eder. Doch nachdem wir uns wieder in das Bild vertieft haben, erklure ich mich bereit. Ich gehe sogar noch weiter. "Kunnten auch mal sehen, ob wir nicht ein reines Hemd zu fassen kriegen -" Albert meint aus irgendeinem Grunde: "Fußlappen wuren noch besser." "Vielleicht auch Fußlappen. Wir wollen mal ein bißchen spekulieren gehen." Doch da schlendern Leer und Tjaden heran; sie sehen das Plakat, und im Handumdrehen wird die Unterhaltung ziemlich schweinisch. Leer war in unserer Klasse der erste, der ein Verhultnis hatte und davon aufregende Einzelheiten erzuhlte. Er begeistert sich in seiner Weise an dem Bilde, und Tjaden stimmt muchtig ein. Es ekelt uns nicht gerade an. Wer nicht schweinigelt, ist kein Soldat; nur liegt es uns im Moment nicht ganz, deshalb schlagen wir uns seitwurts und marschieren der Entlausungsanstalt zu mit einem Gefuhl, als sei sie ein feines Herrenmodengeschuft. Die Huuser, in denen wir Quartier haben, liegen nahe am Kanal. Jenseits des Kanals sind Teiche, die von Pappelwuldern umstanden sind; - jenseits des Kanals sind auch Frauen. Die Huuser auf unserer Seite sind geruumt worden. Auf der andern jedoch sieht man ab und zu noch Bewohner. Abends schwimmen wir. Da kommen drei Frauen am Ufer entlang. Sie gehen langsam und sehen nicht weg, obschon wir keine Badehosen tragen. Leer ruft zu ihnen hinuber. Sie lachen und bleiben stehen, um uns zuzuschauen. Wir werfen ihnen in gebrochenem Franzusisch Sutze zu, die uns gerade einfallen, alles durcheinander, eilig, damit sie nicht fortgehen. Es sind nicht gerade feine Sachen, aber wo sollen wir die auch herhaben. Eine Schmale, Dunkle ist dabei. Man sieht ihre Zuhne schimmern, wenn sie lacht. Sie hat rasche Bewegungen, der Rock schlugt locker um ihre Beine. Obschon das Wasser kalt ist, sind wir muchtig aufgeruumt und bestrebt, sie zu interessieren, damit sie bleiben. Wir versuchen Witze, und sie antworten, ohne daß wir sie verstehen; wir lachen und winken. Tjaden ist vernunftiger. Er luuft ins Haus, holt ein Kommißbrot und hult es hoch. Das erzielt großen Erfolg. Sie nicken und winken, daß wir hinuberkommen sollen. Aber das durfen wir nicht. Es ist verboten, das jenseitige Ufer zu betreten. uberall stehen Posten an den Brucken. Ohne Ausweis ist nichts zu machen. Wir dolmetschen deshalb, sie muchten zu uns kommen; aber sie schutteln die Kupfe und zeigen auf die Brucken. Man lußt auch sie nicht durch. Sie kehren um, langsam gehen sie den Kanal aufwurts, immer am Ufer entlang. Wir begleiten sie schwimmend. Nach einigen hundert Metern biegen sie ab und zeigen auf ein Haus, das abseits aus Buumen und Gebusch herauslugt. Leer fragt, ob sie dort wohnen. Sie lachen - ja, dort sei ihr Haus. Wir rufen ihnen zu, daß wir kommen wollen, wenn uns die Posten nicht sehen kunnen. Nachts. Diese Nacht. Sie heben die Hunde, legen sie flach zusammen, die Gesichter darauf, und schließen die Augen. Sie haben verstanden. Die Schmale, Dunkle macht Tanzschritte. Eine Blonde zwitschert: "Brot - gut -" Wir bestutigen eifrig, daß wir es mitbringen werden. Auch noch andere schune Sachen, wir rollen die Augen und zeigen sie mit den Hunden. Leer ersuuft fast, als er "ein Stuck Wurst" klarmachen will. Wenn es notwendig wure, wurden wir ihnen ein ganzes Proviantdepot versprechen. Sie gehen und wenden sich noch oft um. Wir klettern an das Ufer auf unserer Seite und achten darauf, ob sie auch in das Haus gehen, denn es kann ja sein, daß sie schwindeln. Dann schwimmen wir zuruck. Ohne Ausweis darf niemand uber die Brucke, deshalb werden wir einfach nachts hinuberschwimmen. Die Erregung packt uns und lußt uns nicht los. Wir kunnen es nicht an einem Fleck aushalten und gehen zur Kantine. Dort gibt es gerade Bier und eine Art Punsch. Wir trinken Punsch und lugen uns phantastische Erlebnisse vor. Jeder glaubt dem andern gern und wartet ungeduldig, um noch dicker aufzutrumpfen. Unsere Hunde sind unruhig, wir paffen ungezuhlte Zigaretten, bis Kropp sagt: "Eigentlich kunnten wir ihnen auch ein paar Zigaretten mitbringen." Da legen wir sie in unsere Mutzen und bewahren sie auf. Der Himmel wird grun wie ein unreifer Apfel. Wir sind zu viert, aber drei kunnen nur mit; deshalb mussen wir Tjaden loswerden und geben Rum und Punsch fur ihn aus, bis er torkelt. Als es dunkel wird, gehen wirunsern Huusern zu. Tjaden in der Mitte. Wir gluhen und sind von Abenteuerlust erfullt. Fur mich ist die Schmale, Dunkle, das haben wir verteilt und ausgemacht. Tjaden fullt auf seinen Strohsack und schnarcht. Einmal wacht er auf und grinst uns so listig an, daß wir schon erschrecken und glauben, er habe gemogelt, und der ausgegebene Punsch sei umsonst gewesen. Dann fullt er zuruck und schluft weiter. Jeder von uns dreien legt ein ganzes Kommißbrot bereit und wickelt es in Zeitungspapier. Die Zigaretten packen wir dazu, außerdem noch drei gute Portionen Leberwurst, die wir heute abend empfangen haben. Das ist ein anstundiges Geschenk. Vorluufig stecken wir die Sachen in unsere Stiefel; denn Stiefel mussen wir mitnehmen, damit wir druben auf dem andern Ufer nicht in Draht und Scherben treten. Da wir vorher schwimmen mussen, kunnen wir weiter keine Kleider brauchen. Es ist ja auch dunkel und nicht weit. Wir brechen auf, die Stiefel in den Hunden. Rasch gleiten wir ins Wasser, legen uns auf den Rucken, schwimmen und halten die Stiefel mit dem Inhalt uber unsere Kupfe. Am andern Ufer klettern wir vorsichtig hinauf, nehmen die Pakete heraus und ziehen die Stiefel an. Die Sachen klemmen wir unter die Arme. So setzen wir uns, naß, nackt, nur mit Stiefeln bekleidet, in Trab. Wir finden das Haus sofort. Es liegt dunkel in den Buschen. Leer fullt uber eine Wurzel und schrammt sich die Ellbogen. "Macht nichts", sagt er fruhlich. Vor den Fenstern sind Luden. Wir umschleichen das Haus und versuchen, durch die Ritzen zu spuhen. Dann werden wir ungeduldig. Kropp zugert plutzlich. "Wenn nun ein Major drinnen bei ihnen ist?" "Dann kneifen wir eben aus", grinst Leer, "er kann unsere Regimentsnummer ja hier lesen", und klatscht sich auf den Hintern. Die Haustur ist offen. Unsere Stiefel machen ziemlichen Lurm. Eine Tur uffnet sich, Licht fullt hindurch, eine Frau stußt erschreckt einen Schrei aus. Wir machen "Pst, pst - camerade - bon ami -" und heben beschwurend unsere Pakete hoch. Die andern beiden sind jetzt auch sichtbar, die Tur uffnet sich ganz, und das Licht bestrahlt uns. Wir werden erkannt, und alle drei lachen unbundig uber unsern Aufzug. Sie biegen und beugen sich im Turrahmen, so mussen sie lachen. Wie geschmeidig sie sich bewegen! "Un moment -." Sie verschwinden und werfen uns Zeugstucke zu, die wir uns notdurftig umwickeln. Dann durfen wir eintreten. Eine kleine Lampe brennt im Zimmer, es ist warm und riecht etwas nach Parfum. Wir packen unsere Pakete aus und ubergeben sie ihnen. Ihre Augen glunzen, man sieht, daß sie Hunger haben. Dann werden wir alle etwas verlegen. Leer macht die Geburde des Essens. Da kommt wieder Leben hinein, sie holen Teller und Messer und fallen uber die Sachen her. Bei jedem Scheibchen Leberwurst heben sie, ehe sie es essen, das Stuck zuerst bewundernd in die Huhe, und wir sitzen stolz dabei. Sie ubersprudeln uns mit ihrer Sprache - wir verstehen nicht viel, aber wir huren, daß es freundliche Worte sind. Vielleicht sehen wir auch sehr jung aus. Die Schmale, Dunkle, streicht mir uber das Haar und sagt, was alle franzusischen Frauen immer sagen: "La guerre - grand malheur - pauvres garuons -" Ich halte ihren Arm fest und lege meinen Mund in ihre Handfluche. Die Finger umschließen mein Gesicht. Dicht uber mir sind ihre erregenden Augen, das sanfte Braun der Haut und die roten Lippen. Der Mund spricht Worte, die ich nicht verstehe. Ich verstehe auch die Augen nicht ganz, sie sagen mehr, als wir erwarteten, da wir hierher kamen. Es sind Zimmer nebenan. Im Gehen sehe ich Leer, er ist mit der Blonden handfest und laut. Er kennt das ja auch. Aber ich - ich bin verloren an ein Fernes, Leises und Ungestumes und vertraue mich ihm an. Meine Wunsche sind sonderbar gemischt aus Verlangen und Versinken. Mir wird schwindelig, es ist nichts hier, woran man sich noch halten kunnte. Unsere Stiefel haben wir vor der Tur gelassen, man hat uns Pantoffeln dafur gegeben, und nun ist nichts mehr da, was mir die Sicherheit und Frechheit des Soldaten zuruckruft: kein Gewehr, kein Koppel, kein Waffenrock, keine Mutze. Ich lasse mich fallen ins Ungewisse, mag geschehen, was will - denn ich habe etwas Angst, trotz allem. Die Schmale, Dunkle bewegt die Brauen, wenn sie nachdenkt; aber sie sind still, wenn sie spricht. Manchmal auch wird der Laut nicht ganz zum Wort und erstickt oder schwingt halbfertig uber mich weg; ein Bogen, eine Bahn, ein Komet. Was habe ich davon gewußt - was weiß ich davon ? - Die Worte dieser fremden Sprache, von der ich kaum etwas begreife, sie schlufern mich ein zu einer Stille, in der das Zimmer braun und halb beglunzt verschwimmt und nur das Antlitz uber mir lebt und klar ist. Wie vielfultig ist ein Gesicht, wenn es fremd war noch vor einer Stunde und jetzt geneigt ist zu einer Zurtlichkeit, die nicht aus ihm kommt, sondern aus der Nacht, der Welt und dem Blut, die in ihm zusammenzustrahlen scheinen. Die Dinge des Raumes werden davon angeruhrt und verwandelt, sie werden besonders, und vor meiner hellen Haut habe ich beinahe Ehrfurcht, wenn der Schein der Lampe daraufliegt und die kuhle braune Hand daruberstreicht. Wie anders ist dies alles als die Dinge in den Mannschaftsbordells, zu denen wir Erlaubnis haben und wo in langer Reihe angestanden wird. Ich muchte nicht an sie denken; aber sie gehen mir unwillkurlich durch den Sinn, und ich erschrecke, denn vielleicht kann man so etwas nie mehr loswerden. Dann aber fuhle ich die Lippen der Schmalen, Dunklen, und drunge mich ihnen entgegen, ich schließe die Augen und muchte alles damit ausluschen, Krieg und Grauen und Gemeinheit, um jung und glucklich zu erwachen; ich denke an das Bild des Mudchens auf dem Plakat und glaube einen Augenblick, daß mein Leben davon abhungt, es zu gewinnen. - Und um so tiefer presse ich mich in die Arme, die mich umfassen, vielleicht geschieht ein Wunder. