zum Teufel gehen mit ihrem Gesumm und Gerede. Man glaubt an Wunder, und
nachher sind es Kommißbrote.
Am nuchsten Morgen, nachdem ich entlaust bin, marschiere ich zur
Feldbahn. Albert und Kat begleiten mich. Wir huren an der Haltestelle,
daß es wohl noch ein paar Stunden dauern wird bis zur Abfahrt. Die
beiden mussen zum Dienst zuruck. Wir nehmen Abschied.
"Mach's gut, Kat; mach's gut, Albert."
Sie gehen und winken noch ein paarmal. Ihre Gestalten werden Meiner.
Mir ist jeder Schritt, jede Bewegung an ihnen vertraut, ich wurde sie
weithin schon daran erkennen. Dann sind sie verschwunden.
Ich setze mich auf meinen Tornister und warte.
Plutzlich bin ich von rasender Ungeduld erfullt, fortzukommen.
Ich liege auf manchem Bahnhof; ich stehe vor manchem Suppenkessel; ich
hocke auf mancher Holzplanke; dann aber wird die Landschaft draußen
beklemmend, unheimlich und bekannt. An den abendlichen Fenstern gleitet sie
voruber, mit Durfern, in denen Strohducher wie Mutzen tief uber gekalkte
Fachwerkhuuser gezogen sind, mit Kornfeldern, die wie Perlmutter im schrugen
Licht schimmern, mit Obstgurten und Scheunen und alten Linden.
Die Namen der Stationen werden zu Begriffen, bei denen mein Herz
zittert. Der Zug stampft und stampft, ich stehe am Fenster und halte mich an
den Rahmenhulzern fest. Diese Namen umgrenzen meine Jugend.
Flache Wiesen, Felder, Hufe; ein Gespann zieht einsam vor dem Himmel
uber den Weg, der parallel zum Horizont luuft. Eine Schranke, vor der Bauern
warten, Mudchen, die winken, Kinder, die am Bahndamm spielen, Wege, die ins
Land fuhren, glatte Wege, ohne Artillerie.
Es ist Abend, und wenn der Zug nicht stampfte, mußte ich
schreien. Die Ebene entfaltet sich groß, in schwachem Blau beginnt in
der Ferne die Silhouette der Bergrunder aufzusteigen. Ich erkenne die
charakteristische Linie des Dolbenberges, diesen gezackten Kamm, der juh
abbricht, wo der Scheitel des Waldes aufhurt. Dahinter muß die Stadt
kommen.
Aber nun fließt das goldrote Licht verschwimmend uber die Welt,
der Zug rattert durch eine Kurve und noch eine - und unwirklich, verweht,
dunkel stehen die Pappeln darin, weit weg, hintereinander in langer Reihe,
gebildet aus Schatten, Licht und Sehnsucht.
Das Feld dreht sich mit ihnen langsam vorbei; der Zug umgeht sie, die
Zwischenruume verringern sich, sie werden ein Block, und einen Augenblick
sehe ich nur eine einzige; dann schieben sich die anderen wieder hinter der
vordersten heraus, und sie sind noch lange allein am Himmel, bis sie von den
ersten Huusern verdeckt werden.
Ein Bahnubergang. Ich stehe am Fenster, ich kann mich nicht trennen.
Die andern bereiten ihre Sachen zum Aussteigen vor. Ich spreche den Namen
der Straße, die wir uberqueren, vor mich hin, Bremer Straße -
Bremer Straße - Radfahrer, Wagen, Menschen sind da unten; es ist eine
graue Straße und eine graue Unterfuhrung; - sie ergreift mich, als
wure sie meine Mutter.
Dann hult der Zug, und der Bahnhof ist da mit Lurm, Rufen und
Schildern. Ich packe meinen Tornister auf und mache die Haken fest, ich
nehme mein Gewehr in die Hand und stolpere die Tritte hinunter.
Auf dem Perron sehe ich mich um; ich kenne niemand von den Leuten, die
da hasten. Eine Rote-Kreuz-Schwester bietet mir etwas zu trinken an. Ich
wende mich ab, sie luchelt mich zu albern an, so durchdrungen von ihrer
Wichtigkeit: Seht nur, ich gebe einem Soldaten Kaffee. - Sie sagt zu mir
"Kamerad", das hat mir gerade gefehlt. Draußen vor dem Bahnhof aber
rauscht der Fluß neben der Straße, er zischt weiß aus den
Schleusen der Muhlenbrucke hervor. Der viereckige alte Wartturm steht daran,
und vor ihm die große bunte Linde, und dahinter der Abend.
Hier haben wir gesessen, oft - wie lange ist das her -; uber diese
Brucke sind wir gegangen und haben den kuhlen, fauligen Geruch des gestauten
Wassers eingeatmet; wir haben uns uber die ruhige Flut diesseits der
Schleuse gebeugt, in der grune Schlinggewuchse und Algen an den
Bruckenpfeilern hingen; - und wir haben uns jenseits der Schleuse an
heißen Tagen uber den spritzenden Schaum gefreut und von unseren
Lehrern geschwutzt.
Ich gehe uber die Brucke, ich schaue rechts und links; das Wasser ist
immer noch voll Algen, und es schießt immer noch in hellem Bogen
herab; - im Turmgebuude stehen die Plutterinnen wie damals mit bloßen
Armen vor der weißen Wusche, und die Hitze der Bugeleisen strumt aus
den offenen Fenstern. Hunde trotten durch die schmale Straße, vor den
Hausturen stehen Menschen und sehen mir nach, wie ich schmutzig und bepackt
vorubergehe.
In dieser Konditorei haben wir Eis gegessen und uns im
Zigarettenrauchen geubt. In dieser Straße, die an mir vorubergleitet,
kenne ich jedes Haus, das Kolonialwarengeschuft, die Drogerie, die Buckerei.
Und dann stehe ich vor der braunen Tur mit der abgegriffenen Klinke, und die
Hand wird mir schwer.
Ich uffne sie; die Kuhle kommt mir wunderlich entgegen, sie macht meine
Augen unsicher.
Unter meinen Stiefeln knarrt die Treppe. Oben klappt eine Tur, jemand
blickt uber das Gelunder. Es ist die Kuchentur, die geuffnet wurde, sie
backen dort gerade Kartoffelpuffer, das Haus riecht danach, heute ist ja
auch Sonnabend, und es wird meine Schwester sein, die sich herunterbeugt.
Ich schume mich einen Augenblick und senke den Kopf, dann nehme ich den Helm
ab und sehe hinauf. Ja, es ist meine ulteste Schwester.
in
"Paul!" ruft sie. "Paul -!"
Ich nicke, mein Tornister stußt gegen das Gelunder, mein Gewehr
ist so schwer.
Sie reißt eine Tur auf und ruft: "Mutter, Mutter, Paul ist da."
Ich kann nicht mehr weitergehen. Mutter, Mutter, Paul ist da.
Ich lehne mich an die Wand und umklammere meinen Helm und mein Gewehr.
Ich umklammere sie, so fest es geht, aber ich kann keinen Schritt mehr
machen, die Treppe verschwimmt vor meinen Augen, ich stoße mir den
Kolben auf die Fuße und presse zornig die Zuhne zusammen, aber ich
kann nicht gegen dieses eine Wort an, das meine Schwester gerufen hat,
nichts kann dagegen an, ich quule mich gewaltsam, zu lachen und zu sprechen,
aber ich bringe kein Wort hervor, und so stehe ich auf der Treppe,
unglucklich, hilflos, in einem furchtbaren Krampf, und will nicht, und die
Trunen laufen mir immer nur so uber das Gesicht.
Meine Schwester kommt zuruck und fragt: "Was hast du denn?"
Da raffe ich mich zusammen und stolpere zum Vorplatz hinauf. Mein
Gewehr lehne ich in eine Ecke, den Tornister stelle ich gegen die Wand, und
den Helm packe ich darauf. Auch das Koppel mit den Sachen daran muß
fort. Dann sage ich wutend: "So gib doch endlich ein Taschentuch her!"
Sie gibt mir eins aus dem Schrank, und ich wische mir das Gesicht ab.
uber mir an der Wand hungt der Glaskasten mit bunten Schmetterlingen, die
ich fruher gesammelt habe.
Nun hure ich die Stimme meiner Mutter. Sie kommt aus dem Schlafzimmer.
"Ist sie nicht auf?" frage ich meine Schwester.
"Sie ist krank -", antwortet sie.
Ich gehe hinein zu ihr, gebe ihr die Hand und sage, so ruhig ich kann:
"Da bin ich, Mutter."
Sie liegt im Halbdunkel. Dann fragt sie angstvoll, und ich fuhle, wie
ihr Blick mich abtastet: "Bist du verwundet?"
"Nein, ich habe Urlaub."
Meine Mutter ist sehr blaß. Ich scheue mich, Licht zu machen. "Da
liege ich nun und weine", sagt sie, "anstatt mich zu freuen."
"Bist du krank, Mutter?" frage ich.
"Ich werde heute etwas aufstehen", sagt sie und wendet sich zu meiner
Schwester, die immer auf einen Sprung in die Kuche muß, damit ihr das
Essen nicht anbrennt: "Mach auch das Glas mit den eingemachten Preiselbeeren
auf, - das ißt du doch gern?" fragt sie mich.
"Ja, Mutter, das habe ich lange nicht gehabt."
"Als ob wir es geahnt hutten, daß du kommst", lacht mtine
Schwester, "gerade dein Lieblingsessen, Kartoffelpuffer, und jetzt sogar mit
Preiselbeeren."
"Es ist ja auch Sonnabend", antworte ich.
"Setz dich zu mir", sagt meine Mutter.
Sie sieht mich an. Ihre Hunde sind weiß und krunklich und schmal
gegen meine. Wir sprechen nur einige Worte, und ich bin ihr dankbar dafur,
daß sie nichts fragt. Was soll ich auch sagen: Alles, was muglich war,
ist ja geschehen. Ich bin heil herausgelangt und sitze neben ihr. Und in der
Kuche steht meine Schwester und macht das Abendbrot und singt dazu.
"Mein lieber Junge", sagt meine Mutter leise.
Wir sind nie sehr zurtlich in der Familie gewesen, das ist nicht ublich
bei armen Leuten, die viel arbeiten mussen und Sorgen haben. Sie kunnen das
auch nicht so verstehen, sie beteuern nicht gern etwas ufter, was sie
ohnehin wissen. Wenn meine Mutter zu mir "lieber Junge" sagt, so ist das so
viel, als wenn eine andere wer weiß was anstellt. Ich weiß
bestimmt, daß das Glas mit Preiselbeeren das einzige ist seit Monaten
und daß sie es aufbewahrt hat fur mich, ebenso wie die schon alt
schmeckenden Kekse, die sie mir jetzt gibt. Sie hat sicher bei einer
gunstigen Gelegenheit einige erhalten und sie gleich zuruckgelegt fur mich.
Ich sitze an ihrem Bett, und durch das Fenster funkeln in Braun und
Gold die Kastanien des gegenuberliegenden Wirtsgartens. Ich atme langsam ein
und aus und sage mir: "Du bist zu Hause, du bist zu Hause." Aber eine
Befangenheit will nicht von mir weichen, ich kann mich noch nicht in alles
hineinfinden. Da ist meine Mutter, da ist meine Schwester, da mein
Schmetterlingskasten und da das
Mahagoniklavier - aber ich bin noch nicht ganz da. Es sind ein Schleier
und ein Schritt dazwischen.