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Irgendwie finden wir uns alle nachher wieder zusammen. Leer ist sehr forsch. Wir verabschieden uns herzlich und schlupfen in unsere Stiefel. Die Nachtluft kuhlt unsere heißen Kurper. Groß ragen die Pappeln in das Dunkel und rauschen. Der Mond steht am Himmel und im Wasser des Kanals. Wir laufen nicht, wir gehen nebeneinander mit langen Schritten. Leer sagt: "Das war ein Kommißbrot wert!" Ich kann mich nicht entschließen zu sprechen, ich bin gar nicht einmal froh. Da huren wir Schritte und ducken uns hinter einen Busch. Die Schritte kommen nuher, dicht an uns vorbei. Wir sehen einen nackten Soldaten, in Stiefeln, genau wie wir, er hat ein Paket unter dem Arm und sprengt im Galopp vorwurts. Es ist Tjaden in großer Fahrt. Schon ist er verschwunden. Wir lachen. Morgen wird er schimpfen. Unbemerkt gelangen wir zu unseren Strohsucken. Ich werde zur Schreibstube gerufen. Der Kompaniefuhrer gibt mir Urlaubsschein und Fahrschein und wunscht mir gute Reise. Ich sehe nach, wieviel Urlaub ich habe. Siebzehn Tage - vierzehn sind Urlaub, drei Reisetage. Es ist zuwenig, und ich frage, ob ich nicht funf Reisetage haben kann. Bertinck zeigt auf meinen Schein. Da sehe ich erst, daß ich nicht sofort zur Front zuruckkomme. Ich habe mich nach Ablauf des Urlaubs noch zum Kursus im Heidelager zu melden. Die anderen beneiden mich. Kat gibt mir gute Ratschluge, wie ich versuchen soll, Druckpunkt zu nehmen. "Wenn du gerissen bist, bleibst du da hungen." Es wure mir eigentlich lieber gewesen, wenn ich erst in acht Tagen hutte fahren brauchen; denn so lange sind wir noch hier, und hier ist es ja gut. - Naturlich muß ich in der Kantine einen ausgeben. Wir sind alle ein bißchen angetrunken. Ich werde trubselig; es sind sechs Wochen, die ich fortbleiben werde, das ist naturlich ein muchtiges Gluck, aber wie wird es sein, wenn ich zuruckkomme? Werde ich sie hier noch alle wiedertreffen? Haie und Kemmerich sind schon nicht mehr da - wer wird der nuchste sein ? Wir trinken, und ich sehe einen nach dem andern an. Albert sitzt neben mir und raucht, er ist munter, wir sind immer zusammen gewesen; - gegenuber hockt Kat mit den abfallenden Schultern, dem breiten Daumen und der ruhigen Stimme, Muller mit den vorstehenden Zuhnen und dem bellenden Lachen; - Tjaden mit den Mauseaugen; - Leer, der sich einen Vollbart stehen lußt und ausschaut wie vierzig. uber unsern Kupfen schwebt dicker Qualm. Was wure der Soldat ohne Tabak! Die Kantine ist eine Zuflucht, Bier ist mehr als ein Getrunk, es ist ein Zeichen, daß man gefahrlos die Glieder dehnen und recken darf. Wir tun es auch ordentlich, die Beine haben wir lang von uns gestreckt, und wir spucken gemutlich in die Gegend, daß es nur so eine Art hat. Wie einem das alles vorkommt, wenn man morgen abreist! Nachts sind wir noch einmal jenseits des Kanals. Ich habe beinahe Furcht, der Schmalen, Dunklen zu sagen, daß ich fortgehe und daß, wenn ich zuruckkehre, wir sicher irgendwo weiter sind; daß wir uns also nicht wiedersehen werden. Aber sie nickt nur und lußt nicht allzuviel merken. Ich kann das erst gar nicht recht verstehen, dann aber begreife ich. Leer hat schon recht: wure ich an die Front gegangen, dann hutte es wieder geheißen: "pauvre garc.on"; aber ein Urlauber - davon wollen sie nicht viel wissen, das ist nicht so interessant. Mag sie zum Teufel gehen mit ihrem Gesumm und Gerede. Man glaubt an Wunder, und nachher sind es Kommißbrote. Am nuchsten Morgen, nachdem ich entlaust bin, marschiere ich zur Feldbahn. Albert und Kat begleiten mich. Wir huren an der Haltestelle, daß es wohl noch ein paar Stunden dauern wird bis zur Abfahrt. Die beiden mussen zum Dienst zuruck. Wir nehmen Abschied. "Mach's gut, Kat; mach's gut, Albert." Sie gehen und winken noch ein paarmal. Ihre Gestalten werden Meiner. Mir ist jeder Schritt, jede Bewegung an ihnen vertraut, ich wurde sie weithin schon daran erkennen. Dann sind sie verschwunden. Ich setze mich auf meinen Tornister und warte. Plutzlich bin ich von rasender Ungeduld erfullt, fortzukommen. Ich liege auf manchem Bahnhof; ich stehe vor manchem Suppenkessel; ich hocke auf mancher Holzplanke; dann aber wird die Landschaft draußen beklemmend, unheimlich und bekannt. An den abendlichen Fenstern gleitet sie voruber, mit Durfern, in denen Strohducher wie Mutzen tief uber gekalkte Fachwerkhuuser gezogen sind, mit Kornfeldern, die wie Perlmutter im schrugen Licht schimmern, mit Obstgurten und Scheunen und alten Linden. Die Namen der Stationen werden zu Begriffen, bei denen mein Herz zittert. Der Zug stampft und stampft, ich stehe am Fenster und halte mich an den Rahmenhulzern fest. Diese Namen umgrenzen meine Jugend. Flache Wiesen, Felder, Hufe; ein Gespann zieht einsam vor dem Himmel uber den Weg, der parallel zum Horizont luuft. Eine Schranke, vor der Bauern warten, Mudchen, die winken, Kinder, die am Bahndamm spielen, Wege, die ins Land fuhren, glatte Wege, ohne Artillerie. Es ist Abend, und wenn der Zug nicht stampfte, mußte ich schreien. Die Ebene entfaltet sich groß, in schwachem Blau beginnt in der Ferne die Silhouette der Bergrunder aufzusteigen. Ich erkenne die charakteristische Linie des Dolbenberges, diesen gezackten Kamm, der juh abbricht, wo der Scheitel des Waldes aufhurt. Dahinter muß die Stadt kommen. Aber nun fließt das goldrote Licht verschwimmend uber die Welt, der Zug rattert durch eine Kurve und noch eine - und unwirklich, verweht, dunkel stehen die Pappeln darin, weit weg, hintereinander in langer Reihe, gebildet aus Schatten, Licht und Sehnsucht. Das Feld dreht sich mit ihnen langsam vorbei; der Zug umgeht sie, die Zwischenruume verringern sich, sie werden ein Block, und einen Augenblick sehe ich nur eine einzige; dann schieben sich die anderen wieder hinter der vordersten heraus, und sie sind noch lange allein am Himmel, bis sie von den ersten Huusern verdeckt werden. Ein Bahnubergang. Ich stehe am Fenster, ich kann mich nicht trennen. Die andern bereiten ihre Sachen zum Aussteigen vor. Ich spreche den Namen der Straße, die wir uberqueren, vor mich hin, Bremer Straße - Bremer Straße - Radfahrer, Wagen, Menschen sind da unten; es ist eine graue Straße und eine graue Unterfuhrung; - sie ergreift mich, als wure sie meine Mutter. Dann hult der Zug, und der Bahnhof ist da mit Lurm, Rufen und Schildern. Ich packe meinen Tornister auf und mache die Haken fest, ich nehme mein Gewehr in die Hand und stolpere die Tritte hinunter. Auf dem Perron sehe ich mich um; ich kenne niemand von den Leuten, die da hasten. Eine Rote-Kreuz-Schwester bietet mir etwas zu trinken an. Ich wende mich ab, sie luchelt mich zu albern an, so durchdrungen von ihrer Wichtigkeit: Seht nur, ich gebe einem Soldaten Kaffee. - Sie sagt zu mir "Kamerad", das hat mir gerade gefehlt. Draußen vor dem Bahnhof aber rauscht der Fluß neben der Straße, er zischt weiß aus den Schleusen der Muhlenbrucke hervor. Der viereckige alte Wartturm steht daran, und vor ihm die große bunte Linde, und dahinter der Abend. Hier haben wir gesessen, oft - wie lange ist das her -; uber diese Brucke sind wir gegangen und haben den kuhlen, fauligen Geruch des gestauten Wassers eingeatmet; wir haben uns uber die ruhige Flut diesseits der Schleuse gebeugt, in der grune Schlinggewuchse und Algen an den Bruckenpfeilern hingen; - und wir haben uns jenseits der Schleuse an heißen Tagen uber den spritzenden Schaum gefreut und von unseren Lehrern geschwutzt. Ich gehe uber die Brucke, ich schaue rechts und links; das Wasser ist immer noch voll Algen, und es schießt immer noch in hellem Bogen herab; - im Turmgebuude stehen die Plutterinnen wie damals mit bloßen Armen vor der weißen Wusche, und die Hitze der Bugeleisen strumt aus den offenen Fenstern. Hunde trotten durch die schmale Straße, vor den Hausturen stehen Menschen und sehen mir nach, wie ich schmutzig und bepackt vorubergehe. In dieser Konditorei haben wir Eis gegessen und uns im Zigarettenrauchen geubt. In dieser Straße, die an mir vorubergleitet, kenne ich jedes Haus, das Kolonialwarengeschuft, die Drogerie, die Buckerei. Und dann stehe ich vor der braunen Tur mit der abgegriffenen Klinke, und die Hand wird mir schwer. Ich uffne sie; die Kuhle kommt mir wunderlich entgegen, sie macht meine Augen unsicher. Unter meinen Stiefeln knarrt die Treppe. Oben klappt eine Tur, jemand blickt uber das Gelunder. Es ist die Kuchentur, die geuffnet wurde, sie backen dort gerade Kartoffelpuffer, das Haus riecht danach, heute ist ja auch Sonnabend, und es wird meine Schwester sein, die sich herunterbeugt. Ich schume mich einen Augenblick und senke den Kopf, dann nehme ich den Helm ab und sehe hinauf. Ja, es ist meine ulteste Schwester. in "Paul!" ruft sie. "Paul -!" Ich nicke, mein Tornister stußt gegen das Gelunder, mein Gewehr ist so schwer. Sie reißt eine Tur auf und ruft: "Mutter, Mutter, Paul ist da." Ich kann nicht mehr weitergehen. Mutter, Mutter, Paul ist da. Ich lehne mich an die Wand und umklammere meinen Helm und mein Gewehr. Ich umklammere sie, so fest es geht, aber ich kann keinen Schritt mehr machen, die Treppe verschwimmt vor meinen Augen, ich stoße mir den Kolben auf die Fuße und presse zornig die Zuhne zusammen, aber ich kann nicht gegen dieses eine Wort an, das meine Schwester gerufen hat, nichts kann dagegen an, ich quule mich gewaltsam, zu lachen und zu sprechen, aber ich bringe kein Wort hervor, und so stehe ich auf der Treppe, unglucklich, hilflos, in einem furchtbaren Krampf, und will nicht, und die Trunen laufen mir immer nur so uber das Gesicht. Meine Schwester kommt zuruck und fragt: "Was hast du denn?" Da raffe ich mich zusammen und stolpere zum Vorplatz hinauf. Mein Gewehr lehne ich in eine Ecke, den Tornister stelle ich gegen die Wand, und den Helm packe ich darauf. Auch das Koppel mit den Sachen daran muß fort. Dann sage ich wutend: "So gib doch endlich ein Taschentuch her!" Sie gibt mir eins aus dem Schrank, und ich wische mir das Gesicht ab. uber mir an der Wand hungt der Glaskasten mit bunten Schmetterlingen, die ich fruher gesammelt habe. Nun hure ich die Stimme meiner Mutter. Sie kommt aus dem Schlafzimmer. "Ist sie nicht auf?" frage ich meine Schwester. "Sie ist krank -", antwortet sie. Ich gehe hinein zu ihr, gebe ihr die Hand und sage, so ruhig ich kann: "Da bin ich, Mutter." Sie liegt im Halbdunkel. Dann fragt sie angstvoll, und ich fuhle, wie ihr Blick mich abtastet: "Bist du verwundet?" "Nein, ich habe Urlaub." Meine Mutter ist sehr blaß. Ich scheue mich, Licht zu machen. "Da liege ich nun und weine", sagt sie, "anstatt mich zu freuen." "Bist du krank, Mutter?" frage ich. "Ich werde heute etwas aufstehen", sagt sie und wendet sich zu meiner Schwester, die immer auf einen Sprung in die Kuche muß, damit ihr das Essen nicht anbrennt: "Mach auch das Glas mit den eingemachten Preiselbeeren auf, - das ißt du doch gern?" fragt sie mich. "Ja, Mutter, das habe ich lange nicht gehabt." "Als ob wir es geahnt hutten, daß du kommst", lacht mtine Schwester, "gerade dein Lieblingsessen, Kartoffelpuffer, und jetzt sogar mit Preiselbeeren." "Es ist ja auch Sonnabend", antworte ich. "Setz dich zu mir", sagt meine Mutter. Sie sieht mich an. Ihre Hunde sind weiß und krunklich und schmal gegen meine. Wir sprechen nur einige Worte, und ich bin ihr dankbar dafur, daß sie nichts fragt. Was soll ich auch sagen: Alles, was muglich war, ist ja geschehen. Ich bin heil herausgelangt und sitze neben ihr. Und in der Kuche steht meine Schwester und macht das Abendbrot und singt dazu. "Mein lieber Junge", sagt meine Mutter leise. Wir sind nie sehr zurtlich in der Familie gewesen, das ist nicht ublich bei armen Leuten, die viel arbeiten mussen und Sorgen haben. Sie kunnen das auch nicht so verstehen, sie beteuern nicht gern etwas ufter, was sie ohnehin wissen. Wenn meine Mutter zu mir "lieber Junge" sagt, so ist das so viel, als wenn eine andere wer weiß was anstellt. Ich weiß bestimmt, daß das Glas mit Preiselbeeren das einzige ist seit Monaten und daß sie es aufbewahrt hat fur mich, ebenso wie die schon alt schmeckenden Kekse, die sie mir jetzt gibt. Sie hat sicher bei einer gunstigen Gelegenheit einige erhalten und sie gleich zuruckgelegt fur mich. Ich sitze an ihrem Bett, und durch das Fenster funkeln in Braun und Gold die Kastanien des gegenuberliegenden Wirtsgartens. Ich atme langsam ein und aus und sage mir: "Du bist zu Hause, du bist zu Hause." Aber eine Befangenheit will nicht von mir weichen, ich kann mich noch nicht in alles hineinfinden. Da ist meine Mutter, da ist meine Schwester, da mein Schmetterlingskasten und da das Mahagoniklavier - aber ich bin noch nicht ganz da. Es sind ein Schleier und ein Schritt dazwischen. Deshalb gehe ich jetzt, hole meinen Tornister ans Bett und packe aus, was ich mitgebracht habe: einen ganzen Edamer Kuse, den Kat mir besorgt hat, zwei Kommißbrote, dreiviertel Pfund Butter, zwei Buchsen Leberwurst, ein Pfund Schmalz und ein Suckchen Reis. "Das kunnt ihr sicher gebrauchen -" Sie nicken. "Hierist es wohl schlecht damit?" erkundige ich mich. "Ja, es gibt nicht viel. Habt ihr denn draußen genug?" Ich luchele und zeige auf die mitgebrachten Sachen. "So viel ja nun nicht immer, aber es geht doch einigermaßen." Erna bringt die Lebensmittel fort. Meine Mutter nimmt plutzlich heftig meine Hand und fragt stockend: "War es sehr schlimm draußen, Paul?" Mutter, was soll ich dir darauf antworten! Du wirst es nicht verstehen und nie begreifen. Du sollst es auch nie begreifen. War es schlimm, fragst du. - Du, Mutter. - Ich schuttele den Kopf und sage: "Nein, Mutter, nicht so sehr. Wir sind ja mit vielen zusammen, da ist es nicht so schlimm." "Ja, aber kurzlich war Heinrich Bredemeyer hier, der erzuhlte, es wure jetzt furchtbar draußen, mit dem Gas und all dem andern." Es ist meine Mutter, die das sagt. Sie sagt: mit dem Gas und all dem andern. Sie weiß nicht, was sie spricht, sie hat nur Angst um mich. Soll ich ihr erzuhlen, daß wir einmal drei gegnerische Gruben fanden, die erstarrt waren in ihrer Haltung, wie vom Schlag getroffen? Auf den Brustwehren, in den Unterstunden, wo sie gerade waren, standen und lagen die Leute mit blauen Gesichtern, tot. "Ach, Mutter, was so geredet wird", antworte ich, "der Bredemeyer erzuhlt nur so etwas dahin. Du siehst ja, ich bin heil und dick -" An der zitternden Sorge meiner Mutter finde ich meine Ruhe wieder. Jetzt kann ich schon umhergehen und sprechen und Rede stehen, ohne Furcht, mich plutzlich an die Wand lehnen zu mussen, weil die Welt weich wird wie Gummi und die Adern murbe wie Zunder. Meine Mutter will aufstehen, ich gehe solange in die Kuche zu meiner Schwester. "Was hat sie?" frage ich. Sie zuckt die Achseln: " Sie liegt schon ein paar Monate, wir sollten es dir aber nicht schreiben. Es sind mehrere urzte bei ihr gewesen. Einer sagte, es wure wohl wieder Krebs." Ich gehe zum Bezirkskommando, um mich anzumelden. Langsam wandere ich durch die Straßen. Hier und da spricht mich jemand an. Ich halte mich nicht lange auf, denn ich will nicht so viel reden. Als ich aus der Kaserne zuruckkomme, ruft mich eine laute Stimme an. Ich drehe mich um, ganz in Gedanken, und stehe einem Major gegenuber. Er fuhrt mich an: "Kunnen Sie nicht grußen?" "Entschuldigen Herr Major", sage ich verwirrt, "ich habe Sie nicht gesehen." Er wird noch lauter: "Kunnen Sie sich auch nicht vernunftig ausdrucken?" Ich muchte ihm ins Gesicht schlagen, beherrsche mich aber, denn sonst ist mein Urlaub hin, nehme die Knochen zusammen und sage: "Ich habe Herrn Major nicht gesehen." "Dann passen Sie gefulligst auf!" schnauzt er. "Wie heißen Sie?" Ich rapportiere. Sein rotes, dickes Gesicht ist immernoch empurt. "Truppenteil?" Ich melde vorschriftsmußig. Er hat immer noch nicht genug. "Wo liegen Sie?" Aber ich habe jetzt genug und sage: "Zwischen Langemark und Bixschoote." "Wieso?" fragt er etwas verblufft. Ich erklure ihm, daß ich vor einer Stunde auf Urlaub gekommen sei, und denke, daß er jetzt abtrudeln wird. Aber ich irre mich. Er wird sogar noch wilder: "Das kunnte Ihnen wohl so passen, hier Frontsitten einzufuhren, was? Das gibt's nicht! Hier herrscht Gott sei Dank Ordnung!" Er kommandiert: "Zwanzig Schritt zuruck, marsch, marsch!" In mir sitzt die dumpfe Wut. Aber ich kann nichts gegen ihn machen, er lußt mich sofort festnehmen, wenn er will. So spritze ich zuruck, gehe vor und zucke sechs Meter vor ihm zu einem zackigen Gruß zusammen, den ich erst wegnehme, als ich sechs Meter hinter ihm bin. Er ruft mich wieder heran und gibt mir jetzt leutselig bekannt, daß er noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen will. Ich zeige mich stramm dankbar. "Wegtreten!" kommandiert er. Ich knalle die Wendung und ziehe ab. Der Abend ist mir dadurch verleidet. Ich mache, daß ich nach Hause komme, und werfe die Uniform in die Ecke, das hatte ich sowieso vor. Dann hole ich meinen Zivilanzug aus dem Schrank und ziehe ihn an. Das ist mir ganz ungewohnt. Der Anzug sitzt ziemlich kurz und knapp, ich bin beim Kommiß gewachsen. Kragen und Krawatte machen mir Schwierigkeiten. Schließlich bindet mir meine Schwester den Knoten. Wie leicht so ein Anzug ist, man hat das Gefuhl, als wure man nur in Unterhosen und Hemd. Ich betrachte mich im Spiegel. Das ist ein sonderbarer Anblick. Ein sonnenverbrannter, etwas ausgewachsener Konfirmand sieht mich da verwundert an. Meine Mutter ist froh, daß ich Zivilzeug trage; ich bin ihr dadurch vertrauter. Doch mein Vater hutte lieber, daß ich Uniform anzuge, er muchte so mit mir zu seinen Bekannten gehen. Aber ich weigere mich. Es ist schun, still irgendwo zu sitzen, zum Beispiel in dem Wirtsgarten gegenuber den Kastanien, nahe der Kegelbahn. Die Blutter fallen auf den Tisch und auf die Erde, wenige nur, die ersten. Ich habe ein Glas Bier vor mir stehen, das Trinken hat man beim Militur gelernt. Das Glas ist halb geleert, ich habe also noch einige gute, kuhle Schlucke vor mir, und außerdem kann ich ein zweites und ein drittes bestellen, wenn ich will. Es gibt keinen Appell und kein Trommelfeuer, die Kinder des Wirts spielen auf der Kegelbahn, und der Hund legt mir seinen Kopf auf die Knie. Der Himmel ist blau, zwischen dem Laub der Kastanien ragt der grune Turm der Margaretenkirche auf. Das ist gut, und ich liebe es. Aber mit den Leuten kann ich nicht fertig werden. Die einzige, die nicht fragt, ist meine Mutter. Doch schon mit meinem Vater ist es anders. Er muchte, daß ich etwas erzuhle von draußen, er hat Wunsche, die ich ruhrend und dumm finde, zu ihm schon habe ich kein rechtes Verhultnis mehr. Am liebsten muchte er immerfort etwas huren. Ich begreife, daß er nicht weiß, daß so etwas nicht erzuhlt werden kann, und ich muchte ihm auch gern den Gefallen tun; aber es ist eine Gefahr fur mich, wenn ich diese Dinge in Worte bringe, ich habe Scheu, daß sie dann riesenhaft werden und sich nicht mehr bewultigen lassen. Wo blieben wir, wenn uns alles ganz klar wurde, was da draußen vorgeht. So beschrunke ich mich darauf, ihm einige lustige Sachen zu erzuhlen. Er aber fragt mich, ob ich auch einen Nahkampf mitgemacht hutte. Ich sage nein und stehe auf, um auszugehen. Doch das bessert nichts. Nachdem ich mich auf der Straße ein paarmal erschreckt habe, weil das Quietschen der Straßenbahnen sich wie heranheulende Granaten anhurt, klopft mir jemand auf die Schulter. Es ist mein Deutschlehrer, der mich mit den ublichen Fragen uberfullt. "Na, wie steht es draußen. Furchtbar, furchtbar, nicht wahr? Ja, es ist schrecklich, aber wir mussen eben durchhalten. Und schließlich, draußen habt ihr doch wenigstens gute Verpflegung, wie ich gehurt habe, Sie sehen gut aus, Paul, kruftig. Hier ist das naturlich schlechter, ganz naturlich, ist ja auch selbstverstundlich, das Beste immer fur unsere Soldaten!" Er schleppt mich zu einem Stammtisch mit. Ich werde großartig empfangen, ein Direktor gibt mir die Hand und sagt: " So, Sie kommen von der Front? Wie ist denn der Geist dort? Vorzuglich, vorzuglich, was?" Ich erklure, daß jeder gern nach Hause muchte. Er lacht druhnend: "Das glaube ich! Aber erst mußt ihr den Franzmann verkloppen! Rauchen Sie? Hier, stecken Sie sich mal eine an. Ober, bringen Sie unserm jungen Krieger auch ein Bier." Leider habe ich die Zigarre genommen, deshalb muß ich bleiben. Alle triefen nur so von Wohlwollen, dagegen ist nichts einzuwenden. Trotzdem bin ich urgerlich und qualme, so schnell ich kann. Um wenigstens etwas zu tun, sturze ich das Glas Bier in einem Zug hinunter. Sofort wird mir ein zweites bestellt; die Leute wissen, was sie einem Soldaten schuldig sind. Sie disputieren daruber, was wir annektieren sollen. Der Direktor mit der eisernen Uhrkette will am meisten haben: ganz Belgien, die Kohlengebiete Frankreichs und große Stucke von Rußland. Er gibt genaue Grunde an, weshalb wir das haben mussen, und ist unbeugsam, bis die andern schließlich nachgeben. Dann beginnt er zu erluutern, wo in Frankreich der Durchbruch einsetzen musse, und wendet sich zwischendurch zu mir: "Nun macht mal ein bißchen vorwurts da draußen mit eurem ewigen Stellungskrieg. Schmeißt die Kerle 'raus, dann gibt es auch Frieden." - Ich antworte, daß nach unserer Meinung ein Durchbruch unmuglich sei. Die druben hutten zuviel Reserven. Außerdem wure der Krieg doch anders, als man sich das so denke. Er wehrt uberlegen ab und beweist mir, daß ich davon nichts verstehe. " Gewiß, der einzelne", sagt er, "aber es kommt doch auf das Gesamte an. Und das kunnen Sie nicht so beurteilen. Sie sehen nur Ihren kleinen Abschnitt und haben deshalb keine ubersicht. Sie tun Ihre Pflicht, Sie setzen Ihr Leben ein, das ist huchster Ehren wert - jeder von euch mußte das Eiserne Kreuz haben -, aber vor allem muß die gegnerische Front in Flandern durchbrochen und dann von oben aufgerollt werden." Er schnauft und wischt sich den Bart. "Vullig aufgerollt muß sie werden, von oben herunter. Und dann auf Paris." Ich muchte wissen, wie er sich das vorstellt, und gieße das dritte Bier in mich hinein. Sofort lußt er ein neues bringen. Aber ich breche auf. Er schiebt mir noch einige Zigarren in die Tasche und entlußt mich mit einem freundschaftlichen Klaps. "Alles Gute! Hoffentlich huren wir nun bald etwas Ordentliches von euch." Ich habe mir den Urlaub anders vorgestellt. Vor einem Jahr war er auch anders. Ich bin es wohl, der sich inzwischen geundert hat. Zwischen heute und damals liegt eine Kluft. Damals kannte ich den Krieg noch nicht, wir hatten in ruhigeren Abschnitten gelegen. Heute merke ich, daß ich, ohne es zu wissen, zermurbter geworden bin. Ich finde mich hier nicht mehr zurecht, es ist eine fremde Welt. Die einen fragen, die andern fragen nicht, und man sieht ihnen an, daß sie stolz darauf sind; oft sagen sie es sogar noch mit dieser Miene des Verstehens, daß man daruber nicht reden kunne. Sie bilden sich etwas darauf ein. Am liebsten bin ich allein, da