Deshalb gehe ich jetzt, hole meinen Tornister ans Bett und packe aus,
was ich mitgebracht habe: einen ganzen Edamer Kuse, den Kat mir besorgt hat,
zwei Kommißbrote, dreiviertel Pfund Butter, zwei Buchsen Leberwurst,
ein Pfund Schmalz und ein Suckchen Reis.
"Das kunnt ihr sicher gebrauchen -"
Sie nicken. "Hierist es wohl schlecht damit?" erkundige ich mich.
"Ja, es gibt nicht viel. Habt ihr denn draußen genug?"
Ich luchele und zeige auf die mitgebrachten Sachen. "So viel ja nun
nicht immer, aber es geht doch einigermaßen."
Erna bringt die Lebensmittel fort. Meine Mutter nimmt plutzlich heftig
meine Hand und fragt stockend: "War es sehr schlimm draußen, Paul?"
Mutter, was soll ich dir darauf antworten! Du wirst es nicht verstehen
und nie begreifen. Du sollst es auch nie begreifen. War es schlimm, fragst
du. - Du, Mutter. - Ich schuttele den Kopf und sage: "Nein, Mutter, nicht so
sehr. Wir sind ja mit vielen zusammen, da ist es nicht so schlimm."
"Ja, aber kurzlich war Heinrich Bredemeyer hier, der erzuhlte, es wure
jetzt furchtbar draußen, mit dem Gas und all dem andern."
Es ist meine Mutter, die das sagt. Sie sagt: mit dem Gas und all dem
andern. Sie weiß nicht, was sie spricht, sie hat nur Angst um mich.
Soll ich ihr erzuhlen, daß wir einmal drei gegnerische Gruben fanden,
die erstarrt waren in ihrer Haltung, wie vom Schlag getroffen? Auf den
Brustwehren, in den Unterstunden, wo sie gerade waren, standen und lagen die
Leute mit blauen Gesichtern, tot.
"Ach, Mutter, was so geredet wird", antworte ich, "der Bredemeyer
erzuhlt nur so etwas dahin. Du siehst ja, ich bin heil und dick -"
An der zitternden Sorge meiner Mutter finde ich meine Ruhe wieder.
Jetzt kann ich schon umhergehen und sprechen und Rede stehen, ohne Furcht,
mich plutzlich an die Wand lehnen zu mussen, weil die Welt weich wird wie
Gummi und die Adern murbe wie Zunder.
Meine Mutter will aufstehen, ich gehe solange in die Kuche zu meiner
Schwester. "Was hat sie?" frage ich. Sie zuckt die Achseln: " Sie liegt
schon ein paar Monate, wir sollten es dir aber nicht schreiben. Es sind
mehrere urzte bei ihr gewesen. Einer sagte, es wure wohl wieder Krebs."
Ich gehe zum Bezirkskommando, um mich anzumelden. Langsam wandere ich
durch die Straßen. Hier und da spricht mich jemand an. Ich halte mich
nicht lange auf, denn ich will nicht so viel reden.
Als ich aus der Kaserne zuruckkomme, ruft mich eine laute Stimme an.
Ich drehe mich um, ganz in Gedanken, und stehe einem Major gegenuber. Er
fuhrt mich an: "Kunnen Sie nicht grußen?"
"Entschuldigen Herr Major", sage ich verwirrt, "ich habe Sie nicht
gesehen."
Er wird noch lauter: "Kunnen Sie sich auch nicht vernunftig
ausdrucken?"
Ich muchte ihm ins Gesicht schlagen, beherrsche mich aber, denn sonst
ist mein Urlaub hin, nehme die Knochen zusammen und sage: "Ich habe Herrn
Major nicht gesehen."
"Dann passen Sie gefulligst auf!" schnauzt er. "Wie heißen Sie?"
Ich rapportiere.
Sein rotes, dickes Gesicht ist immernoch empurt. "Truppenteil?"
Ich melde vorschriftsmußig. Er hat immer noch nicht genug. "Wo
liegen Sie?"
Aber ich habe jetzt genug und sage: "Zwischen Langemark und
Bixschoote."
"Wieso?" fragt er etwas verblufft.
Ich erklure ihm, daß ich vor einer Stunde auf Urlaub gekommen
sei, und denke, daß er jetzt abtrudeln wird. Aber ich irre mich. Er
wird sogar noch wilder: "Das kunnte Ihnen wohl so passen, hier Frontsitten
einzufuhren, was? Das gibt's nicht! Hier herrscht Gott sei Dank Ordnung!" Er
kommandiert: "Zwanzig Schritt zuruck, marsch, marsch!"
In mir sitzt die dumpfe Wut. Aber ich kann nichts gegen ihn machen, er
lußt mich sofort festnehmen, wenn er will. So spritze ich
zuruck, gehe vor und zucke sechs Meter vor ihm zu einem zackigen
Gruß zusammen, den ich erst wegnehme, als ich sechs Meter hinter ihm
bin.
Er ruft mich wieder heran und gibt mir jetzt leutselig bekannt,
daß er noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen will. Ich zeige mich
stramm dankbar. "Wegtreten!" kommandiert er. Ich knalle die Wendung und
ziehe ab.
Der Abend ist mir dadurch verleidet. Ich mache, daß ich nach
Hause komme, und werfe die Uniform in die Ecke, das hatte ich sowieso vor.
Dann hole ich meinen Zivilanzug aus dem Schrank und ziehe ihn an.
Das ist mir ganz ungewohnt. Der Anzug sitzt ziemlich kurz und knapp,
ich bin beim Kommiß gewachsen. Kragen und Krawatte machen mir
Schwierigkeiten. Schließlich bindet mir meine Schwester den Knoten.
Wie leicht so ein Anzug ist, man hat das Gefuhl, als wure man nur in
Unterhosen und Hemd.
Ich betrachte mich im Spiegel. Das ist ein sonderbarer Anblick. Ein
sonnenverbrannter, etwas ausgewachsener Konfirmand sieht mich da verwundert
an.
Meine Mutter ist froh, daß ich Zivilzeug trage; ich bin ihr
dadurch vertrauter. Doch mein Vater hutte lieber, daß ich Uniform
anzuge, er muchte so mit mir zu seinen Bekannten gehen.
Aber ich weigere mich.
Es ist schun, still irgendwo zu sitzen, zum Beispiel in dem Wirtsgarten
gegenuber den Kastanien, nahe der Kegelbahn. Die Blutter fallen auf den
Tisch und auf die Erde, wenige nur, die ersten. Ich habe ein Glas Bier vor
mir stehen, das Trinken hat man beim Militur gelernt. Das Glas ist halb
geleert, ich habe also noch einige gute, kuhle Schlucke vor mir, und
außerdem kann ich ein zweites und ein drittes bestellen, wenn ich
will. Es gibt keinen Appell und kein Trommelfeuer, die Kinder des Wirts
spielen auf der Kegelbahn, und der Hund legt mir seinen Kopf auf die Knie.
Der Himmel ist blau, zwischen dem Laub der Kastanien ragt der grune Turm der
Margaretenkirche auf.
Das ist gut, und ich liebe es. Aber mit den Leuten kann ich nicht
fertig werden. Die einzige, die nicht fragt, ist meine Mutter. Doch schon
mit meinem Vater ist es anders. Er muchte, daß ich etwas erzuhle von
draußen, er hat Wunsche, die ich ruhrend und dumm finde, zu ihm schon
habe ich kein rechtes Verhultnis mehr. Am liebsten muchte er immerfort etwas
huren. Ich begreife, daß er nicht weiß, daß so etwas nicht
erzuhlt werden kann, und ich muchte ihm auch gern den Gefallen tun; aber es
ist eine Gefahr fur mich, wenn ich diese Dinge in Worte bringe, ich habe
Scheu, daß sie dann riesenhaft werden und sich nicht mehr bewultigen
lassen. Wo blieben wir, wenn uns alles ganz klar wurde, was da draußen
vorgeht.
So beschrunke ich mich darauf, ihm einige lustige Sachen zu erzuhlen.
Er aber fragt mich, ob ich auch einen Nahkampf mitgemacht hutte. Ich sage
nein und stehe auf, um auszugehen.
Doch das bessert nichts. Nachdem ich mich auf der Straße ein
paarmal erschreckt habe, weil das Quietschen der Straßenbahnen sich
wie heranheulende Granaten anhurt, klopft mir jemand auf die Schulter. Es
ist mein Deutschlehrer, der mich mit den ublichen Fragen uberfullt. "Na, wie
steht es draußen. Furchtbar, furchtbar, nicht wahr? Ja, es ist
schrecklich, aber wir mussen eben durchhalten. Und schließlich,
draußen habt ihr doch wenigstens gute Verpflegung, wie ich gehurt
habe, Sie sehen gut aus, Paul, kruftig. Hier ist das naturlich schlechter,
ganz naturlich, ist ja auch selbstverstundlich, das Beste immer fur unsere
Soldaten!"
Er schleppt mich zu einem Stammtisch mit. Ich werde großartig
empfangen, ein Direktor gibt mir die Hand und sagt: " So, Sie kommen von der
Front? Wie ist denn der Geist dort? Vorzuglich, vorzuglich, was?"
Ich erklure, daß jeder gern nach Hause muchte.
Er lacht druhnend: "Das glaube ich! Aber erst mußt ihr den
Franzmann verkloppen! Rauchen Sie? Hier, stecken Sie sich mal eine an. Ober,
bringen Sie unserm jungen Krieger auch ein Bier."
Leider habe ich die Zigarre genommen, deshalb muß ich bleiben.
Alle triefen nur so von Wohlwollen, dagegen ist nichts einzuwenden. Trotzdem
bin ich urgerlich und qualme, so schnell ich kann.
Um wenigstens etwas zu tun, sturze ich das Glas Bier in einem Zug
hinunter. Sofort wird mir ein zweites bestellt; die Leute wissen, was sie
einem Soldaten schuldig sind. Sie disputieren daruber, was wir annektieren
sollen. Der Direktor mit der eisernen Uhrkette will am meisten haben: ganz
Belgien, die Kohlengebiete Frankreichs und große Stucke von
Rußland. Er gibt genaue Grunde an, weshalb wir das haben mussen, und
ist unbeugsam, bis die andern schließlich nachgeben. Dann beginnt er
zu erluutern, wo in Frankreich der Durchbruch einsetzen musse, und wendet
sich zwischendurch zu mir: "Nun macht mal ein bißchen vorwurts da
draußen mit eurem ewigen Stellungskrieg. Schmeißt die Kerle
'raus, dann gibt es auch Frieden." -
Ich antworte, daß nach unserer Meinung ein Durchbruch unmuglich
sei. Die druben hutten zuviel Reserven. Außerdem wure der Krieg doch
anders, als man sich das so denke.
Er wehrt uberlegen ab und beweist mir, daß ich davon nichts
verstehe. " Gewiß, der einzelne", sagt er, "aber es kommt doch auf das
Gesamte an. Und das kunnen Sie nicht so beurteilen. Sie sehen nur Ihren
kleinen Abschnitt und haben deshalb keine ubersicht. Sie tun Ihre Pflicht,
Sie setzen Ihr Leben ein, das ist huchster Ehren wert - jeder von euch
mußte das Eiserne Kreuz haben -, aber vor allem muß die
gegnerische Front in Flandern durchbrochen und dann von oben aufgerollt
werden."