sturt mich keiner. Denn alle kommen stets auf dasselbe zuruck, wie schlecht es geht und wie gut es geht, der eine findet es so, der andere so, - immer sind sie auch rasch bei den Dingen, die ihr Dasein darstellen. Ich habe fruher sicher genauso gelebt, aber ich finde jetzt keinen Anschluß mehr daran. Sie reden mir zuviel. Sie haben Sorgen, Ziele, Wunsche, die ich nicht so auffassen kann wie sie. Manchmal sitze ich mit einem von ihnen in dem kleinen Wirtsgarten und versuche, ihm klarzumachen, daß dies eigentlich schon alles ist: so still zu sitzen. Sie verstehen das naturlich, geben es zu, finden es auch, aber nur mit Worten, nur mit Worten, das ist es ja - sie empfinden es, aber stets nur halb, ihr anderes Wesen ist bei anderen Dingen, sie sind so verteilt, keiner empfindet es mit seinem ganzen Leben; ich kann ja selbst auch nicht recht sagen, was ich meine. Wenn ich sie so sehe, in ihren Zimmern, in ihren Buros, in ihren Berufen, dann zieht das mich unwiderstehlich an, ich muchte auch darin sein und den Krieg vergessen; aber es stußt mich auch gleich wieder ab, es ist so eng, wie kann das ein Leben ausfullen, man sollte es zerschlagen, wie kann das alles so sein, wuhrend draußen jetzt die Splitter uber die Trichter sausen und die Leuchtkugeln hochgehen, die Verwundeten auf Zeltbahnen zuruckgeschleift werden und die Kameraden sich in die Gruben drucken! -Es sind andere Menschen hier, Menschen, die ich nicht richtig begreife, die ich beneide und verachte. Ich muß an Kat und Albert und Muller und Tjaden denken, was mugen sie tun? Sie sitzen vielleicht in der Kantine oder sie schwimmen - bald mussen sie wieder nach vorn. In meinem Zimmer steht hinter dem Tisch ein braunes Ledersofa. Ich setze mich hinein. An den Wunden sind viele Bilder mit Reißzwecken festgemacht, die ich fruher aus Zeitschriften geschnitten habe. Postkarten und Zeichnungen dazwischen, die mir gefallen haben. In der Ecke steht ein kleiner eiserner Ofen. An der Wand gegenuber das Regal mit meinen Buchern. In diesem Zimmer habe ich gelebt, bevor ich Soldat wurde. Die Bucher habe ich nach und nach gekauft von dem Geld, das ich mit Stundengeben verdiente. Viele davon antiquarisch, alle Klassiker zum Beispiel, ein Band kostete eine Mark und zwanzig Pfennig, in steifem, blauem Leinen. Ich habe sie vollstundig gekauft, denn ich war grundlich, bei ausgewuhlten Werken traute ich den Herausgebern nicht, ob sie auch das Beste genommen hatten. Deshalb kaufte ich mir " Sumtliche Werke". Gelesen habe ich sie mit ehrlichem Eifer, aber die meisten sagten mir nicht recht zu. Um so mehr hielt ich von den anderen Buchern, den moderneren, die naturlich auch viel teurer waren. Einige davon habe ich nicht ganz ehrlich erworben, ich habe sie ausgeliehen und nicht zuruckgegeben, weil ich mich von ihnen nicht trennen mochte. Ein Fach des Regals ist mit Schulbuchern gefullt. Sie sind wenig geschont und stark zerlesen, Seiten sind herausgerissen, man weiß ja wofur. Und unten sind Hefte, Papier und Briefe hingepackt, Zeichnungen und Versuche. Ich will mich hineindenken in die Zeit damals. Sie ist ja noch im Zimmer, ich fuhle es sofort, die Wunde haben sie bewahrt. Meine Hunde liegen auf der Sofalehne; jetzt mache ich es mir bequem und ziehe auch die Beine hoch, so sitze ich gemutlich in der Ecke, in den Armen des Sofas. Das kleine Fenster ist geuffnet, es zeigt das vertraute Bild der Straße mit dem ragenden Kirchturm am Ende. Ein paar Blumen stehen auf dem Tisch. Federhalter, Bleistifte, eine Muschel als Briefbeschwerer, das Tintenfaß - hier ist nichts verundert. So wird es auch sein, wenn ich Gluck habe, wenn der Krieg aus ist und ich wiederkomme fur immer. Ich werde ebenso hier sitzen und mein Zimmer ansehen und warten. Ich bin aufgeregt; aber ich muchte es nicht sein, denn das ist nicht richtig. Ich will wieder diese stille Hingerissenheit, das Gefuhl dieses heftigen, unbenennbaren Dranges verspuren, wie fruher, wenn ich vor meine Bucher trat. Der Wind der Wunsche, der aus den bunten Bucherrucken aufstieg, soll mich wieder erfassen, er soll den schweren, toten Bleiblock, der irgendwo in mir liegt, schmelzen und mir wieder die Ungeduld der Zukunft, die beschwingte Freude an der Welt der Gedanken wecken; - er soll mir das verlorene Bereitsein meiner Jugend zuruckbringen. Ich sitze und warte. Mir fullt ein, daß ich zu Kemmerichs Mutter gehen muß; - Mittelstaedt kunnte ich auch besuchen, er muß in der Kaserne sein. Ich sehe aus dem Fenster: - hinter dem besonnten Straßenbild taucht verwaschen und leicht ein Hugelzug auf, verwandelt sich zu einem hellen Tag im Herbst, wo ich am Feuer sitze und mit Kat und Albert gebratene Kartoffeln aus der Schale esse. Doch daran will ich nicht denken, ich wische es fort. Das Zimmer soll sprechen, es soll mich einfangen und tragen, ich will fuhlen, daß ich hierhergehure, und horchen, damit ich weiß, wenn ich wieder an die Front gehe: Der Krieg versinkt und ertrinkt, wenn die Welle der Heimkehr kommt, er ist voruber, er zerfrißt uns nicht, er hat keine andere Macht uber uns als nur die uußere! Die Bucherrucken stehen nebeneinander. Ich kenne sie noch und erinnere mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie mit meinen Augen: Sprecht zu mir, - nehmt mich auf - nimm mich auf, du Leben von fruher, - du sorgloses, schunes - nimm mich wieder auf - Ich warte, ich warte. Bilder ziehen voruber, sie haken nicht fest, es sind nur Schatten und Erinnerungen. Nichts - nichts. Meine Unruhe wuchst. Ein furchterliches Gefuhl der Fremde steigt plutzlich in mir hoch. Ich kann nicht zuruckfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und traurig sitze ich wie ein Verurteilter da, und die Vergangenheit wendet sich ab. Gleichzeitig spure ich Furcht, sie zu sehr zu beschwuren, weil ich nicht weiß, was dann alles geschehen kunnte. Ich bin ein Soldat, daran muß ich mich halten. Mude stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der Bucher und bluttere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein anderes. Es sind Stellen darin, die angestrichen sind. Ich suche, bluttere, nehme neue Bucher. Schon liegt ein Pack neben mir. Andere kommen dazu, hastiger - Blutter, Hefte, Briefe. Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht. Mutlos. Worte, Worte, Worte - sie erreichen mich nicht. Langsam stelle ich die Bucher wieder in die Lucken. Vorbei. Still gehe ich aus dem Zimmer. Noch gebe ich es nicht auf. Mein Zimmer betrete ich zwar nicht mehr, aber ich truste mich damit, daß einige Tage noch nicht ein Ende zu sein brauchen. Ich habe nachher - sputer - Jahre dafur Zeit. Vorluufig gehe ich zu Mittelstaedt in die Kaserne, und wir sitzen in seiner Stube, da ist eine Luft, die ich nicht liebe, an die ich aber gewuhnt bin. Mittelstaedt hat eine Neuigkeit parat, die mich sofort elektrisiert. Er erzuhlt mir, daß Kantorek eingezogen worden sei als Landsturmmann. "Stell dir vor", sagt er und holt ein paar gute Zigarren heraus, "ich komme aus dem Lazarett hierher und falle gleich uber ihn. Er streckt mir seine Pfote entgegen und quakt: 'Sieh da, Mittelstaedt, wie geht es denn?' - Ich sehe ihn groß an und antworte: 'Landsturmmann Kantorek, Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, das sollten Sie selbst am besten wissen. Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden.' - Du huttest sein Gesicht sehen mussen! Eine Kreuzung aus Essiggurke und Blindgunger. Zugernd versuchte er noch einmal, sich anzubiedern. Da schnauzte ich etwas schurfer. Nun fuhrte er seine sturkste Batterie ins Gefecht und fragte vertraulich: 'Soll ich Ihnen vermitteln, daß Sie Notexamen machen?' Er wollte mich erinnern, verstehst du. Da packte mich die Wut, und ich erinnerte ihn auch. 'Landsturmmann Kantorek, vor zwei Jahren haben Sie uns zum Bezirkskommando gepredigt, darunter auch den Joseph Behm, der eigentlich nicht wollte. Er fiel drei Monate bevor er eingezogen worden wure. Ohne Sie hutte er solange gewartet. Und jetzt: Wegtreten. Wir sprechen uns noch.' - Es war mir leicht, seiner Kompanie zugeteilt zu werden. Als erstes nahm ich ihn zur Kammer und sorgte fur eine hubsche Ausrustung. Du wirst ihn gleich sehen." Wir gehen auf den Hof. Die Kompanie ist angetreten. Mittelstaedt lußt ruhren und besichtigt. Da erblicke ich Kantorek und muß das Lachen verbeißen. Er trugt eine Art Schoßrock aus verblichenem Blau. Auf dem Rucken und an den urmeln sind große dunkle Flicken eingesetzt. Der Rock muß einem Riesen gehurt haben. Um so kurzer ist die abgewetzte schwarze Hose; sie reicht bis zur halben Wade. Dafur sind aber die Schuhe sehr geruumig, eisenharte, uralte Treter, mit hochgebogenen Spitzen, noch an den Seiten zu schnuren. Als Ausgleich ist die Mutze wieder zu klein, ein furchtbar dreckiges, elendes Krutzchen. Der Gesamteindruck ist erbarmungswurdig. Mittelstaedt bleibt stehen vor ihm: "Landsturmmann Kantorek, ist das Knopfputz ? Sie scheinen es nie zu lernen. Ungenugend, Kantorek, ungenugend -" Ich brulle innerlich vor Vergnugen. Genauso hat Kantorek in der Schule Mittelstaedt getadelt, mit demselben Tonfall "Ungenugend, Mittelstaedt, ungenugend -" Mittelstaedt mißbilligt weiter: "Sehen Sie sich mal Boettcher an, der ist vorbildlich, von dem kunnen Sie lernen." Ich traue meinen Augen kaum. Boettcher ist ja auch da, unser Schulportier. Und der ist vorbildlich! Kantorek schießt mir einen Blick zu, als ob er mich fressen muchte. Ich aber grinse ihm nur harmlos in die Visage, so als ob ich ihn gar nicht weiter kenne. Wie bludsinnig er aussieht mit seinem Krutzchen und seiner Uniform! Und vor so was hat man fruher eine Heidenangst gehabt, wenn es auf dem Katheder thronte und einen mit dem Bleistift aufspießte bei den unregelmußigen franzusischen Verben, mit denen man nachher in Frankreich doch nichts anfangen konnte. Es ist noch kaum zwei Jahre her; - und jetzt steht hier der Landsturmmann Kantorek, juh entzaubert, mit krummen Knien und Armen wie Topfhenkel, mit schlechtem Knopfputz und lucherlicher Haltung, ein unmuglicher Soldat. Ich kann ihn mir nicht mehr zusammenreimen mit dem drohenden Bilde auf dem Katheder, und ich muchte wirklich gern mal wissen, was ich machen werde, wenn dieser Jammerpelz mich alten Soldaten jemals wieder fragen darf: "Buumer, nennen Sie das Imparfait von aller -" Vorluufig lußt Mittelstaedt etwas Schwurmen uben. Kantorek wird dabei wohlwollend von ihm zum Gruppenfuhrer bestimmt. Damit hat es seine besondere Bewandtnis. Der Gruppenfuhrer muß beim Schwurmen numlich stets zwanzig Schritt vor seiner Gruppe sein; - kommandiert man nun: Kehrt - marsch!, so macht die Schwarmlinie nur die Wendung, der Gruppenfuhrer jedoch, der dadurch plutzlich zwanzig Schritt hinter der Linie ist, muß im Galopp vorsturzen, um wieder seine zwanzig Schritt vor die Gruppe zu kommen. Das sind zusammen vierzig Schritt: Marsch, marsch. Kaum ist er aber angelangt, so wird einfach wieder Kehrt - marsch! befohlen, und er muß eiligst wieder vierzig Schritt nach der anderen Seite rasen. Auf diese Weise macht die Gruppe nur gemutlich immer eine Wendung und ein paar Schritte, wuhrend der Gruppenfuhrer hin und her saust wie ein Furz auf der Gardinenstange. Das Ganze ist eines der vielen probaten Rezepte von Himmelstoß. Kantorek kann von Mittelstaedt nichts anderes verlangen, denn er hat ihm einmal eine Versetzung vermurkst, und Mittelstaedt wure schun dumm, diese gute Gelegenheit nicht auszunutzen, bevor er wieder ins Feld kommt. Man stirbt doch vielleicht etwas leichter, wenn der Kommiß einem auch einmal solch eine Chance geboten hat. Einstweilen spritzt Kantorek hin und her wie ein aufgescheuchtes Wildschwein. Nach einiger Zeit lußt Mittelstaedt aufhuren, und nun beginnt die so wichtige ubung des Kriechens. Auf Knien und Ellenbogen, die Knarre vorschriftsmußig gefaßt, schiebt Kantorek seine Prachtfigur durch den Sand, dicht an uns vorbei. Er schnauft kruftig, und sein Schnaufen ist Musik. Mittelstaedt ermuntert ihn, indem er den Landsturmmann Kantorek mit Zitaten des Oberlehrers Kantorek trustet. "Landsturmmann Kantorek, wir haben das Gluck, in einer großen Zeit zu leben, da mussen wir alle uns zusammenreißen und das Bittere uberwinden." Kantorek spuckt ein schmutziges Stuck Holz aus, das ihm zwischen die Zuhne gekommen ist, und schwitzt. Mittelstaedt beugt sich nieder, beschwurend eindringlich: "Und uber Kleinigkeiten niemals das große Erlebnis vergessen, Landsturmmann Kantorek!" Mich wundert, daß Kantorek nicht mit einem Knall zerplatzt, besonders, da jetzt die Turnstunde folgt, in der Mittelstaedt ihn großartig kopiert, indem er ihm in den Hosenboden faßt beim Klimmzug am Querbaum, damit er das Kinn stramm uber die Stange bringen kann, und dazu von weisen Reden nur so trieft. Genauso hat Kantorek es fruher mit ihm gemacht. Danach wird der weitere Dienst verteilt. "Kantorek und Boettcher zum Kommißbrotholen! Nehmen Sie den Handwagen mit." Ein paar Minuten sputer geht das Paar mit dem Handwagen los. Kantorek hult wutend den Kopf gesenkt. Der Portier ist stolz, weil er leichten Dienst hat. Die Brotfabrik ist am andern Ende der Stadt. Beide mussen also hin und zuruck durch die ganze Stadt. "Das machen sie schon ein paar Tage", grinst Mittelstaedt. "Es gibt bereits Leute, die darauf warten, sie zu sehen." "Großartig", sage ich, "aber hat er sich noch nicht beschwert?" "Versucht! Unser Kommandeur hat furchtbar gelacht, als er die Geschichte gehurt hat. Er kann keine Schulmeister leiden. Außerdem poussiere ich mit seiner Tochter." "Er wird dir das Examen versauen." "Darauf pfeife ich", meint Mittelstaedt gelassen. "Seine Beschwerde ist außerdem zwecklos gewesen, weil ich beweisen konnte, daß er meistens leichten Dienst hat." "Kunntest du ihn nicht mal ganz groß schleifen?" frage ich. "Dazu ist er mir zu dumlich", antwortet Mittelstaedt erhaben und großzugig. Was ist Urlaub? - Ein Schwanken, das alles nachher noch viel schwerermacht. Schon jetzt mischt sich der Abschied hinein. Meine Mutter sieht mich schweigend an; - sie zuhlt die Tage, ich weiß es; - jeden Morgen ist sie traurig. Es ist schon wieder ein Tag weniger. Meinen Tornister hat sie weggepackt, sie will durch ihn nicht erinnert werden. Die Stunden laufen schnell, wenn man grubelt. Ich raffe mich auf und begleite meine Schwester. Sie geht zum Schlachthof, um einige Pfund Knochen zu holen. Das ist eine große Vergunstigung, und morgens schon stellen sich die Leute hin, um darauf anzustehen. Manche werden ohnmuchtig. Wir haben kein Gluck. Nachdem wir drei Stunden abwechselnd gewartet haben, lust sich die Reihe auf. Die Knochen sind zu Ende. Es ist gut, daß ich meine Verpflegung erhalte. Davon bringe ich meiner Mutter mit, und wir haben so alle etwas kruftigeres Essen. Immer schwerer werden die Tage, die Augen meiner Mutter immer trauriger. Noch vier Tage. Ich muß zu Kemmerichs Mutter gehen. Man kann das nicht niederschreiben. Diese bebende, schluchzende Frau, die mich schuttelt und mich anschreit: "Weshalb lebst du denn, wenn er tot ist!", die mich mit Trunen uberstrumt und ruft: "Weshalb seid ihr uberhaupt da, Kinder, wie ihr -", die in einen Stuhl sinkt und weint: "Hast du ihn gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er?" Ich sage ihr, daß er einen Schuß ins Herz erhalten hat und gleich tot war. Sie sieht mich an, sie zweifelt: "Du lugst. Ich weiß es besser. Ich habe gefuhlt, wie schwer er gestorben ist. Ich habe seine Stimme gehurt, seine Angst habe ich nachts gespurt, - sag die Wahrheit, ich will es wissen, ich muß es wissen." "Nein", sage ich, "ich war neben ihm. Er war sofort tot." Sie bittet mich leise: "Sag es mir. Du mußt es. Ich weiß, du willst mich damit trusten, aber siehst du nicht, daß du mich schlimmer quulst, als wenn du die Wahrheit sagst? Ich kann die Ungewißheit nicht ertragen, sag mir, wie es war, und wenn es noch so furchtbar ist. Es ist immer noch besser, als was ich sonst denken muß." Ich werde es nie sagen, eher kann sie aus mir Hackfleisch machen. Ich bemitleide sie, aber sie kommt mir auch ein wenig dumm vor. Sie soll sich doch zufrieden geben, Kemmerich bleibt tot, ob sie es weiß oder nicht. Wenn man so viele Tote gesehen hat, kann man so viel Schmerz um einen einzigen nicht mehr recht begreifen. So sage ich etwas ungeduldig: "Er war sofort tot. Er hat es gar nicht gefuhlt. Sein Gesicht war ganz ruhig." Sie schweigt. Dann fragt sie langsam: "Kannst du das beschwuren?" "Ja." "Bei allem, was dir heilig ist?" Ach Gott, was ist mir schon heilig; - so was wechselt ja schnell bei uns. "Ja, er war sofort tot." "Willst du selbst nicht wiederkommen, wenn es nicht wahr ist?" "Ich will nicht wiederkommen, wenn er nicht sofort tot war." Ich wurde noch wer weiß was auf mich nehmen. Aber sie scheint mir zu glauben. Sie stuhnt und weint lange. Ich soll erzuhlen, wie es war, und erfinde eine Geschichte, an die ich jetzt beinahe selbst glaube. Als ich gehe, kußt sie mich und schenkt mir ein Bild von ihm. Er lehnt darauf in seiner Rekrutenuniform an einem runden Tisch, dessen Beine aus ungeschulten Birkenusten bestehen. Dahinter ist ein Wald gemalt als Kulisse. Auf dem Tisch steht ein Bierseidel. Es ist der letzte Abend zu Hause. Alle sind schweigsam. Ich gehe fruh zu Bett, ich fasse die Kissen an, ich drucke sie an mich und lege den Kopf hinein. Wer weiß, ob ich je wieder so in einem Federbett liegen werde! Meine Mutter kommt sput noch in mein Zimmer. Sie glaubt, daß ich schlafe, und ich stelle mich auch so. Zu sprechen, wach miteinander zu sein, ist zu schwer. Sie sitzt fast bis zum Morgen, obschon sie Schmerzen hat und sich manchmal krummt. Endlich kann ich es nicht mehr aushaken, ich tue, als erwachte ich. "Geh schlafen, Mutter, du erkultest dich hier." Sie sagt: "Schlafen kann ich noch genug sputer." Ich richte mich auf. "Es geht ja nicht sofort ins Feld, Mutter. Ich muß doch erst vier Wochen ins Barackenlager. Von dort komme ich vielleicht einen Sonntag noch heruber." Sie schweigt. Dann fragt sie leise: "Furchtest du dich sehr?" "Nein, Mutter." "Ich wollte dir noch sagen: Nimm dich vor den Frauen in acht in Frankreich. Sie sind schlecht dort." Ach Mutter, Mutter! Fur dich bin ich ein Kind, - warum kann ich nicht den Kopf in deinen Schoß legen und weinen? Warum muß ich immer der Sturkere und der Gefaßtere sein, ich muchte doch auch einmal weinen und getrustet werden, ich bin doch wirklich nicht viel mehr als ein Kind, im Schrank hungen noch meine kurzen Knabenhosen, - es ist doch erst so wenig Zeit her, warum ist es denn vorbei? So ruhig ich kann, sage ich: "Wo wir liegen, da sind keine Frauen, Mutter." "Und sei recht vorsichtig dort im Felde, Paul." Ach Mutter, Mutter! Warum nehme ich dich nicht in meine Arme, und wir sterben. Was sind wir doch fur arme Hunde! "Ja, Mutter, das will ich sein." "Ich werde jeden Tag fur dich beten, Paul." Ach Mutter, Mutter! Laß uns aufstehen und fortgehen, zuruck durch die Jahre, bis all dies Elend nicht mehr auf uns liegt, zuruck zu dir und mir allein, Mutter! "Vielleicht kannst du einen Posten bekommen, der nicht so gefuhrlich ist." "Ja, Mutter, vielleicht komme ich in die Kuche, das kann wohl sein." "Nimm ihn ja an, wenn die andern auch reden -" "Darum kummere ich mich nicht, Mutter -" Sie seufzt. Ihr Gesicht ist ein weißer Schein im Dunkel. "Nun mußt du schlafen gehen, Mutter." Sie antwortet nicht. Ich stehe auf und lege ihr meine Decke uber die Schultern. Sie stutzt sich auf meinen Arm, sie hat Schmerzen. So bringe ich sie hinuber. Eine Weile bleibe ich noch bei ihr. "Du mußt nun auch gesund werden, Mutter, bis ich wiederkomme." "Jaja, mein Kind." "Ihr durft mir nicht eure Sachen schicken, Mutter. Wir haben draußen genug zu essen. Ihr kunnt es hier besser brauchen." Wie arm sie in ihrem Bette liegt, sie, die mich liebt, mehr als alles. Als ich schon gehen will, sagt sie hastig: "Ich habe dir noch zwei Unterhosen besorgt. Es ist gute Wolle. Sie werden warm halten. Du mußt nicht vergessen, sie dir einzupacken." Ach Mutter, ich weiß, was dich diese beiden Unterhosen gekostet haben an Herumstehen und Laufen und Betteln! Ach Mutter, Mutter, wie kann man es begreifen, daß ich weg muß von dir, wer hat denn anders ein Recht auf mich als du. Noch sitze ich hier, und du liegst dort, wir mussen uns so vieles sagen, aber wir werden es nie kunnen. "Gute Nacht, Mutter." "Gute Nacht, mein Kind." Das Zimmer ist dunkel. Der Atem meiner Mutter geht darin hin und her. Dazwischen tickt die Uhr. Draußen vor den Fenstern weht es. Die Kastanien rauschen. Auf dem Vorplatz stolpere ich uber meinen Tornister, der fertig gepackt daliegt, weil ich morgen sehr fruh fort muß. Ich beiße in meine Kissen, ich krampfe die Fuuste um die Eisenstube mei'ies Bettes. Ich hutte nie hierherkommen durfen. Ich war gleichgultig und oft hoffnungslos draußen; - ich werde es nie mehr so sein kunnen. Ich war ein Soldat, und nun bin ich nichts mehr als Schmerz um mich, um meine Mutter, um alles, was so trostlos und ohne Ende ist. Ich hutte nie auf Urlaub fahren durfen. 