Er schnauft und wischt sich den Bart. "Vullig aufgerollt muß sie
werden, von oben herunter. Und dann auf Paris."
Ich muchte wissen, wie er sich das vorstellt, und gieße das
dritte Bier in mich hinein. Sofort lußt er ein neues bringen.
Aber ich breche auf. Er schiebt mir noch einige Zigarren in die Tasche
und entlußt mich mit einem freundschaftlichen Klaps. "Alles Gute!
Hoffentlich huren wir nun bald etwas Ordentliches von euch."
Ich habe mir den Urlaub anders vorgestellt. Vor einem Jahr war er auch
anders. Ich bin es wohl, der sich inzwischen geundert hat. Zwischen heute
und damals liegt eine Kluft. Damals kannte ich den Krieg noch nicht, wir
hatten in ruhigeren Abschnitten gelegen. Heute merke ich, daß ich,
ohne es zu wissen, zermurbter geworden bin. Ich finde mich hier nicht mehr
zurecht, es ist eine fremde Welt. Die einen fragen, die andern fragen nicht,
und man sieht ihnen an, daß sie stolz darauf sind; oft sagen sie es
sogar noch mit dieser Miene des Verstehens, daß man daruber nicht
reden kunne. Sie bilden sich etwas darauf ein.
Am liebsten bin ich allein, da sturt mich keiner. Denn alle kommen
stets auf dasselbe zuruck, wie schlecht es geht und wie gut es geht, der
eine findet es so, der andere so, - immer sind sie auch rasch bei den
Dingen, die ihr Dasein darstellen. Ich habe fruher sicher genauso gelebt,
aber ich finde jetzt keinen Anschluß mehr daran.
Sie reden mir zuviel. Sie haben Sorgen, Ziele, Wunsche, die ich nicht
so auffassen kann wie sie. Manchmal sitze ich mit einem von ihnen in dem
kleinen Wirtsgarten und versuche, ihm klarzumachen, daß dies
eigentlich schon alles ist: so still zu sitzen. Sie verstehen das naturlich,
geben es zu, finden es auch, aber nur mit Worten, nur mit Worten, das ist es
ja - sie empfinden es, aber stets nur halb, ihr anderes Wesen ist bei
anderen Dingen, sie sind so verteilt, keiner empfindet es mit seinem ganzen
Leben; ich kann ja selbst auch nicht recht sagen, was ich meine.
Wenn ich sie so sehe, in ihren Zimmern, in ihren Buros, in ihren
Berufen, dann zieht das mich unwiderstehlich an, ich muchte auch darin sein
und den Krieg vergessen; aber es stußt mich auch gleich wieder ab, es
ist so eng, wie kann das ein Leben ausfullen, man sollte es zerschlagen, wie
kann das alles so sein, wuhrend draußen jetzt die Splitter uber die
Trichter sausen und die Leuchtkugeln hochgehen, die Verwundeten auf
Zeltbahnen zuruckgeschleift werden und die Kameraden sich in die Gruben
drucken! -Es sind andere Menschen hier, Menschen, die ich nicht richtig
begreife, die ich beneide und verachte. Ich muß an Kat und Albert und
Muller und Tjaden denken, was mugen sie tun? Sie sitzen vielleicht in der
Kantine oder sie schwimmen - bald mussen sie wieder nach vorn.
In meinem Zimmer steht hinter dem Tisch ein braunes Ledersofa. Ich
setze mich hinein.
An den Wunden sind viele Bilder mit Reißzwecken festgemacht, die
ich fruher aus Zeitschriften geschnitten habe. Postkarten und Zeichnungen
dazwischen, die mir gefallen haben. In der Ecke steht ein kleiner eiserner
Ofen. An der Wand gegenuber das Regal mit meinen Buchern.
In diesem Zimmer habe ich gelebt, bevor ich Soldat wurde. Die Bucher
habe ich nach und nach gekauft von dem Geld, das ich mit Stundengeben
verdiente. Viele davon antiquarisch, alle Klassiker zum Beispiel, ein Band
kostete eine Mark und zwanzig Pfennig, in steifem, blauem Leinen. Ich habe
sie vollstundig gekauft, denn ich war grundlich, bei ausgewuhlten Werken
traute ich den Herausgebern nicht, ob sie auch das Beste genommen hatten.
Deshalb kaufte ich mir " Sumtliche Werke". Gelesen habe ich sie mit
ehrlichem Eifer, aber die meisten sagten mir nicht recht zu. Um so mehr
hielt ich von den anderen Buchern, den moderneren, die naturlich auch viel
teurer waren. Einige davon habe ich nicht ganz ehrlich erworben, ich habe
sie ausgeliehen und nicht zuruckgegeben, weil ich mich von ihnen nicht
trennen mochte.
Ein Fach des Regals ist mit Schulbuchern gefullt. Sie sind wenig
geschont und stark zerlesen, Seiten sind herausgerissen, man weiß ja
wofur. Und unten sind Hefte, Papier und Briefe hingepackt, Zeichnungen und
Versuche.
Ich will mich hineindenken in die Zeit damals. Sie ist ja noch im
Zimmer, ich fuhle es sofort, die Wunde haben sie bewahrt. Meine Hunde liegen
auf der Sofalehne; jetzt mache ich es mir bequem und ziehe auch die Beine
hoch, so sitze ich gemutlich in der Ecke, in den Armen des Sofas. Das kleine
Fenster ist geuffnet, es zeigt das vertraute Bild der Straße mit dem
ragenden Kirchturm am Ende. Ein paar Blumen stehen auf dem Tisch.
Federhalter, Bleistifte, eine Muschel als Briefbeschwerer, das
Tintenfaß - hier ist nichts verundert.
So wird es auch sein, wenn ich Gluck habe, wenn der Krieg aus ist und
ich wiederkomme fur immer. Ich werde ebenso hier sitzen und mein Zimmer
ansehen und warten.
Ich bin aufgeregt; aber ich muchte es nicht sein, denn das ist nicht
richtig. Ich will wieder diese stille Hingerissenheit, das Gefuhl dieses
heftigen, unbenennbaren Dranges verspuren, wie fruher, wenn ich vor meine
Bucher trat. Der Wind der Wunsche, der aus den bunten Bucherrucken aufstieg,
soll mich wieder erfassen, er soll den schweren, toten Bleiblock, der
irgendwo in mir liegt, schmelzen und mir wieder die Ungeduld der Zukunft,
die beschwingte Freude an der Welt der Gedanken wecken; - er soll mir das
verlorene Bereitsein meiner Jugend zuruckbringen.
Ich sitze und warte.
Mir fullt ein, daß ich zu Kemmerichs Mutter gehen muß; -
Mittelstaedt kunnte ich auch besuchen, er muß in der Kaserne sein. Ich
sehe aus dem Fenster: - hinter dem besonnten Straßenbild taucht
verwaschen und leicht ein Hugelzug auf, verwandelt sich zu einem hellen Tag
im Herbst, wo ich am Feuer sitze und mit Kat und Albert gebratene Kartoffeln
aus der Schale esse.
Doch daran will ich nicht denken, ich wische es fort. Das Zimmer soll
sprechen, es soll mich einfangen und tragen, ich will fuhlen, daß ich
hierhergehure, und horchen, damit ich weiß, wenn ich wieder an die
Front gehe: Der Krieg versinkt und ertrinkt, wenn die Welle der Heimkehr
kommt, er ist voruber, er zerfrißt uns nicht, er hat keine andere
Macht uber uns als nur die uußere!
Die Bucherrucken stehen nebeneinander. Ich kenne sie noch und erinnere
mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie mit meinen Augen: Sprecht zu
mir, - nehmt mich auf - nimm mich auf, du Leben von fruher, - du sorgloses,
schunes - nimm mich wieder auf -
Ich warte, ich warte.
Bilder ziehen voruber, sie haken nicht fest, es sind nur Schatten und
Erinnerungen.
Nichts - nichts.
Meine Unruhe wuchst.
Ein furchterliches Gefuhl der Fremde steigt plutzlich in mir hoch. Ich
kann nicht zuruckfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und
mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und traurig sitze ich wie
ein Verurteilter da, und die Vergangenheit wendet sich ab. Gleichzeitig
spure ich Furcht, sie zu sehr zu beschwuren, weil ich nicht weiß, was
dann alles geschehen kunnte. Ich bin ein Soldat, daran muß ich mich
halten.
Mude stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der
Bucher und bluttere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein
anderes. Es sind Stellen darin, die angestrichen sind. Ich suche, bluttere,
nehme neue Bucher. Schon liegt ein Pack neben mir. Andere kommen dazu,
hastiger - Blutter, Hefte, Briefe.
Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht.
Mutlos.
Worte, Worte, Worte - sie erreichen mich nicht.
Langsam stelle ich die Bucher wieder in die Lucken. Vorbei.
Still gehe ich aus dem Zimmer.
Noch gebe ich es nicht auf. Mein Zimmer betrete ich zwar nicht mehr,
aber ich truste mich damit, daß einige Tage noch nicht ein Ende zu
sein brauchen. Ich habe nachher - sputer - Jahre dafur Zeit. Vorluufig gehe
ich zu Mittelstaedt in die Kaserne, und wir sitzen in seiner Stube, da ist
eine Luft, die ich nicht liebe, an die ich aber gewuhnt bin.
Mittelstaedt hat eine Neuigkeit parat, die mich sofort elektrisiert. Er
erzuhlt mir, daß Kantorek eingezogen worden sei als Landsturmmann.
"Stell dir vor", sagt er und holt ein paar gute Zigarren heraus, "ich komme
aus dem Lazarett hierher und falle gleich uber ihn. Er streckt mir seine
Pfote entgegen und quakt: 'Sieh da, Mittelstaedt, wie geht es denn?' - Ich
sehe ihn groß an und antworte: 'Landsturmmann Kantorek, Dienst ist
Dienst und Schnaps ist Schnaps, das sollten Sie selbst am besten wissen.
Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden.' - Du huttest
sein Gesicht sehen mussen! Eine Kreuzung aus Essiggurke und Blindgunger.
Zugernd versuchte er noch einmal, sich anzubiedern. Da schnauzte ich etwas
schurfer. Nun fuhrte er seine sturkste Batterie ins Gefecht und fragte
vertraulich: 'Soll ich Ihnen vermitteln, daß Sie Notexamen machen?' Er
wollte mich erinnern, verstehst du. Da packte mich die Wut, und ich
erinnerte ihn auch. 'Landsturmmann Kantorek, vor zwei Jahren haben Sie uns
zum Bezirkskommando gepredigt, darunter auch den Joseph Behm, der eigentlich
nicht wollte. Er fiel drei Monate bevor er eingezogen worden wure. Ohne Sie
hutte er solange gewartet. Und jetzt: Wegtreten. Wir sprechen uns noch.' -
Es war mir leicht, seiner Kompanie zugeteilt zu werden. Als erstes nahm ich
ihn zur Kammer und sorgte fur eine hubsche Ausrustung. Du wirst ihn gleich
sehen."
Wir gehen auf den Hof. Die Kompanie ist angetreten. Mittelstaedt
lußt ruhren und besichtigt.