8 Die Baracken im Heidelager kenne ich noch. Hier hat Himmelstoß Tjaden erzogen. Sonst aber kenne ich kaum jemand hier; alles hat gewechselt, wie immer. Nur einige der Leute habe ich fruher fluchtig gesehen. Den Dienst mache ich mechanisch. Abends bin ich fast stets im Soldatenheim, da liegen Zeitschriften aus, die ich aber nicht lese; es steht jedoch ein Klavier da, auf dem ich gern spiele. Zwei Mudchen bedienen, eins davon ist jung. Das Lager ist von hohen Drahtzuunen umgeben. Wenn wir sput aus dem Soldatenheim kommen, mussen wir Passierscheine haben. Wer sich mit dem Posten versteht, kriecht naturlich auch so durch. Zwischen Wacholderbuschen und Birkenwuldern uben wir jeden Tag Kompanieexerzieren in der Heide. Es ist zu ertragen, wenn man nicht mehr verlangt. Man rennt vorwurts, wirft sich hin, und der Atem biegt die Stengel und Bluten der Heide hin und her. Der Ware Sand ist, so dicht am Boden gesehen, rein wie in einem Laboratorium, aus vielen kleinsten Kieseln gebildet. Es ist seltsam verlockend, die Hand hineinzugraben. Aber das schunste sind die Wulder mit ihren Birkenrundern. Sie wechseln jeden Augenblick die Farbe. Jetzt leuchten die Stumme im hellsten Weiß, und seidig und luftig schwebt zwischen ihnen das pastellhafte Grun des Laubes; - im nuchsten Moment wechselt alles zu einem opalenen Blau, das silbrig vom Rande her streicht und das Grun forttupft; - aber sogleich vertieft es sich an einer Stelle fast zu Schwarz, wenn eine Wolke uber die Sonne geht. Und dieser Schatten luuft wie ein Gespenst zwischen den nun fahlen Stummen entlang, weiter uber die Heide zum Horizont, - inzwischen stehen die Birken schon wie festliche Fahnen mit weißen Stangen vor dem rotgoldenen Geloder ihres sich furbenden Laubes. Ich verliere mich oft an dieses Spiel zartester Lichter und durchsichtiger Schatten, so sehr, daß ich fast die Kommandos uberhure; - wenn man allein ist, beginnt man die Natur zu beobachten und zu lieben. Und ich habe hier nicht viel Anschluß, wunsche ihn auch nicht uber das normale Maß hinaus. Man ist zuwenig miteinander bekannt, um mehr zu tun, als etwas zu quatschen und abends Siebzehn-und-vier zu spielen oder zu mauscheln. Neben unsern Baracken befindet sich das große Russenlager. Es ist von uns zwar durch Drahtwunde getrennt, trotzdem gelingt es den Gefangenen doch, zu uns heruberzukommen. Sie geben sich sehr scheu und ungstlich, dabei haben die meisten Barte und sind groß; dadurch wirken sie wie verprugelte Bernhardiner. Sie schleichen um unsere Baracken und revidieren die Abfalltonnen. Man muß sich vorstellen, was sie da finden. Die Kost ist bei uns schon knapp und vor allem schlecht, es gibt Steckruben, in sechs Teile geschnitten und in Wasser gekocht, Mohrrubenstrunke, die noch schmutzig sind; fleckige Kartoffeln sind große Leckerbissen, und das Huchste ist dunne Reissuppe, in der kleingeschnittene Rindfleischsehnen schwimmen sollen. Aber sie sind so klein geschnitten, daß sie nicht mehr zu finden sind. Trotzdem wird naturlich alles gegessen. Wenn wirklich einer mal so reich ist, nicht leerfuttern zu brauchen, stehen zehn andere da, die es ihm gern abnehmen. Nur die Reste, die der Luffel nicht mehr erreicht, werden ausgespult und in die Abfalltonnen geschuttet. Dazu kommen dann manchmal einige Steckrubenschalen, verschimmelte Brotrinden und allerlei Dreck. Dieses dunne, trube, schmutzige Wasser ist das Ziel der Gefangenen. Sie schupfen es gierig aus den stinkenden Tonnen und tragen es unter ihren Blusen fort. Es ist sonderbar, diese unsere Feinde so nahe zu sehen. Sie haben Gesichter, die nachdenklich machen, gute Bauerngesichter, breite Stirnen, breite Nasen, breite Lippen, breite Hunde, wolliges Haar. Man mußte sie zum Pflugen und Muhen und Apfelpflucken verwenden. Sie sehen noch gutmutiger aus als unsere Bauern in Friesland. Es ist traurig, ihre Bewegungen, ihr Betteln um etwas Essen zu sehen. Sie sind alle ziemlich schwach, denn sie erhalten gerade so viel, daß sie nicht verhungern. Wir selbst bekommen ja lungst nicht satt zu essen. Sie haben Ruhr, mit ungstlichen Blicken zeigen manche verstohlen blutige Hemdzipfel heraus. Ihre Rucken, ihre Nacken sind gekrummt, die Knie geknickt, der Kopf blickt schief von unten herauf, wenn sie die Hand ausstrecken und mit den wenigen Worten, die sie kennen, betteln, - betteln mit diesen weichen, leisen Bussen, die wie warme ufen und Heimatstuben sind. Es gibt Leute, die ihnen einen Tritt geben, daß sie umfallen; - aber das sind nur wenig. Die meisten tun ihnen nichts, sie gehen an ihnen vorbei. Mitunter wenn sie sehr elend sind allerdings, gerut man daruber in Wut und versetzt ihnen dann einen Tritt. Wenn sie einen nur nicht so ansehen wollten, - was fur ein Jammer in zwei so kleinen Flecken sitzen kann, die man mit dem Daumen schon zuhalten kann: in den Augen. Abends kommen sie in die Baracken und handeln. Sie tauschen alles, was sie haben, gegen Brot ein. Es gelingt ihnen manchmal, denn sie haben gute Stiefel, unsere aber sind schlecht. Das Leder ihrer hohen Schaftstiefel ist wunderbar weich, wie Juchten. Die Bauernsuhne bei uns, die von zu Hause Fettigkeiten geschickt erhalten, kunnen sie sich leisten. Der Preis fur ein Paar Stiefel ist ungefuhr zwei bis drei Kommißbrote oder ein Kommißbrot und eine kleinere harte Mettwurst. Aber fast alle Russen haben lungst ihre Sachen abgegeben, die sie hatten. Sie tragen nur noch erburmliches Zeug und versuchen kleine Schnitzereien und Gegenstunde, die sie aus Granatsplittern und Stucken von kupfernen Fuhrungsringen gemacht haben, zu tauschen. Diese Sachen bringen naturlich nicht viel ein, wenn sie auch allerhand Muhe gemacht haben - sie gehen fur ein paar Scheiben Brot bereits weg. Unsere Bauern sind zuh und schlau, wenn sie handeln. Sie halten dem Russen das Stuck Brot oder Wurst so lange dicht unter die Nase, bis er vor Gier blaß wird und die Augen verdreht, dann ist ihm alles egal. Sie aber verpacken ihre Beute mit all der Umstundlichkeit, deren sie fuhig sind, holen ihr dickes Taschenmesser heraus, schneiden langsam und beduchtig fur sich selber einen Ranken Brot von ihrem Vorrat ab und dazu bei jedem Happen ein Stuck von der harten guten Wurst und futtern, sich zur Belohnung. Es ist aufreizend, sie so vespern zu sehen, man muchte ihnen auf die dicken Schudel trommeln. Sie geben selten etwas ab. Man kennt sich ja auch zuwenig. Ich bin ufter auf Wache bei den Russen. In der Dunkelheit sieht man ihre Gestalten sich bewegen, wie kranke Sturche, wie große Vugel. Sie kommen dicht an das Gitter heran und legen ihre Gesichter dagegen, die Finger sind in die Maschen gekrallt. Oft stehen viele nebeneinander. So atmen sie den Wind, der von der Heide und den Wuldern herkommt. Selten sprechen sie, und dann nur wenige Worte. Sie sind menschlicher und, ich muchte fast glauben, bruderlicher zueinander als wir hier. Aber das ist vielleicht nur deshalb, weil sie sich unglucklicher fuhlen als wir. Dabei ist fur sie doch der Krieg zu Ende. Doch auf die Ruhr zu warten, ist ja auch kein Leben. Die Landsturmleute, die sie bewachen, erzuhlen, daß sie anfangs lebhafter waren. Sie hatten, wie das immer ist, Verhultnisse untereinander, und es soll oft mit Fuusten und Messern dabei zugegangen sein. Jetzt sind sie schon ganz stumpf und gleichgultig, die meisten onanieren nicht einmal mehr, so schwach sind sie, obschon es doch damit sonst oft so schlimm ist, daß sie es sogar barackenweise tun. Sie stehen am Gitter; manchmal schwankt einer fort, dann ist bald ein anderer an seiner Stelle in der Reihe. Die meisten sind still; nur einzelne betteln um das Mundstuck einer ausgerauchten Zigarette. Ich sehe ihre dunklen Gestalten. Ihre Barte wehen im Winde. Ich weiß nichts von ihnen, als daß sie Gefangene sind, und gerade das erschuttert mich. Ihr Leben ist namenlos und ohne Schuld; - wußte ich mehr von ihnen, wie sie heißen, wie sie leben, was sie erwarten, was sie bedruckt, so hutte meine Erschutterung ein Ziel und kunnte zu Mitleid werden. Jetzt aber empfinde ich hinter ihnen nur den Schmerz der Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der Menschen. Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unsern Feinden gemacht; ein Befehl kunnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird ein Schriftstuck von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt, und jahrelang ist unser huchstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der Welt und ihre huchste Strafe ruht. Wer kann da noch unterscheiden, wenn er diese stillen Leute hier sieht mit den kindlichen Gesichtern und den Apostelburten! Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem Schuler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch wurden wir wieder auf sie schießen und sie auf uns, wenn sie frei wuren. Ich erschrecke; hier darf ich nicht weiterdenken. Dieser Weg geht in den Abgrund. Es ist noch nicht die Zeit dazu; aber ich will den Gedanken nicht verlieren, ich will ihn bewahren, ihn fortschließen, bis der Krieg zu Ende ist. Mein Herz klopft: ist hier das Ziel, das Große, das Einmalige, an das ich im Graben gedacht habe, das ich suchte als Daseinsmuglichkeit nach dieser Katastrophe aller Menschlichkeit, ist es eine Aufgabe fur das Leben nachher, wurdig der Jahre des Grauens? Ich nehme meine Zigaretten heraus, breche jede in zwei Teile und gebe sie den Russen. Sie verneigen sich und zunden sie an. Nun glimmen in einigen Gesichtern rote Punkte. Sie trusten mich; es sieht aus, als wuren es kleine Fensterchen in dunklen Dorfhuusern, die verraten, daß dahinter Zimmer voll Zuflucht sind. Die Tage gehen hin. An einem nebeligen Morgen wird wieder ein Russe begraben; es sterben ja jetzt fast tuglich welche. Ich bin gerade aufWache, als er beerdigt wird. Die Gefangenen singen einen Choral, sie singen vielstimmig, und es klingt, als wuren es kaum noch Stimmen, als wure es eine Orgel, die fern in der Heide steht. Die Beerdigung geht schnell. Abends stehen sie wieder am Gitter, und der Wind kommt von den Birkenwuldern zu ihnen. Die Sterne sind kalt. Ich kenne jetzt einige von ihnen, die ziemlich gut Deutsch sprechen. Ein Musiker ist dabei, er erzuhlt, daß er Geiger in Berlin gewesen sei. Als er hurt, daß ich etwas Klavier spielen kann, holt er seine Geige und spielt. Die andern setzen sich und lehnen die Rucken an das Gitter. Er steht und spielt, oft hat er den verlorenen Ausdruck, den Geiger haben, wenn sie die Augen schließen, dann wieder bewegt er das Instrument im Rhythmus und luchelt mich an. Er spielt wohl Volkslieder; denn die anderen summen mit. Es sind dunkle Hugel, die tief unterirdisch summen. Die Geigenstimme steht wie ein schlankes Mudchen daruber und ist hell und allein. Die Stimmen huren auf, und die Geige bleibt - sie ist dunn in der Nacht, als friere sie; man muß dicht danebenstehen, es wure in einem Raum wohl besser; - hier draußen wird man traurig, wenn sie so allein umherirrt. Ich bekomme keinen Urlaub uber Sonntag, weil ich ja erst grußeren Urlaub gehabt habe. Am letzten Sonntag vor der Abfahrt sind deshalb mein Vater und meine ulteste Schwester zu Besuch bei mir. Wir sitzen den ganzen Tag im Soldatenheim. Wo sollen wir anders hin, in die Baracke wollen wir nicht gehen. Mittags machen wir einen Spaziergang in die Heide. Die Stunden quulen sich hm; wir wissen nicht, woruber wir reden sollen. So sprechen wir uber die Krankheit meiner Mutter. Es ist nun bestimmt Krebs, sie liegt schon im Krankenhaus und wird demnuchst operiert. Die urzte hoffen, daß sie gesund wird, aber wir haben noch nie gehurt, daß Krebs geheilt worden ist. "Wo liegt sie denn?" frage ich. "Im Luisenhospital", sagt mein Vater. "In welcher Klasse?" "Dritter. Wir mussen abwarten, was die Operation kostet. Sie wollte selbst dritter liegen. Sie sagte, dann hutte sie etwas Unterhaltung. Es ist auch billiger." "Dann liegt sie doch mit so vielen zusammen. Wenn sie nur nachts schlafen kann." Mein Vater nickt. Sein Gesicht ist abgespannt und voll Furchen. Meine Mutter ist viel krank gewesen; sie ist zwar nur ins Krankenhaus gegangen, wenn sie gezwungen wurde, trotzdem hat es