Da erblicke ich Kantorek und muß das Lachen verbeißen. Er
trugt eine Art Schoßrock aus verblichenem Blau. Auf dem Rucken und an
den urmeln sind große dunkle Flicken eingesetzt. Der Rock muß
einem Riesen gehurt haben. Um so kurzer ist die abgewetzte schwarze Hose;
sie reicht bis zur halben Wade. Dafur sind aber die Schuhe sehr geruumig,
eisenharte, uralte Treter, mit hochgebogenen Spitzen, noch an den Seiten zu
schnuren. Als Ausgleich ist die Mutze wieder zu klein, ein furchtbar
dreckiges, elendes Krutzchen. Der Gesamteindruck ist erbarmungswurdig.
Mittelstaedt bleibt stehen vor ihm: "Landsturmmann Kantorek, ist das
Knopfputz ? Sie scheinen es nie zu lernen. Ungenugend, Kantorek, ungenugend
-"
Ich brulle innerlich vor Vergnugen. Genauso hat Kantorek in der Schule
Mittelstaedt getadelt, mit demselben Tonfall "Ungenugend, Mittelstaedt,
ungenugend -"
Mittelstaedt mißbilligt weiter: "Sehen Sie sich mal Boettcher an,
der ist vorbildlich, von dem kunnen Sie lernen."
Ich traue meinen Augen kaum. Boettcher ist ja auch da, unser
Schulportier. Und der ist vorbildlich! Kantorek schießt mir einen
Blick zu, als ob er mich fressen muchte. Ich aber grinse ihm nur harmlos in
die Visage, so als ob ich ihn gar nicht weiter kenne.
Wie bludsinnig er aussieht mit seinem Krutzchen und seiner Uniform! Und
vor so was hat man fruher eine Heidenangst gehabt, wenn es auf dem Katheder
thronte und einen mit dem Bleistift aufspießte bei den
unregelmußigen franzusischen Verben, mit denen man nachher in
Frankreich doch nichts anfangen konnte. Es ist noch kaum zwei Jahre her; -
und jetzt steht hier der Landsturmmann Kantorek, juh entzaubert, mit krummen
Knien und Armen wie Topfhenkel, mit schlechtem Knopfputz und lucherlicher
Haltung, ein unmuglicher Soldat. Ich kann ihn mir nicht mehr zusammenreimen
mit dem drohenden Bilde auf dem Katheder, und ich muchte wirklich gern mal
wissen, was ich machen werde, wenn dieser Jammerpelz mich alten Soldaten
jemals wieder fragen darf: "Buumer, nennen Sie das Imparfait von aller -"
Vorluufig lußt Mittelstaedt etwas Schwurmen uben. Kantorek wird
dabei wohlwollend von ihm zum Gruppenfuhrer bestimmt.
Damit hat es seine besondere Bewandtnis. Der Gruppenfuhrer muß
beim Schwurmen numlich stets zwanzig Schritt vor seiner Gruppe sein; -
kommandiert man nun: Kehrt - marsch!, so macht die Schwarmlinie nur die
Wendung, der Gruppenfuhrer jedoch, der dadurch plutzlich zwanzig Schritt
hinter der Linie ist, muß im Galopp vorsturzen, um wieder seine
zwanzig Schritt vor die Gruppe zu kommen. Das sind zusammen vierzig Schritt:
Marsch, marsch. Kaum ist er aber angelangt, so wird einfach wieder Kehrt -
marsch! befohlen, und er muß eiligst wieder vierzig Schritt nach der
anderen Seite rasen. Auf diese Weise macht die Gruppe nur gemutlich immer
eine Wendung und ein paar Schritte, wuhrend der Gruppenfuhrer hin und her
saust wie ein Furz auf der Gardinenstange. Das Ganze ist eines der vielen
probaten Rezepte von Himmelstoß.
Kantorek kann von Mittelstaedt nichts anderes verlangen, denn er hat
ihm einmal eine Versetzung vermurkst, und Mittelstaedt wure schun dumm,
diese gute Gelegenheit nicht auszunutzen, bevor er wieder ins Feld kommt.
Man stirbt doch vielleicht etwas leichter, wenn der Kommiß einem auch
einmal solch eine Chance geboten hat.
Einstweilen spritzt Kantorek hin und her wie ein aufgescheuchtes
Wildschwein. Nach einiger Zeit lußt Mittelstaedt aufhuren, und nun
beginnt die so wichtige ubung des Kriechens. Auf Knien und Ellenbogen, die
Knarre vorschriftsmußig gefaßt, schiebt Kantorek seine
Prachtfigur durch den Sand, dicht an uns vorbei. Er schnauft kruftig, und
sein Schnaufen ist Musik.
Mittelstaedt ermuntert ihn, indem er den Landsturmmann Kantorek mit
Zitaten des Oberlehrers Kantorek trustet. "Landsturmmann Kantorek, wir haben
das Gluck, in einer großen Zeit zu leben, da mussen wir alle uns
zusammenreißen und das Bittere uberwinden." Kantorek spuckt ein
schmutziges Stuck Holz aus, das ihm zwischen die Zuhne gekommen ist, und
schwitzt. Mittelstaedt beugt sich nieder, beschwurend eindringlich: "Und
uber Kleinigkeiten niemals das große Erlebnis vergessen, Landsturmmann
Kantorek!"
Mich wundert, daß Kantorek nicht mit einem Knall zerplatzt,
besonders, da jetzt die Turnstunde folgt, in der Mittelstaedt ihn
großartig kopiert, indem er ihm in den Hosenboden faßt beim
Klimmzug am Querbaum, damit er das Kinn stramm uber die Stange bringen kann,
und dazu von weisen Reden nur so trieft. Genauso hat Kantorek es fruher mit
ihm gemacht.
Danach wird der weitere Dienst verteilt. "Kantorek und Boettcher zum
Kommißbrotholen! Nehmen Sie den Handwagen mit."
Ein paar Minuten sputer geht das Paar mit dem Handwagen los. Kantorek
hult wutend den Kopf gesenkt. Der Portier ist stolz, weil er leichten Dienst
hat.
Die Brotfabrik ist am andern Ende der Stadt. Beide mussen also hin und
zuruck durch die ganze Stadt.
"Das machen sie schon ein paar Tage", grinst Mittelstaedt. "Es gibt
bereits Leute, die darauf warten, sie zu sehen."
"Großartig", sage ich, "aber hat er sich noch nicht beschwert?"
"Versucht! Unser Kommandeur hat furchtbar gelacht, als er die
Geschichte gehurt hat. Er kann keine Schulmeister leiden. Außerdem
poussiere ich mit seiner Tochter."
"Er wird dir das Examen versauen."
"Darauf pfeife ich", meint Mittelstaedt gelassen. "Seine Beschwerde ist
außerdem zwecklos gewesen, weil ich beweisen konnte, daß er
meistens leichten Dienst hat."
"Kunntest du ihn nicht mal ganz groß schleifen?" frage ich.
"Dazu ist er mir zu dumlich", antwortet Mittelstaedt erhaben und
großzugig.
Was ist Urlaub? - Ein Schwanken, das alles nachher noch viel
schwerermacht. Schon jetzt mischt sich der Abschied hinein. Meine Mutter
sieht mich schweigend an; - sie zuhlt die Tage, ich weiß es; - jeden
Morgen ist sie traurig. Es ist schon wieder ein Tag weniger. Meinen
Tornister hat sie weggepackt, sie will durch ihn nicht erinnert werden.
Die Stunden laufen schnell, wenn man grubelt. Ich raffe mich auf und
begleite meine Schwester. Sie geht zum Schlachthof, um einige Pfund Knochen
zu holen. Das ist eine große Vergunstigung, und morgens schon stellen
sich die Leute hin, um darauf anzustehen. Manche werden ohnmuchtig.
Wir haben kein Gluck. Nachdem wir drei Stunden abwechselnd gewartet
haben, lust sich die Reihe auf. Die Knochen sind zu Ende.
Es ist gut, daß ich meine Verpflegung erhalte. Davon bringe ich
meiner Mutter mit, und wir haben so alle etwas kruftigeres Essen.
Immer schwerer werden die Tage, die Augen meiner Mutter immer
trauriger. Noch vier Tage. Ich muß zu Kemmerichs Mutter gehen.
Man kann das nicht niederschreiben. Diese bebende, schluchzende Frau,
die mich schuttelt und mich anschreit: "Weshalb lebst du denn, wenn er tot
ist!", die mich mit Trunen uberstrumt und ruft: "Weshalb seid ihr uberhaupt
da, Kinder, wie ihr -", die in einen Stuhl sinkt und weint: "Hast du ihn
gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er?"
Ich sage ihr, daß er einen Schuß ins Herz erhalten hat und
gleich tot war. Sie sieht mich an, sie zweifelt: "Du lugst. Ich weiß
es besser. Ich habe gefuhlt, wie schwer er gestorben ist. Ich habe seine
Stimme gehurt, seine Angst habe ich nachts gespurt, - sag die Wahrheit, ich
will es wissen, ich muß es wissen."
"Nein", sage ich, "ich war neben ihm. Er war sofort tot." Sie bittet
mich leise: "Sag es mir. Du mußt es. Ich weiß, du willst mich
damit trusten, aber siehst du nicht, daß du mich schlimmer quulst, als
wenn du die Wahrheit sagst? Ich kann die Ungewißheit nicht ertragen,
sag mir, wie es war, und wenn es noch so furchtbar ist. Es ist immer noch
besser, als was ich sonst denken muß."
Ich werde es nie sagen, eher kann sie aus mir Hackfleisch machen. Ich
bemitleide sie, aber sie kommt mir auch ein wenig dumm vor. Sie soll sich
doch zufrieden geben, Kemmerich bleibt tot, ob sie es weiß oder nicht.
Wenn man so viele Tote gesehen hat, kann man so viel Schmerz um einen
einzigen nicht mehr recht begreifen. So sage ich etwas ungeduldig: "Er war
sofort tot. Er hat es gar nicht gefuhlt. Sein Gesicht war ganz ruhig."
Sie schweigt. Dann fragt sie langsam: "Kannst du das beschwuren?"
"Ja."
"Bei allem, was dir heilig ist?"
Ach Gott, was ist mir schon heilig; - so was wechselt ja schnell bei
uns.
"Ja, er war sofort tot."
"Willst du selbst nicht wiederkommen, wenn es nicht wahr ist?"
"Ich will nicht wiederkommen, wenn er nicht sofort tot war."
Ich wurde noch wer weiß was auf mich nehmen. Aber sie scheint mir
zu glauben. Sie stuhnt und weint lange. Ich soll erzuhlen, wie es war, und
erfinde eine Geschichte, an die ich jetzt beinahe selbst glaube.
Als ich gehe, kußt sie mich und schenkt mir ein Bild von ihm. Er
lehnt darauf in seiner Rekrutenuniform an einem runden Tisch, dessen Beine
aus ungeschulten Birkenusten bestehen. Dahinter ist ein Wald gemalt als
Kulisse. Auf dem Tisch steht ein Bierseidel.
Es ist der letzte Abend zu Hause. Alle sind schweigsam. Ich gehe fruh
zu Bett, ich fasse die Kissen an, ich drucke sie an mich und lege den Kopf
hinein. Wer weiß, ob ich je wieder so in einem Federbett liegen werde!
Meine Mutter kommt sput noch in mein Zimmer. Sie glaubt, daß ich
schlafe, und ich stelle mich auch so. Zu sprechen, wach miteinander zu sein,
ist zu schwer.
Sie sitzt fast bis zum Morgen, obschon sie Schmerzen hat und sich
manchmal krummt. Endlich kann ich es nicht mehr aushaken, ich tue, als
erwachte ich.
"Geh schlafen, Mutter, du erkultest dich hier."
Sie sagt: "Schlafen kann ich noch genug sputer."
Ich richte mich auf. "Es geht ja nicht sofort ins Feld, Mutter. Ich
muß doch erst vier Wochen ins Barackenlager. Von dort komme ich
vielleicht einen Sonntag noch heruber."
Sie schweigt. Dann fragt sie leise: "Furchtest du dich sehr?"
"Nein, Mutter."
"Ich wollte dir noch sagen: Nimm dich vor den Frauen in acht in
Frankreich. Sie sind schlecht dort."
Ach Mutter, Mutter! Fur dich bin ich ein Kind, - warum kann ich nicht
den Kopf in deinen Schoß legen und weinen? Warum muß ich immer
der Sturkere und der Gefaßtere sein, ich muchte doch auch einmal
weinen und getrustet werden, ich bin doch wirklich nicht viel mehr als ein
Kind, im Schrank hungen noch meine kurzen Knabenhosen, - es ist doch erst so
wenig Zeit her, warum ist es denn vorbei?
So ruhig ich kann, sage ich: "Wo wir liegen, da sind keine Frauen,
Mutter."
"Und sei recht vorsichtig dort im Felde, Paul."
Ach Mutter, Mutter! Warum nehme ich dich nicht in meine Arme, und wir
sterben. Was sind wir doch fur arme Hunde!
"Ja, Mutter, das will ich sein."
"Ich werde jeden Tag fur dich beten, Paul."
Ach Mutter, Mutter! Laß uns aufstehen und fortgehen, zuruck durch
die Jahre, bis all dies Elend nicht mehr auf uns liegt, zuruck zu dir und
mir allein, Mutter!
"Vielleicht kannst du einen Posten bekommen, der nicht so gefuhrlich
ist."
"Ja, Mutter, vielleicht komme ich in die Kuche, das kann wohl
sein."
"Nimm ihn ja an, wenn die andern auch reden -"
"Darum kummere ich mich nicht, Mutter -"
Sie seufzt. Ihr Gesicht ist ein weißer Schein im Dunkel. "Nun
mußt du schlafen gehen, Mutter."
Sie antwortet nicht. Ich stehe auf und lege ihr meine Decke uber die
Schultern. Sie stutzt sich auf meinen Arm, sie hat Schmerzen. So bringe ich
sie hinuber. Eine Weile bleibe ich noch bei ihr. "Du mußt nun auch
gesund werden, Mutter, bis ich wiederkomme."
"Jaja, mein Kind."
"Ihr durft mir nicht eure Sachen schicken, Mutter. Wir haben
draußen genug zu essen. Ihr kunnt es hier besser brauchen."
Wie arm sie in ihrem Bette liegt, sie, die mich liebt, mehr als alles.
Als ich schon gehen will, sagt sie hastig: "Ich habe dir noch zwei
Unterhosen besorgt. Es ist gute Wolle. Sie werden warm halten. Du mußt
nicht vergessen, sie dir einzupacken."
Ach Mutter, ich weiß, was dich diese beiden Unterhosen gekostet
haben an Herumstehen und Laufen und Betteln! Ach Mutter, Mutter, wie kann
man es begreifen, daß ich weg muß von dir, wer hat denn anders
ein Recht auf mich als du. Noch sitze ich hier, und du liegst dort, wir
mussen uns so vieles sagen, aber wir werden es nie kunnen.
"Gute Nacht, Mutter."
"Gute Nacht, mein Kind."
Das Zimmer ist dunkel. Der Atem meiner Mutter geht darin hin und her.
Dazwischen tickt die Uhr. Draußen vor den Fenstern weht es. Die
Kastanien rauschen.
Auf dem Vorplatz stolpere ich uber meinen Tornister, der fertig gepackt
daliegt, weil ich morgen sehr fruh fort muß.
Ich beiße in meine Kissen, ich krampfe die Fuuste um die
Eisenstube mei'ies Bettes. Ich hutte nie hierherkommen durfen. Ich war
gleichgultig und oft hoffnungslos draußen; - ich werde es nie mehr so
sein kunnen. Ich war ein Soldat, und nun bin ich nichts mehr als Schmerz um
mich, um meine Mutter, um alles, was so trostlos und ohne Ende ist. Ich
hutte nie auf Urlaub fahren durfen.
8
Die Baracken im Heidelager kenne ich noch. Hier hat Himmelstoß
Tjaden erzogen. Sonst aber kenne ich kaum jemand hier; alles hat gewechselt,
wie immer. Nur einige der Leute habe ich fruher fluchtig gesehen.
Den Dienst mache ich mechanisch. Abends bin ich fast stets im
Soldatenheim, da liegen Zeitschriften aus, die ich aber nicht lese; es steht
jedoch ein Klavier da, auf dem ich gern spiele. Zwei Mudchen bedienen, eins
davon ist jung.
Das Lager ist von hohen Drahtzuunen umgeben. Wenn wir sput aus dem
Soldatenheim kommen, mussen wir Passierscheine haben. Wer sich mit dem
Posten versteht, kriecht naturlich auch so durch.
Zwischen Wacholderbuschen und Birkenwuldern uben wir jeden Tag
Kompanieexerzieren in der Heide. Es ist zu ertragen, wenn man nicht mehr
verlangt. Man rennt vorwurts, wirft sich hin, und der Atem biegt die Stengel
und Bluten der Heide hin und her. Der Ware Sand ist, so dicht am Boden
gesehen, rein wie in einem Laboratorium, aus vielen kleinsten Kieseln
gebildet. Es ist seltsam verlockend, die Hand hineinzugraben.
Aber das schunste sind die Wulder mit ihren Birkenrundern. Sie wechseln
jeden Augenblick die Farbe. Jetzt leuchten die Stumme im hellsten
Weiß, und seidig und luftig schwebt zwischen ihnen das pastellhafte
Grun des Laubes; - im nuchsten Moment wechselt alles zu einem opalenen Blau,
das silbrig vom Rande her streicht und das Grun forttupft; - aber sogleich
vertieft es sich an einer Stelle fast zu Schwarz, wenn eine Wolke uber die
Sonne geht. Und dieser Schatten luuft wie ein Gespenst zwischen den nun
fahlen Stummen entlang, weiter uber die Heide zum Horizont, - inzwischen
stehen die Birken schon wie festliche Fahnen mit weißen Stangen vor
dem rotgoldenen Geloder ihres sich furbenden Laubes.
Ich verliere mich oft an dieses Spiel zartester Lichter und
durchsichtiger Schatten, so sehr, daß ich fast die Kommandos uberhure;
- wenn man allein ist, beginnt man die Natur zu beobachten und zu lieben.
Und ich habe hier nicht viel Anschluß, wunsche ihn auch nicht uber das
normale Maß hinaus. Man ist zuwenig miteinander bekannt, um mehr zu
tun, als etwas zu quatschen und abends Siebzehn-und-vier zu spielen oder zu
mauscheln.
Neben unsern Baracken befindet sich das große Russenlager. Es ist
von uns zwar durch Drahtwunde getrennt, trotzdem gelingt es den Gefangenen
doch, zu uns heruberzukommen. Sie geben sich sehr scheu und ungstlich, dabei
haben die meisten Barte und sind groß; dadurch wirken sie wie
verprugelte Bernhardiner.
Sie schleichen um unsere Baracken und revidieren die Abfalltonnen. Man
muß sich vorstellen, was sie da finden. Die Kost ist bei uns schon
knapp und vor allem schlecht, es gibt Steckruben, in sechs Teile geschnitten
und in Wasser gekocht, Mohrrubenstrunke, die noch schmutzig sind; fleckige
Kartoffeln sind große Leckerbissen, und das Huchste ist dunne
Reissuppe, in der kleingeschnittene Rindfleischsehnen schwimmen sollen. Aber
sie sind so klein geschnitten, daß sie nicht mehr zu finden sind.
Trotzdem wird naturlich alles gegessen. Wenn wirklich einer mal so
reich ist, nicht leerfuttern zu brauchen, stehen zehn andere da, die es ihm
gern abnehmen. Nur die Reste, die der Luffel nicht mehr erreicht, werden
ausgespult und in die Abfalltonnen geschuttet. Dazu kommen dann manchmal
einige Steckrubenschalen, verschimmelte Brotrinden und allerlei Dreck.
Dieses dunne, trube, schmutzige Wasser ist das Ziel der Gefangenen. Sie
schupfen es gierig aus den stinkenden Tonnen und tragen es unter ihren
Blusen fort.
Es ist sonderbar, diese unsere Feinde so nahe zu sehen. Sie haben
Gesichter, die nachdenklich machen, gute Bauerngesichter, breite Stirnen,
breite Nasen, breite Lippen, breite Hunde, wolliges Haar. Man mußte
sie zum Pflugen und Muhen und Apfelpflucken verwenden. Sie sehen noch
gutmutiger aus als unsere Bauern in Friesland.
Es ist traurig, ihre Bewegungen, ihr Betteln um etwas Essen zu sehen.
Sie sind alle ziemlich schwach, denn sie erhalten gerade so viel, daß
sie nicht verhungern. Wir selbst bekommen ja lungst nicht satt zu essen. Sie
haben Ruhr, mit ungstlichen Blicken zeigen manche verstohlen blutige
Hemdzipfel heraus. Ihre Rucken, ihre Nacken sind gekrummt, die Knie
geknickt, der Kopf blickt schief von unten herauf, wenn sie die Hand
ausstrecken und mit den wenigen Worten, die sie kennen, betteln, - betteln
mit diesen weichen, leisen Bussen, die wie warme ufen und Heimatstuben sind.
Es gibt Leute, die ihnen einen Tritt geben, daß sie umfallen; -
aber das sind nur wenig. Die meisten tun ihnen nichts, sie gehen an ihnen
vorbei. Mitunter wenn sie sehr elend sind allerdings, gerut man daruber in
Wut und versetzt ihnen dann einen Tritt. Wenn sie einen nur nicht so ansehen
wollten, - was fur ein Jammer in zwei so kleinen Flecken sitzen kann, die
man mit dem Daumen schon zuhalten kann: in den Augen.
Abends kommen sie in die Baracken und handeln. Sie tauschen alles, was
sie haben, gegen Brot ein. Es gelingt ihnen manchmal, denn sie haben gute
Stiefel, unsere aber sind schlecht. Das Leder ihrer hohen Schaftstiefel ist
wunderbar weich, wie Juchten. Die Bauernsuhne bei uns, die von zu Hause
Fettigkeiten geschickt erhalten, kunnen sie sich leisten. Der Preis fur ein
Paar Stiefel ist ungefuhr zwei bis drei Kommißbrote oder ein
Kommißbrot und eine kleinere harte Mettwurst.
Aber fast alle Russen haben lungst ihre Sachen abgegeben, die sie
hatten. Sie tragen nur noch erburmliches Zeug und versuchen kleine
Schnitzereien und Gegenstunde, die sie aus Granatsplittern und Stucken von
kupfernen Fuhrungsringen gemacht haben, zu tauschen. Diese Sachen bringen
naturlich nicht viel ein, wenn sie auch allerhand Muhe gemacht haben - sie
gehen fur ein paar Scheiben Brot bereits weg. Unsere Bauern sind zuh und
schlau, wenn sie handeln. Sie halten dem Russen das Stuck Brot oder Wurst so
lange dicht unter die Nase, bis er vor Gier blaß wird und die Augen
verdreht, dann ist ihm alles egal. Sie aber verpacken ihre Beute mit all der
Umstundlichkeit, deren sie fuhig sind, holen ihr dickes Taschenmesser
heraus, schneiden langsam und beduchtig fur sich selber einen Ranken Brot
von ihrem Vorrat ab und dazu bei jedem Happen ein Stuck von der harten guten
Wurst und futtern, sich zur Belohnung. Es ist aufreizend, sie so vespern zu
sehen, man muchte ihnen auf die dicken Schudel trommeln. Sie geben selten
etwas ab. Man kennt sich ja auch zuwenig.