viel Geld fur uns gekostet, und das Leben meines Vaters ist eigentlich daruber hingegangen. "Wenn man bloß wußte, wieviel die Operation kostet", sagt er. "Habt ihr nicht gefragt?" "Nicht direkt; das kann man nicht - wenn der Arzt dann unfreundlich wird, das geht doch nicht, weil er Mutter doch operieren soll." Ja, denke ich bitter, so sind wir, so sind sie, die armen Leute. Sie wagen nicht nach dem Preise zu fragen und sorgen sich eher furchtbar daruber; aber die andern, die es nicht nutig haben, die finden es selbstverstundlich, vorher den Preis festzulegen. Bei ihnen wird der Arzt auch nicht unfreundlich sein. "Die Verbunde hinterher sind auch so teuer", sagt mein Vater. "Zahlt denn die Krankenkasse nichts dazu?" frage ich. "Mutter ist schon zu lange krank." "Habt ihr denn etwas Geld?" Er schuttelt den Kopf. "Nein. Aber ich kann jetzt wieder uberstunden machen." Ich weiß: er wird bis zwulf Uhr nachts an seinem Tisch stehen und falzen und kleben und schneiden. Um acht Uhr abends wird er etwas essen von diesem kraftlosen Zeug, das sie auf Karte beziehen. Hinterher wird er ein Pulver gegen seine Kopfschmerzen einnehmen und weiterarbeiten. Um ihn etwas aufzuheitern, erzuhle ich ihm einige Geschichten, die mir gerade einfallen, Soldatenwitze und so etwas, von Generalen und Feldwebeln, die irgendwann mal 'reingelegt wurden. Nachher bringe ich beide zur Bahnstation. Sie geben mir ein Glas Marmelade und ein Paket Kartoffelpuffer, die meine Mutter noch fur mich gebacken hat. Dann fahren sie ab, und ich gehe zuruck. Abends streiche ich mir von der Marmelade auf die Pufferund esse davon. Es will mir nicht schmecken. So gehe ich hinaus, um den Russen die Puffer zu geben. Dann fullt mir ein, daß meine Mutter sie selbst gebacken hat und daß sie vielleicht Schmerzen gehabt hat, wuhrend sie am heißen Herd stand. Ich lege das Paket zuruck in meinen Tornister und nehme nur zwei Stuck davon mit zu den Russen. 9 Wir fahren einige Tage. Die ersten Flieger erscheinen am Himmel. Wir rollen an Transportzugen voruber. Geschutze, Geschutze. Die Feldbahn ubernimmt uns. Ich suche mein Regiment. Niemand weiß, wo es gerade liegt. Irgendwo ubernachte ich, irgendwo empfange ich morgens Proviant und einige vage Instruktionen. So mache ich mich mit meinem Tornister und meinem Gewehr wieder auf den Weg. Als ich ankomme, ist keiner von uns mehr in dem zerschossenen Ort. Ich hure, daß wir zu einer fliegenden Division geworden sind, die uberall eingesetzt wird, wo es brenzlig ist. Das stimmt mich nicht heiter. Man erzuhlt mir von großen Verlusten, die wir gehabt haben sollen. Ich forsche nach Kat und Albert. Es weiß niemand etwas von ihnen. Ich suche weiter und irre umher, das ist ein wunderliches Gefuhl. Noch eine Nacht und eine zweite kampiere ich wie ein Indianer. Dann habe ich bestimmte Nachricht und kann mich nachmittags auf der Schreibstube melden. Der Feldwebel behult mich da. Die Kompanie kommt in zwei Tagen zuruck, es hat keinen Zweck mehr, mich hinauszuschicken. "Wie war's im Urlaub?" fragt er. "Schun, was?" "Teils, teils", sage ich. "Jaja", seufzt er, "wenn man nicht wieder weg mußte. Die zweite Hulfte wird dadurch immer schon verpfuscht." Ich lungere umher, bis die Kompanie morgens einruckt, grau, schmutzig, verdrossen und trube. Da springe ich auf und drunge mich zwischen sie, meine Augen suchen, dort ist Tjaden, da schnaubt Muller, und da sind auch Kat und Kropp. Wir machen uns unsere Strohsucke nebeneinander zurecht. Ich fuhle mich schuldbewußt, wenn ich sie ansehe, und habe doch keinen Grund dazu. Bevor wir schlafen, hole ich den Rest der Kartoffelpuffer und der Marmelade heraus, damit sie auch etwas haben. Die beiden uußeren Puffer sind angeschimmelt, man kann sie aber noch essen. Ich nehme sie fur mich und gebe die frischeren Kat und Kropp. Kat kaut und fragt: "Die sind wohl von Muttern?" Ich nicke. "Gut", sagt er, "das schmeckt man heraus." Fast kunnte ich weinen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Doch es wird schon wieder besser werden, hier mit Kat und Alben und den ubrigen. Hier gehure ich hin. "Du hast Gluck gehabt", flustert Kropp mir noch beim Einschlafen zu, "es heißt, wir kommen nach Rußland." Nach Rußland. Da ist ja kein Krieg mehr. In der Ferne donnert die Front. Die Wunde der Baracken klirren. Es wird muchtig geputzt. Ein Appell jagt den andern. Von allen Seiten werden wir revidiert. Was zerrissen ist, wird umgetauscht gegen gute Sachen. Ich erwische dabei einen tadellosen neuen Rock, Kat naturlich sogar eine volle Montur. Das Gerucht taucht auf, es gube Frieden, doch die andere Ansicht ist wahrscheinlicher: daß wir nach Rußland verladen werden. Aber wozu brauchen wir in Rußland bessere Sachen? Endlich sickert es durch: der Kaiser kommt zur Besichtigung. Deshalb die vielen Musterungen. Acht Tage lang kunnte man glauben, in einer Rekrutenkaserne zu sitzen, so wird gearbeitet und exerziert. Alles ist verdrossen und nervus, denn ubermußiges Putzen ist nichts fur uns und Parademarsch noch weniger. Gerade solche Sachen verurgern den Soldaten mehr als der Schutzengraben. Endlich ist der Augenblick da. Wir stehen stramm, und der Kaiser erscheint. Wir sind neugierig, wie er aussehen mag. Er schreitet die Front entlang, und ich bin eigentlich etwas enttuuscht: nach den Bildern hatte ich ihn mir grußer und muchtiger vorgestellt, vor allen Dingen mit einer donnernderen Stimme. Er verteilt Eiserne Kreuze und spricht diesen und jenen an. Dann ziehen wir ab. Nachher unterhalten wir uns. Tjaden sagt staunend: "Das ist nun der Alleroberste, den es gibt. Davor muß darin doch jeder strammstehen, jeder uberhaupt!" Er uberlegt: "Davor muß doch auch Hindenburg strammstehen, was?" "Jawoll", bestutigt Kat. Tjaden ist noch nicht fertig. Er denkt eine Zeitlang nach und fragt: "Muß ein Kunig vor einem Kaiser auch strammstehen?" Keiner weiß das genau, aber wir glauben es nicht. Die sind beide schon so hoch, daß es da sicher kein richtiges Strammstehen mehr gibt. "Was du dir fur einen Quatsch ausbrutest", sagt Kat. "Die Hauptsache ist, daß du selber strammstehst." Aber Tjaden ist vullig fasziniert. Seine sonst sehr trockene Phantasie arbeitet sich Blasen. "Sieh mal", verkundet er, "ich kann einfach nicht begreifen, daß ein Kaiser auch genauso zur Latrine muß wie ich." "Darauf kannst du Gift nehmen", lacht Kropp. "Verruckt und drei sind sieben", ergunzt Kat, "du hast Luuse im Schudel, Tjaden, geh du nur selbst rasch los zur Latrine, damit du einen klaren Kopp kriegst und nicht wie ein Wickelkind redest." Tjaden verschwindet. "Eins muchte ich aber doch noch wissen", sagt Albert, "ob es Krieg gegeben hutte, wenn der Kaiser nein gesagt hutte." "Das glaube ich sicher", werfe ich ein, - "er soll ja sowieso erst gar nicht gewollt haben." "Na, wenn er allein nicht, dann vielleicht doch, wenn so zwanzig, dreißig Leute in der Welt nein gesagt hutten." "Das wohl", gebe ich zu, "aber die haben ja gerade gewollt." "Es ist komisch, wenn man sich das uberlegt", fuhrt Kropp fort, "wir sind doch hier, um unser Vaterland zu verteidigen. Aber die Franzosen sind doch auch da, um ihr Vaterland zu verteidigen. Wer hat nun recht?" "Vielleicht beide", sage ich, ohne es zu glauben. "Ja, nun", meint Albert, und ich sehe ihm an, daß er mich in die Enge treiben will, "aber unsere Professoren und Pasture und Zeitungen sagen, nur wir hutten recht, und das wird ja hoffentlich auch so sein; - aber die franzusischen Professoren und Pasture und Zeitungen behaupten, nur sie hutten recht, wie steht es denn damit?" "Das weiß ich nicht", sage ich, "auf jeden Fall ist Krieg, und jeden Monat kommen mehr Lunder dazu." Tjaden erscheint wieder. Er ist noch immer angeregt und greift sofort wieder in das Gespruch ein, indem er sich erkundigt, wie eigentlich ein Krieg entstehe. "Meistens so, daß ein Land ein anderes schwer beleidigt", gibt Albert mit einer gewissen uberlegenheit zur Antwort. Doch Tjaden stellt sich dickfellig. "Ein Land? Das verstehe ich nicht. Ein Berg in Deutschland kann doch einen Berg in Frankreich nicht beleidigen. Oder ein Fluß oder ein Wald oder ein Weizenfeld." "Bist du so dumlich oder tust du nur so?" knurrt Kropp. "So meine ich das doch nicht. Ein Volk beleidigt das andere -" "Dann habe ich hier nichts zu suchen", erwidert Tjaden, "ich fuhle mich nicht beleidigt." "Dir soll man nun was erkluren", sagt Albert urgerlich, "auf dich Dorfdeubel kommt es doch dabei nicht an." "Dann kann ich ja erst recht nach Hause gehen", beharrt Tjaden, und alles lacht. "Ach, Mensch, es ist doch das Volk als Gesamtheit, also der Staat -", ruft Muller. "Staat, Staat" - Tjaden schnippt schlau mit den Fingern -, "Feldgendarmen, Polizei, Steuer, das ist euer Staat. Wenn du damit zu tun hast, danke schun." "Das stimmt", sagt Kat, "da hast du zum ersten Male etwas Richtiges gesagt, Tjaden, Staat und Heimat, da ist wahrhaftig ein Unterschied." "Aber sie gehuren doch zusammen", uberlegt Kropp, "eine Heimat ohne Staat gibt es nicht." "Richtig, aber bedenk doch mal, daß wir fast alle einfache Leute sind. Und in Frankreich sind die meisten Menschen doch auch Arbeiter, Handwerker oder kleine Beamte. Weshalb soll nun wohl ein franzusischer Schlosser oder Schuhmacher uns angreifen wollen? Nein, das sind nur die Regierungen. Ich habe nie einen Franzosen gesehen, bevor ich hierherkam, und den meisten Franzosen wird es uhnlich mit uns gehen. Die sind ebensowenig gefragt wie wir." "Weshalb ist dann uberhaupt Krieg?" fragt Tjaden. Kat zuckt die Achseln. "Es muß Leute geben, denen der Krieg nutzt." "Na, ich gehure nicht dazu", grinst Tjaden. "Du nicht, und keiner hier." "Wer denn nur?" beharrte Tjaden. "Dem Kaiser nutzt er doch auch nicht. Der hat doch alles, was er braucht." "Das sag nicht", entgegnet Kat, "einen Krieg hat er bis jetzt noch nicht gehabt. Und jeder grußere Kaiser braucht mindestens einen Krieg, sonst wird er nicht beruhmt. Sieh mal in deinen Schulbuchern nach." "Generule werden auch beruhmt durch den Krieg", sagt Detering. "Noch beruhmter als Kaiser", bestutigt Kat. "Sicher stecken andere Leute, die am Krieg verdienen wollen, dahinter", brummt Detering. "Ich glaube, es ist mehr eine Art Fieber", sagt Albert. "Keiner will es eigentlich, und mit einem Male ist es da. Wir haben den Krieg nicht gewollt, die andern behaupten dasselbe - und trotzdem ist die halbe Welt feste dabei." "Druben wird aber mehr gelogen als bei uns", erwidere ich, "denkt mal an die Flugblutter der Gefangenen, in denen stand, daß wir belgische Kinder frußen. Die Kerle, die so was schreiben, sollten sie aufhungen. Das sind die wahren Schuldigen." Muller steht auf. "Besser auf jeden Fall, der Krieg ist hier als in Deutschland. Seht euch mal die Trichterfelder an!" "Das stimmt", pflichtet selbst Tjaden bei, "abernoch besser ist gar kein Krieg." Er geht stolz davon, denn er hat es uns Einjuhrigen nun mal gegeben. Und seine Meinung ist tatsuchlich typisch hier, man begegnet ihr immer wieder und kann auch nichts Rechtes darauf entgegnen, weil mit ihr gleichzeitig das