Ich bin ufter auf Wache bei den Russen. In der Dunkelheit sieht man
ihre Gestalten sich bewegen, wie kranke Sturche, wie große Vugel. Sie
kommen dicht an das Gitter heran und legen ihre Gesichter dagegen, die
Finger sind in die Maschen gekrallt. Oft stehen viele nebeneinander. So
atmen sie den Wind, der von der Heide und den Wuldern herkommt.
Selten sprechen sie, und dann nur wenige Worte. Sie sind menschlicher
und, ich muchte fast glauben, bruderlicher zueinander als wir hier. Aber das
ist vielleicht nur deshalb, weil sie sich unglucklicher fuhlen als wir.
Dabei ist fur sie doch der Krieg zu Ende. Doch auf die Ruhr zu warten, ist
ja auch kein Leben.
Die Landsturmleute, die sie bewachen, erzuhlen, daß sie anfangs
lebhafter waren. Sie hatten, wie das immer ist, Verhultnisse untereinander,
und es soll oft mit Fuusten und Messern dabei zugegangen sein. Jetzt sind
sie schon ganz stumpf und gleichgultig, die meisten onanieren nicht einmal
mehr, so schwach sind sie, obschon es doch damit sonst oft so schlimm ist,
daß sie es sogar barackenweise tun.
Sie stehen am Gitter; manchmal schwankt einer fort, dann ist bald ein
anderer an seiner Stelle in der Reihe. Die meisten sind still; nur einzelne
betteln um das Mundstuck einer ausgerauchten Zigarette.
Ich sehe ihre dunklen Gestalten. Ihre Barte wehen im Winde. Ich
weiß nichts von ihnen, als daß sie Gefangene sind, und gerade
das erschuttert mich. Ihr Leben ist namenlos und ohne Schuld; - wußte
ich mehr von ihnen, wie sie heißen, wie sie leben, was sie erwarten,
was sie bedruckt, so hutte meine Erschutterung ein Ziel und kunnte zu
Mitleid werden. Jetzt aber empfinde ich hinter ihnen nur den Schmerz der
Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der
Menschen.
Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unsern Feinden gemacht; ein
Befehl kunnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird
ein Schriftstuck von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt,
und jahrelang ist unser huchstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der
Welt und ihre huchste Strafe ruht. Wer kann da noch unterscheiden, wenn er
diese stillen Leute hier sieht mit den kindlichen Gesichtern und den
Apostelburten! Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem
Schuler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch wurden wir wieder auf
sie schießen und sie auf uns, wenn sie frei wuren.
Ich erschrecke; hier darf ich nicht weiterdenken. Dieser Weg geht in
den Abgrund. Es ist noch nicht die Zeit dazu; aber ich will den Gedanken
nicht verlieren, ich will ihn bewahren, ihn fortschließen, bis der
Krieg zu Ende ist. Mein Herz klopft: ist hier das Ziel, das Große, das
Einmalige, an das ich im Graben gedacht habe, das ich suchte als
Daseinsmuglichkeit nach dieser Katastrophe aller Menschlichkeit, ist es eine
Aufgabe fur das Leben nachher, wurdig der Jahre des Grauens?
Ich nehme meine Zigaretten heraus, breche jede in zwei Teile und gebe
sie den Russen. Sie verneigen sich und zunden sie an. Nun glimmen in einigen
Gesichtern rote Punkte. Sie trusten mich; es sieht aus, als wuren es kleine
Fensterchen in dunklen Dorfhuusern, die verraten, daß dahinter Zimmer
voll Zuflucht sind.
Die Tage gehen hin. An einem nebeligen Morgen wird wieder ein Russe
begraben; es sterben ja jetzt fast tuglich welche. Ich bin gerade aufWache,
als er beerdigt wird. Die Gefangenen singen einen Choral, sie singen
vielstimmig, und es klingt, als wuren es kaum noch Stimmen, als wure es eine
Orgel, die fern in der Heide steht.
Die Beerdigung geht schnell.
Abends stehen sie wieder am Gitter, und der Wind kommt von den
Birkenwuldern zu ihnen. Die Sterne sind kalt. Ich kenne jetzt einige von
ihnen, die ziemlich gut Deutsch sprechen. Ein Musiker ist dabei, er erzuhlt,
daß er Geiger in Berlin gewesen sei. Als er hurt, daß ich etwas
Klavier spielen kann, holt er seine Geige und spielt.
Die andern setzen sich und lehnen die Rucken an das Gitter. Er steht
und spielt, oft hat er den verlorenen Ausdruck, den Geiger haben, wenn sie
die Augen schließen, dann wieder bewegt er das Instrument im Rhythmus
und luchelt mich an.
Er spielt wohl Volkslieder; denn die anderen summen mit. Es sind dunkle
Hugel, die tief unterirdisch summen. Die Geigenstimme steht wie ein
schlankes Mudchen daruber und ist hell und allein. Die Stimmen huren auf,
und die Geige bleibt - sie ist dunn in der Nacht, als friere sie; man
muß dicht danebenstehen, es wure in einem Raum wohl besser; - hier
draußen wird man traurig, wenn sie so allein umherirrt.
Ich bekomme keinen Urlaub uber Sonntag, weil ich ja erst grußeren
Urlaub gehabt habe. Am letzten Sonntag vor der Abfahrt sind deshalb mein
Vater und meine ulteste Schwester zu Besuch bei mir. Wir sitzen den ganzen
Tag im Soldatenheim. Wo sollen wir anders hin, in die Baracke wollen wir
nicht gehen. Mittags machen wir einen Spaziergang in die Heide.
Die Stunden quulen sich hm; wir wissen nicht, woruber wir reden sollen.
So sprechen wir uber die Krankheit meiner Mutter. Es ist nun bestimmt Krebs,
sie liegt schon im Krankenhaus und wird demnuchst operiert. Die urzte
hoffen, daß sie gesund wird, aber wir haben noch nie gehurt, daß
Krebs geheilt worden ist.
"Wo liegt sie denn?" frage ich.
"Im Luisenhospital", sagt mein Vater.
"In welcher Klasse?"
"Dritter. Wir mussen abwarten, was die Operation kostet. Sie wollte
selbst dritter liegen. Sie sagte, dann hutte sie etwas Unterhaltung. Es ist
auch billiger."
"Dann liegt sie doch mit so vielen zusammen. Wenn sie nur nachts
schlafen kann."
Mein Vater nickt. Sein Gesicht ist abgespannt und voll Furchen. Meine
Mutter ist viel krank gewesen; sie ist zwar nur ins Krankenhaus gegangen,
wenn sie gezwungen wurde, trotzdem hat es viel Geld fur uns gekostet, und
das Leben meines Vaters ist eigentlich
daruber hingegangen. "Wenn man bloß wußte, wieviel die
Operation kostet", sagt er.
"Habt ihr nicht gefragt?"
"Nicht direkt; das kann man nicht - wenn der Arzt dann unfreundlich
wird, das geht doch nicht, weil er Mutter doch operieren soll."
Ja, denke ich bitter, so sind wir, so sind sie, die armen Leute. Sie
wagen nicht nach dem Preise zu fragen und sorgen sich eher furchtbar
daruber; aber die andern, die es nicht nutig haben, die finden es
selbstverstundlich, vorher den Preis festzulegen. Bei ihnen wird der Arzt
auch nicht unfreundlich sein.
"Die Verbunde hinterher sind auch so teuer", sagt mein Vater.
"Zahlt denn die Krankenkasse nichts dazu?" frage ich.
"Mutter ist schon zu lange krank."
"Habt ihr denn etwas Geld?"
Er schuttelt den Kopf. "Nein. Aber ich kann jetzt wieder uberstunden
machen."
Ich weiß: er wird bis zwulf Uhr nachts an seinem Tisch stehen und
falzen und kleben und schneiden. Um acht Uhr abends wird er etwas essen von
diesem kraftlosen Zeug, das sie auf Karte beziehen. Hinterher wird er ein
Pulver gegen seine Kopfschmerzen einnehmen und weiterarbeiten.
Um ihn etwas aufzuheitern, erzuhle ich ihm einige Geschichten, die mir
gerade einfallen, Soldatenwitze und so etwas, von Generalen und Feldwebeln,
die irgendwann mal 'reingelegt wurden.
Nachher bringe ich beide zur Bahnstation. Sie geben mir ein Glas
Marmelade und ein Paket Kartoffelpuffer, die meine Mutter noch fur mich
gebacken hat.
Dann fahren sie ab, und ich gehe zuruck.
Abends streiche ich mir von der Marmelade auf die Pufferund esse davon.
Es will mir nicht schmecken. So gehe ich hinaus, um den Russen die Puffer zu
geben. Dann fullt mir ein, daß meine Mutter sie selbst gebacken hat
und daß sie vielleicht Schmerzen gehabt hat, wuhrend sie am
heißen Herd stand. Ich lege das Paket zuruck in meinen Tornister und
nehme nur zwei Stuck davon mit zu den Russen.
9
Wir fahren einige Tage. Die ersten Flieger erscheinen am Himmel. Wir
rollen an Transportzugen voruber. Geschutze, Geschutze. Die Feldbahn
ubernimmt uns. Ich suche mein Regiment. Niemand weiß, wo es gerade
liegt. Irgendwo ubernachte ich, irgendwo empfange ich morgens Proviant und
einige vage Instruktionen. So mache ich mich mit meinem Tornister und meinem
Gewehr wieder auf den Weg. Als ich ankomme, ist keiner von uns mehr in dem
zerschossenen Ort. Ich hure, daß wir zu einer fliegenden Division
geworden sind, die uberall eingesetzt wird, wo es brenzlig ist. Das stimmt
mich nicht heiter. Man erzuhlt mir von großen Verlusten, die wir
gehabt haben sollen. Ich forsche nach Kat und Albert. Es weiß niemand
etwas von ihnen.
Ich suche weiter und irre umher, das ist ein wunderliches Gefuhl. Noch
eine Nacht und eine zweite kampiere ich wie ein Indianer. Dann habe ich
bestimmte Nachricht und kann mich nachmittags auf der Schreibstube melden.
Der Feldwebel behult mich da. Die Kompanie kommt in zwei Tagen zuruck,
es hat keinen Zweck mehr, mich hinauszuschicken. "Wie war's im Urlaub?"
fragt er. "Schun, was?"
"Teils, teils", sage ich.
"Jaja", seufzt er, "wenn man nicht wieder weg mußte. Die zweite
Hulfte wird dadurch immer schon verpfuscht."
Ich lungere umher, bis die Kompanie morgens einruckt, grau, schmutzig,
verdrossen und trube. Da springe ich auf und drunge mich zwischen sie, meine
Augen suchen, dort ist Tjaden, da schnaubt Muller, und da sind auch Kat und
Kropp. Wir machen uns unsere Strohsucke nebeneinander zurecht. Ich fuhle
mich schuldbewußt, wenn ich sie ansehe, und habe doch keinen Grund
dazu. Bevor wir schlafen, hole ich den Rest der Kartoffelpuffer und der
Marmelade heraus, damit sie auch etwas haben.
Die beiden uußeren Puffer sind angeschimmelt, man kann sie aber
noch essen. Ich nehme sie fur mich und gebe die frischeren Kat und Kropp.
Kat kaut und fragt: "Die sind wohl von Muttern?"
Ich nicke.
"Gut", sagt er, "das schmeckt man heraus."
Fast kunnte ich weinen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Doch es wird
schon wieder besser werden, hier mit Kat und Alben und den ubrigen. Hier
gehure ich hin.
"Du hast Gluck gehabt", flustert Kropp mir noch beim Einschlafen zu,
"es heißt, wir kommen nach Rußland." Nach Rußland. Da ist
ja kein Krieg mehr.
In der Ferne donnert die Front. Die Wunde der Baracken klirren.
Es wird muchtig geputzt. Ein Appell jagt den andern. Von allen Seiten
werden wir revidiert. Was zerrissen ist, wird umgetauscht gegen gute Sachen.
Ich erwische dabei einen tadellosen neuen Rock, Kat naturlich sogar eine
volle Montur. Das Gerucht taucht auf, es gube Frieden, doch die andere
Ansicht ist wahrscheinlicher: daß wir nach Rußland verladen
werden. Aber wozu brauchen wir in Rußland bessere Sachen? Endlich
sickert es durch: der Kaiser kommt zur Besichtigung. Deshalb die vielen
Musterungen.
Acht Tage lang kunnte man glauben, in einer Rekrutenkaserne zu sitzen,
so wird gearbeitet und exerziert. Alles ist verdrossen und nervus, denn
ubermußiges Putzen ist nichts fur uns und Parademarsch noch weniger.
Gerade solche Sachen verurgern den Soldaten mehr als der Schutzengraben.
Endlich ist der Augenblick da. Wir stehen stramm, und der Kaiser erscheint.
Wir sind neugierig, wie er aussehen mag. Er schreitet die Front entlang, und
ich bin eigentlich etwas enttuuscht: nach den Bildern hatte ich ihn mir
grußer und muchtiger vorgestellt, vor allen Dingen mit einer
donnernderen Stimme.
Er verteilt Eiserne Kreuze und spricht diesen und jenen an. Dann ziehen
wir ab.
Nachher unterhalten wir uns. Tjaden sagt staunend: "Das ist nun der
Alleroberste, den es gibt. Davor muß darin doch jeder strammstehen,
jeder uberhaupt!" Er uberlegt: "Davor muß doch auch Hindenburg
strammstehen, was?"
"Jawoll", bestutigt Kat.
Tjaden ist noch nicht fertig. Er denkt eine Zeitlang nach und fragt:
"Muß ein Kunig vor einem Kaiser auch strammstehen?"
Keiner weiß das genau, aber wir glauben es nicht. Die sind beide
schon so hoch, daß es da sicher kein richtiges Strammstehen mehr gibt.
"Was du dir fur einen Quatsch ausbrutest", sagt Kat. "Die Hauptsache
ist, daß du selber strammstehst."
Aber Tjaden ist vullig fasziniert. Seine sonst sehr trockene Phantasie
arbeitet sich Blasen.
"Sieh mal", verkundet er, "ich kann einfach nicht begreifen, daß
ein Kaiser auch genauso zur Latrine muß wie ich."
"Darauf kannst du Gift nehmen", lacht Kropp.
"Verruckt und drei sind sieben", ergunzt Kat, "du hast Luuse im
Schudel, Tjaden, geh du nur selbst rasch los zur Latrine, damit du einen
klaren Kopp kriegst und nicht wie ein Wickelkind redest."
Tjaden verschwindet.
"Eins muchte ich aber doch noch wissen", sagt Albert, "ob es Krieg
gegeben hutte, wenn der Kaiser nein gesagt hutte."
"Das glaube ich sicher", werfe ich ein, - "er soll ja sowieso erst gar
nicht gewollt haben."
"Na, wenn er allein nicht, dann vielleicht doch, wenn so zwanzig,
dreißig Leute in der Welt nein gesagt hutten."
"Das wohl", gebe ich zu, "aber die haben ja gerade gewollt."
"Es ist komisch, wenn man sich das uberlegt", fuhrt Kropp fort, "wir
sind doch hier, um unser Vaterland zu verteidigen. Aber die Franzosen sind
doch auch da, um ihr Vaterland zu verteidigen. Wer hat nun recht?"
"Vielleicht beide", sage ich, ohne es zu glauben.
"Ja, nun", meint Albert, und ich sehe ihm an, daß er mich in die
Enge treiben will, "aber unsere Professoren und Pasture und Zeitungen sagen,
nur wir hutten recht, und das wird ja hoffentlich auch so sein; - aber die
franzusischen Professoren und Pasture und Zeitungen behaupten, nur sie
hutten recht, wie steht es denn damit?"
"Das weiß ich nicht", sage ich, "auf jeden Fall ist Krieg, und
jeden Monat kommen mehr Lunder dazu."
Tjaden erscheint wieder. Er ist noch immer angeregt und greift sofort
wieder in das Gespruch ein, indem er sich erkundigt, wie eigentlich ein
Krieg entstehe.
"Meistens so, daß ein Land ein anderes schwer beleidigt", gibt
Albert mit einer gewissen uberlegenheit zur Antwort.
Doch Tjaden stellt sich dickfellig. "Ein Land? Das verstehe ich nicht.
Ein Berg in Deutschland kann doch einen Berg in Frankreich nicht beleidigen.
Oder ein Fluß oder ein Wald oder ein Weizenfeld."
"Bist du so dumlich oder tust du nur so?" knurrt Kropp. "So meine ich
das doch nicht. Ein Volk beleidigt das andere -"
"Dann habe ich hier nichts zu suchen", erwidert Tjaden, "ich fuhle mich
nicht beleidigt."
"Dir soll man nun was erkluren", sagt Albert urgerlich, "auf dich
Dorfdeubel kommt es doch dabei nicht an."
"Dann kann ich ja erst recht nach Hause gehen", beharrt Tjaden, und
alles lacht.
"Ach, Mensch, es ist doch das Volk als Gesamtheit, also der Staat -",
ruft Muller.
"Staat, Staat" - Tjaden schnippt schlau mit den Fingern -,
"Feldgendarmen, Polizei, Steuer, das ist euer Staat. Wenn du damit zu
tun hast, danke schun."
"Das stimmt", sagt Kat, "da hast du zum ersten Male etwas Richtiges
gesagt, Tjaden, Staat und Heimat, da ist wahrhaftig ein Unterschied."
"Aber sie gehuren doch zusammen", uberlegt Kropp, "eine Heimat ohne
Staat gibt es nicht."
"Richtig, aber bedenk doch mal, daß wir fast alle einfache Leute
sind. Und in Frankreich sind die meisten Menschen doch auch Arbeiter,
Handwerker oder kleine Beamte. Weshalb soll nun wohl ein franzusischer
Schlosser oder Schuhmacher uns angreifen wollen? Nein, das sind nur die
Regierungen. Ich habe nie einen Franzosen gesehen, bevor ich hierherkam, und
den meisten Franzosen wird es uhnlich mit uns gehen. Die sind ebensowenig
gefragt wie
wir."
"Weshalb ist dann uberhaupt Krieg?" fragt Tjaden.
Kat zuckt die Achseln. "Es muß Leute geben, denen der Krieg
nutzt."
"Na, ich gehure nicht dazu", grinst Tjaden.
"Du nicht, und keiner hier."
"Wer denn nur?" beharrte Tjaden. "Dem Kaiser nutzt er doch auch nicht.
Der hat doch alles, was er braucht."
"Das sag nicht", entgegnet Kat, "einen Krieg hat er bis jetzt noch
nicht gehabt. Und jeder grußere Kaiser braucht mindestens einen Krieg,
sonst wird er nicht beruhmt. Sieh mal in deinen Schulbuchern nach."
"Generule werden auch beruhmt durch den Krieg", sagt Detering.
"Noch beruhmter als Kaiser", bestutigt Kat.
"Sicher stecken andere Leute, die am Krieg verdienen wollen, dahinter",
brummt Detering.
"Ich glaube, es ist mehr eine Art Fieber", sagt Albert. "Keiner will es
eigentlich, und mit einem Male ist es da. Wir haben den Krieg nicht gewollt,
die andern behaupten dasselbe - und trotzdem ist die halbe Welt feste
dabei."
"Druben wird aber mehr gelogen als bei uns", erwidere ich, "denkt mal
an die Flugblutter der Gefangenen, in denen stand, daß wir belgische
Kinder frußen. Die Kerle, die so was schreiben, sollten sie aufhungen.
Das sind die wahren Schuldigen."
Muller steht auf. "Besser auf jeden Fall, der Krieg ist hier als in
Deutschland. Seht euch mal die Trichterfelder an!"
"Das stimmt", pflichtet selbst Tjaden bei, "abernoch besser ist gar
kein Krieg."
Er geht stolz davon, denn er hat es uns Einjuhrigen nun mal gegeben.
Und seine Meinung ist tatsuchlich typisch hier, man begegnet ihr immer
wieder und kann auch nichts Rechtes darauf entgegnen, weil mit ihr
gleichzeitig das Verstundnis fur andere Zusammenhunge aufhurt. Das
Nationalgefuhl des Muskoten besteht darin, daß er hier ist. Aber damit
ist es auch zu Ende, alles andere beurteilt er praktisch und aus seiner
Einstellung heraus.
Albert legt sich urgerlich ins Gras. "Besser ist, uber den ganzen Kram
nicht zu reden."
"Wird ja auch nicht anders dadurch", bestutigt Kat.
Zum uberfluß mussen wir die neu empfangenen Sachen fast alle
wieder abgeben und erhalten unsere alten Brocken wieder. Die guten waren nur
zur Parade da.
Statt nach Rußland gehen wir wieder an die Front. Unterwegs
kommen wir durch einen kluglichen Wald mit zerrissenen Stummen und
zerpflugtem Boden. An einigen Stellen sind furchtbare Lucher. "Donnerwetter,
da hat es aber eingehauen", sage ich zu Kat.
"Minenwerfer", antwortet er und zeigt dann nach oben. In den usten
hungen Tote. Ein nackter Soldat hockt in einer Stammgabelung, er hat seinen
Helm noch auf dem Kopf, sonst ist er unbekleidet. Nur eine Hulfte sitzt von
ihm dort oben, ein Oberkurper, dem die Beine fehlen.
"Was ist da los gewesen?" frage ich.
"Den haben sie aus dem Anzug gestoßen", knurrt Tjaden.
Kat sagt: "Es ist komisch, wir haben das nun schon ein paarmal gesehen.
Wenn so eine Mine einwichst, wird man tatsuchlich richtig aus dem Anzug
gestoßen. Das macht der Luftdruck."
Ich suche weiter. Es ist wirklich so. Dort hungen Uniformfetzen allein,
anderswo klebt blutiger Brei, der einmal menschliche Glieder war. Ein Kurper
liegt da, der nur an einem Bein noch ein Stuck Unterhose und um den Hals den
Kragen des Waffenrockes hat. Sonst ist er nackt, der Anzug hungt im Baum
herum. Beide Arme fehlen, als wuren sie herausgedreht. Einen davon entdecke
ich zwanzig Schritt weiter im Gebusch.
Der Tote liegt auf dem Gesicht. Da, wo die Armwunden sind, ist die Erde
schwarz von Blut. Unter den Fußen ist das Laub zerkratzt, als hutte
der Mann noch gestrampelt.
"Kein Spaß, Kat", sage ich.
"Ein Granatsplitter im Bauch auch nicht", antwortet er achselzuckend.
"Nur nicht weich werden", meint Tjaden.
Das Ganze kann nicht lange her sein, das Blut ist noch frisch. Da alle
Leute, die wir sehen, tot sind, lassen wir uns nicht aufhalten, sondern
melden die Sache bei der nuchsten Sanitutsstation. Schließlich ist es
ja auch nicht unsere Angelegenheit, diesen Tragbahrenhengsten die Arbeit
abzunehmen.
Es soll eine Patrouille ausgeschickt werden, um festzustellen, wie weit
die feindliche Stellung noch besetzt ist. Ich habe wegen meines Urlaubs
irgendein sonderbares Gefuhl den andern gegenuber und melde mich deshalb
mit. Wir verabreden den Plan, schleichen durch den Draht und trennen uns
dann, um einzeln vorzukriechen. Nach einer Weile finde ich einen flachen
Trichter, in den ich mich hineingleiten lasse. Von hier luge ich aus.
Das Gelunde hat mittleres Maschinengewehrfeuer. Es wird von allen
Seiten bestrichen, nicht sehr stark, aber immerhin genugend, um die Knochen
nicht allzu hoch zu nehmen.
Ein Leuchtschirm entfaltet sich. Das Terrain liegt erstarrt im fahlen
Lichte da. Um so schwurzer schlugt hinterher die Dunkelheit wieder daruber
zusammen. Im Graben haben sie vorhin erzuhlt, es wuren Schwarze vor uns. Das
ist unangenehm, man kann sie schlecht sehen, außerdem sind sie als
Patrouillen sehr geschickt. Sonderbarerweise sind sie oft ebenso
unvernunftig; - sowohl Kat als auch Kropp haben einmal auf Patrouille eine
schwarze Gegenpatrouille erschossen, weil die Leute in ihrer Gier nach
Zigaretten unterwegs rauchten. Kat und Albert brauchten nur die glimmenden
Zigarettenkupfe als Ziel zu visieren.
Neben mir zischt eine kleine Granate ein. Ich habe sie nicht kommen
gehurt und erschrecke heftig. Im gleichen Augenblick faßt mich eine
sinnlose Angst. Ich bin hier allein und fast hilflos im Dunkeln - vielleicht
beobachten mich lungst aus einem Trichter hervor zwei andere Augen, und eine
Handgranate liegt wurffertig bereit, mich zu zerreißen. Ich versuche
mich aufzuraffen. Es ist nicht meine erste Patrouille und auch keine
besonders gefuhrliche. Aber es ist meine erste nach dem Urlaub, und
außerdem ist das Gelunde mir noch ziemlich fremd.
Ich mache mir klar, daß meine Aufregung Unsinn ist, daß im
Dunkel wahrscheinlich gar nichts lauert, weil sonst nicht so flach
geschossen wurde.
Es ist vergeblich. In wirrem Durcheinander summen mir die Gedanken im
Schudel - ich hure die warnende Stimme meiner Mutter, ich sehe die Russen
mit den wehenden Barten am Gitter lehnen, ich habe die helle, wunderbare
Vorstellung einer Kantine mit Sesseln, eines Kinos in Valenciennes, ich sehe
quulend, scheußlich in meiner Einbildung eine graue gefuhllose
Gewehrmundung, die lauernd lautlos mitgeht, wie ich auch den Kopf zu wenden
versuche: mir bricht der Schweiß aus allen Poren.
Immer noch liege ich in meiner Mulde. Ich sehe auf die Uhr; es sind
erst wenige Minuten vergangen. Meine Stirn ist naß, meine Augenhuhlen
sind feucht, die Hunde zittern, und ich keuche leise. Es ist nichts anderes
als ein furchtbarer Angstanfall, eine einfach gemeine Hundeangst davor, den
Kopf herauszustrecken und weiterzukriechen.
Wie ein Brei zerquillt meine Anspannung zu dem Wunsch, liegenbleiben zu
kunnen. Meine Glieder kleben am Boden, ich mache einen vergeblichen Versuch
- sie wollen sich nicht lusen. Ich presse mich an die Erde, ich kann nicht
vorwurts, ich fasse den Entschluß, liegenzubleiben.
Aber sofort uberspult mich die Welle erneut, eine Welle aus Scham, Reue
und doch auch Geborgenheit. Ich erhebe mich ein wenig, um Ausschau zu
halten. Meine Augen brennen, so starre ich in das Dunkel. Eine Leuchtkugel
geht hoch; - ich ducke mich wieder.
Ich kumpfe einen sinnlosen, wirren Kampf, ich will aus der Mulde heraus
und rutsche doch wieder hinein, ich sage, "du mußt, es sind deine
Kameraden, es ist ja nicht irgendein dummer Befehl", - und gleich darauf:
"Was geht es mich an, ich habe nur ein Leben zu verlieren -"
Das macht alles dieser Urlaub, entschuldige ich mich erbittert. Aber
ich glaube es selbst nicht, mir wird entsetzlich flau, ich erhebe mich
langsam und stemme die Arme vor, ziehe den Rucken nach und liege jetzt halb
auf dem Rande des Trichters.
Da vernehme ich Geruusche und zucke zuruck. Man hurt trotz des
Artillerielurms verduchtige Geruusche. Ich lausche - das Geruusch ist hinter
mir. Es sind Leute von uns, die durch den Graben gehen. Nun hure ich auch
gedumpfte Stimmen. Es kunnte dem Tone nach Kat sein, der da spricht.
Eine ungemeine Wurme durchflutet mich mit einemmal. Diese Stimmen,
diese wenigen, leisen Worte, diese Schritte im Graben hinter mir
reißen mich mit einem Ruck aus der furchterlichen Vereinsamung der
Todesangst, der ich beinahe verfallen wure. Sie sind mehr als mein Leben,
diese Stimmen, sie sind mehr als Mutterlichkeit und Angst, sie sind das
Sturkste und Schutzendste, was es uberhaupt gibt: es sind die Stimmen meiner
Kameraden.
Ich bin nicht mehr ein zitterndes Stuck Dasein allein im Dunkel - ich
gehure zu ihnen und sie zu mir, wir haben alle die gleiche Angst und das
gleiche Leben, wir sind verbunden auf eine einfache und schwere Art. Ich
muchte mein Gesicht in sie hineindrucken, in die Stimmen, diese paar Worte,
die mich gerettet haben und die mir beistehen werden.
Vorsichtig gleite ich uber den Rand und schlungele mich vorwurts. Auf
allen vieren schlurfe ich weiter; es geht gut, ich peile die Richtung an,
schaue mich um und merke mir das Bild des Geschutzfeuers, um zuruckzufinden.
Dann suche ich Anschluß an die andern zu bekommen.
Immer noch habe ich Angst, aber es ist eine vernunftige Angst, eine
außerordentlich gesteigerte Vorsicht. Die Nacht ist windig, und
Schatten gehen hin und her beim Aufflackern des Mundungsfeuers. Man sieht
dadurch zu wenig und zu viel. Oft erstarre ich, aber es ist immer nichts. So
komme ich ziemlich weit vor und kehre dann im Bogen wieder um. Den
Anschluß habe ich nicht gefunden. Jeder Meter nuher zu unserm Graben
erfullt mich mit Zuversicht - allerdings auch mit grußerer Hast. Es
wure nicht schun, jetzt noch eins verpaßt zu kriegen.
Da durchfuhrt mich ein neuer Schreck. Ich kann die Richtung nicht mehr
genau wiedererkennen. Still hocke ich mich in einen Trichter und versuche
mich zu orientieren. Es ist mehr als einmal vorgekommen, daß jemand
vergnugt in einen Graben sprang und dann erst entdeckte, daß es der
falsche war.
Nach einiger Zeit horche ich wieder. Immer noch bin ich nicht richtig.
Das Trichtergewirr erscheint mir jetzt so unubersichtlich, daß ich vor
Aufregung uberhaupt nicht mehr weiß, wohin ich mich wenden soll.
Vielleicht krieche ich parallel zu den Gruben, das kann ja endlos dauern.
Deshalb schlage ich wieder einen Haken.
Diese verfluchten Leuchtschirme! Sie scheinen eine Stunde zu brennen,
man kann keine Bewegung machen, ohne daß es gleich um einen herum
pfeift.
Doch es hilft nichts, ich muß heraus. Stockend arbeite ich mich
weiter, ich krebse uber den Boden weg und reiße mir die Hunde wund an
den zackigen Splittern, die scharf wie Rasiermesser sind. Manchmal habe ich
den Eindruck, als wenn der Himmel etwas heller wurde am Horizont, doch das
kann auch Einbildung sein. Allmuhlich aber merke ich, daß ich um mein
Leben krieche.
Eine Granate knallt. Gleich darauf zwei andere. Und schon geht es los.
Ein Feueruberfall. Maschinengewehre knattern. Jetzt gibt es vorluufig nichts
anderes, als liegenzubleiben. Es scheint ein Angriff zu werden. uberall
steigen Leuchtraketen. Ununterbrochen.
Ich liege gekrummt in einem großen Trichter, die Beine im Wasser
bis zum Bauch. Wenn der Angriff einsetzt, werde ich mich ins Wasser fallen
lassen, so weit es geht, ohne zu ersticken, das Gesicht im Dreck. Ich
muß den toten Mann markieren.
Plutzlich hure ich, wie das Feuer zuruckspringt. Sofort rutsche ich
nach unten ins Grundwasser, den Helm ganz im Genick, den Mund nur so weit
hoch, daß ich knapp Luft habe.
Dann werde ich bewegungslos; - denn irgendwo klirrt etwas, es tappt und
trappst nuher, - in mir ziehen sich alle Nerven eisig zusammen. Es klirrt
uber mich hinweg, der erste Trupp ist vorbei. Ich habe nur den einen
zersprengenden Gedanken gehabt: Was tust du, wenn jemand in deinen Trichter
springt? - Jetzt zerre ich rasch den kleinen Dolch heraus, fasse ihn fest
und verberge ihn mit der Hand wieder im Schlamm. Ich werde sofort
losstechen, wenn jemand hereinspringt, hummert es in meiner Stirn, sofort
die Kehle durchstoßen, damit er nicht schreien kann, es geht nicht
anders, er wird ebenso erschrocken sein wie ich, und schon vor Angst werden
wir ubereinander herfallen, da muß ich der erste sein.
Nun schießen unsere Batterien. In meiner Nuhe schlugt es ein. Das
macht mich irrsinnig wild, es fehlt mir noch, daß mich die eigenen
Geschosse treffen; ich fluche und knirsche in den Dreck hinein; es ist ein
wutender Ausbruch, zuletzt kann ich nur noch stuhnen und bitten.
Das Gekrach der Granaten trifft mein Ohr. Wenn unsere Leute einen
Gegenstoß machen, bin ich befreit. Ich presse den Kopf an die Erde und
hure das dumpfe Donnern wie ferne Bergwerksexplosionen - und hebe ihn
wieder, um auf die Geruusche oben zu lauschen.
Die Maschinengewehre knarren. Ich weiß, daß unsere
Drahtverhaue fest und fast unbeschudigt sind; - ein Teil davon ist mit
Starks