Verstundnis fur andere Zusammenhunge aufhurt. Das Nationalgefuhl des Muskoten besteht darin, daß er hier ist. Aber damit ist es auch zu Ende, alles andere beurteilt er praktisch und aus seiner Einstellung heraus. Albert legt sich urgerlich ins Gras. "Besser ist, uber den ganzen Kram nicht zu reden." "Wird ja auch nicht anders dadurch", bestutigt Kat. Zum uberfluß mussen wir die neu empfangenen Sachen fast alle wieder abgeben und erhalten unsere alten Brocken wieder. Die guten waren nur zur Parade da. Statt nach Rußland gehen wir wieder an die Front. Unterwegs kommen wir durch einen kluglichen Wald mit zerrissenen Stummen und zerpflugtem Boden. An einigen Stellen sind furchtbare Lucher. "Donnerwetter, da hat es aber eingehauen", sage ich zu Kat. "Minenwerfer", antwortet er und zeigt dann nach oben. In den usten hungen Tote. Ein nackter Soldat hockt in einer Stammgabelung, er hat seinen Helm noch auf dem Kopf, sonst ist er unbekleidet. Nur eine Hulfte sitzt von ihm dort oben, ein Oberkurper, dem die Beine fehlen. "Was ist da los gewesen?" frage ich. "Den haben sie aus dem Anzug gestoßen", knurrt Tjaden. Kat sagt: "Es ist komisch, wir haben das nun schon ein paarmal gesehen. Wenn so eine Mine einwichst, wird man tatsuchlich richtig aus dem Anzug gestoßen. Das macht der Luftdruck." Ich suche weiter. Es ist wirklich so. Dort hungen Uniformfetzen allein, anderswo klebt blutiger Brei, der einmal menschliche Glieder war. Ein Kurper liegt da, der nur an einem Bein noch ein Stuck Unterhose und um den Hals den Kragen des Waffenrockes hat. Sonst ist er nackt, der Anzug hungt im Baum herum. Beide Arme fehlen, als wuren sie herausgedreht. Einen davon entdecke ich zwanzig Schritt weiter im Gebusch. Der Tote liegt auf dem Gesicht. Da, wo die Armwunden sind, ist die Erde schwarz von Blut. Unter den Fußen ist das Laub zerkratzt, als hutte der Mann noch gestrampelt. "Kein Spaß, Kat", sage ich. "Ein Granatsplitter im Bauch auch nicht", antwortet er achselzuckend. "Nur nicht weich werden", meint Tjaden. Das Ganze kann nicht lange her sein, das Blut ist noch frisch. Da alle Leute, die wir sehen, tot sind, lassen wir uns nicht aufhalten, sondern melden die Sache bei der nuchsten Sanitutsstation. Schließlich ist es ja auch nicht unsere Angelegenheit, diesen Tragbahrenhengsten die Arbeit abzunehmen. Es soll eine Patrouille ausgeschickt werden, um festzustellen, wie weit die feindliche Stellung noch besetzt ist. Ich habe wegen meines Urlaubs irgendein sonderbares Gefuhl den andern gegenuber und melde mich deshalb mit. Wir verabreden den Plan, schleichen durch den Draht und trennen uns dann, um einzeln vorzukriechen. Nach einer Weile finde ich einen flachen Trichter, in den ich mich hineingleiten lasse. Von hier luge ich aus. Das Gelunde hat mittleres Maschinengewehrfeuer. Es wird von allen Seiten bestrichen, nicht sehr stark, aber immerhin genugend, um die Knochen nicht allzu hoch zu nehmen. Ein Leuchtschirm entfaltet sich. Das Terrain liegt erstarrt im fahlen Lichte da. Um so schwurzer schlugt hinterher die Dunkelheit wieder daruber zusammen. Im Graben haben sie vorhin erzuhlt, es wuren Schwarze vor uns. Das ist unangenehm, man kann sie schlecht sehen, außerdem sind sie als Patrouillen sehr geschickt. Sonderbarerweise sind sie oft ebenso unvernunftig; - sowohl Kat als auch Kropp haben einmal auf Patrouille eine schwarze Gegenpatrouille erschossen, weil die Leute in ihrer Gier nach Zigaretten unterwegs rauchten. Kat und Albert brauchten nur die glimmenden Zigarettenkupfe als Ziel zu visieren. Neben mir zischt eine kleine Granate ein. Ich habe sie nicht kommen gehurt und erschrecke heftig. Im gleichen Augenblick faßt mich eine sinnlose Angst. Ich bin hier allein und fast hilflos im Dunkeln - vielleicht beobachten mich lungst aus einem Trichter hervor zwei andere Augen, und eine Handgranate liegt wurffertig bereit, mich zu zerreißen. Ich versuche mich aufzuraffen. Es ist nicht meine erste Patrouille und auch keine besonders gefuhrliche. Aber es ist meine erste nach dem Urlaub, und außerdem ist das Gelunde mir noch ziemlich fremd. Ich mache mir klar, daß meine Aufregung Unsinn ist, daß im Dunkel wahrscheinlich gar nichts lauert, weil sonst nicht so flach geschossen wurde. Es ist vergeblich. In wirrem Durcheinander summen mir die Gedanken im Schudel - ich hure die warnende Stimme meiner Mutter, ich sehe die Russen mit den wehenden Barten am Gitter lehnen, ich habe die helle, wunderbare Vorstellung einer Kantine mit Sesseln, eines Kinos in Valenciennes, ich sehe quulend, scheußlich in meiner Einbildung eine graue gefuhllose Gewehrmundung, die lauernd lautlos mitgeht, wie ich auch den Kopf zu wenden versuche: mir bricht der Schweiß aus allen Poren. Immer noch liege ich in meiner Mulde. Ich sehe auf die Uhr; es sind erst wenige Minuten vergangen. Meine Stirn ist naß, meine Augenhuhlen sind feucht, die Hunde zittern, und ich keuche leise. Es ist nichts anderes als ein furchtbarer Angstanfall, eine einfach gemeine Hundeangst davor, den Kopf herauszustrecken und weiterzukriechen. Wie ein Brei zerquillt meine Anspannung zu dem Wunsch, liegenbleiben zu kunnen. Meine Glieder kleben am Boden, ich mache einen vergeblichen Versuch - sie wollen sich nicht lusen. Ich presse mich an die Erde, ich kann nicht vorwurts, ich fasse den Entschluß, liegenzubleiben. Aber sofort uberspult mich die Welle erneut, eine Welle aus Scham, Reue und doch auch Geborgenheit. Ich erhebe mich ein wenig, um Ausschau zu halten. Meine Augen brennen, so starre ich in das Dunkel. Eine Leuchtkugel geht hoch; - ich ducke mich wieder. Ich kumpfe einen sinnlosen, wirren Kampf, ich will aus der Mulde heraus und rutsche doch wieder hinein, ich sage, "du mußt, es sind deine Kameraden, es ist ja nicht irgendein dummer Befehl", - und gleich darauf: "Was geht es mich an, ich habe nur ein Leben zu verlieren -" Das macht alles dieser Urlaub, entschuldige ich mich erbittert. Aber ich glaube es selbst nicht, mir wird entsetzlich flau, ich erhebe mich langsam und stemme die Arme vor, ziehe den Rucken nach und liege jetzt halb auf dem Rande des Trichters. Da vernehme ich Geruusche und zucke zuruck. Man hurt trotz des Artillerielurms verduchtige Geruusche. Ich lausche - das Geruusch ist hinter mir. Es sind Leute von uns, die durch den Graben gehen. Nun hure ich auch gedumpfte Stimmen. Es kunnte dem Tone nach Kat sein, der da spricht. Eine ungemeine Wurme durchflutet mich mit einemmal. Diese Stimmen, diese wenigen, leisen Worte, diese Schritte im Graben hinter mir reißen mich mit einem Ruck aus der furchterlichen Vereinsamung der Todesangst, der ich beinahe verfallen wure. Sie sind mehr als mein Leben, diese Stimmen, sie sind mehr als Mutterlichkeit und Angst, sie sind das Sturkste und Schutzendste, was es uberhaupt gibt: es sind die Stimmen meiner Kameraden. Ich bin nicht mehr ein zitterndes Stuck Dasein allein im Dunkel - ich gehure zu ihnen und sie zu mir, wir haben alle die gleiche Angst und das gleiche Leben, wir sind verbunden auf eine einfache und schwere Art. Ich muchte mein Gesicht in sie hineindrucken, in die Stimmen, diese paar Worte, die mich gerettet haben und die mir beistehen werden. Vorsichtig gleite ich uber den Rand und schlungele mich vorwurts. Auf allen vieren schlurfe ich weiter; es geht gut, ich peile die Richtung an, schaue mich um und merke mir das Bild des Geschutzfeuers, um zuruckzufinden. Dann suche ich Anschluß an die andern zu bekommen. Immer noch habe ich Angst, aber es ist eine vernunftige Angst, eine außerordentlich gesteigerte Vorsicht. Die Nacht ist windig, und Schatten gehen hin und her beim Aufflackern des Mundungsfeuers. Man sieht dadurch zu wenig und zu viel. Oft erstarre ich, aber es ist immer nichts. So komme ich ziemlich weit vor und kehre dann im Bogen wieder um. Den Anschluß habe ich nicht gefunden. Jeder Meter nuher zu unserm Graben erfullt mich mit Zuversicht - allerdings auch mit grußerer Hast. Es wure nicht schun, jetzt noch eins verpaßt zu kriegen. Da durchfuhrt mich ein neuer Schreck. Ich kann die Richtung nicht mehr genau wiedererkennen. Still hocke ich mich in einen Trichter und versuche mich zu orientieren. Es ist mehr als einmal vorgekommen, daß jemand vergnugt in einen Graben sprang und dann erst entdeckte, daß es der falsche war. Nach einiger Zeit horche ich wieder. Immer noch bin ich nicht richtig. Das Trichtergewirr erscheint mir jetzt so unubersichtlich, daß ich vor Aufregung uberhaupt nicht mehr weiß, wohin ich mich wenden soll. Vielleicht krieche ich parallel zu den Gruben, das kann ja endlos dauern. Deshalb schlage ich wieder einen Haken. Diese verfluchten Leuchtschirme! Sie scheinen eine Stunde zu brennen, man kann keine Bewegung machen, ohne daß es gleich um einen herum pfeift. Doch es hilft nichts, ich muß heraus. Stockend arbeite ich mich weiter, ich krebse uber den Boden weg und reiße mir die Hunde wund an den zackigen Splittern, die scharf wie Rasiermesser sind. Manchmal habe ich den Eindruck, als wenn der Himmel etwas heller wurde am Horizont, doch das kann auch Einbildung sein. Allmuhlich aber merke ich, daß ich um mein Leben krieche. Eine Granate knallt. Gleich darauf zwei andere. Und schon geht es los. Ein Feueruberfall. Maschinengewehre knattern. Jetzt gibt es vorluufig nichts anderes, als liegenzubleiben. Es scheint ein Angriff zu werden. uberall steigen Leuchtraketen. Ununterbrochen. Ich liege gekrummt in einem großen Trichter, die Beine im Wasser bis zum Bauch. Wenn der Angriff einsetzt, werde ich mich ins Wasser fallen lassen, so weit es geht, ohne zu ersticken, das Gesicht im Dreck. Ich muß den toten Mann markieren. Plutzlich hure ich, wie das Feuer zuruckspringt. Sofort rutsche ich nach unten ins Grundwasser, den Helm ganz im Genick, den Mund nur so weit hoch, daß ich knapp Luft habe. Dann werde ich bewegungslos; - denn irgendwo klirrt etwas, es tappt und trappst nuher, - in mir ziehen sich alle Nerven eisig zusammen. Es klirrt uber mich hinweg, der erste Trupp ist vorbei. Ich habe nur den einen zersprengenden Gedanken gehabt: Was tust du, wenn jemand in deinen Trichter springt? - Jetzt zerre ich rasch den kleinen Dolch heraus, fasse ihn fest und verberge ihn mit der Hand wieder im Schlamm. Ich werde sofort losstechen, wenn jemand hereinspringt, hummert es in meiner Stirn, sofort die Kehle durchstoßen, damit er nicht schreien kann, es geht nicht anders, er wird ebenso erschrocken sein wie ich, und schon vor Angst werden wir ubereinander herfallen, da muß ich der erste sein. Nun schießen unsere Batterien. In meiner Nuhe schlugt es ein. Das macht mich irrsinnig wild, es fehlt mir noch, daß mich die eigenen Geschosse treffen; ich fluche und knirsche in den Dreck hinein; es ist ein wutender Ausbruch, zuletzt kann ich nur noch stuhnen und bitten. Das Gekrach der Granaten trifft mein Ohr. Wenn unsere Leute einen Gegenstoß machen, bin ich befreit. Ich presse den Kopf an die Erde und hure das dumpfe Donnern wie ferne Bergwerksexplosionen - und hebe ihn wieder, um auf die Geruusche oben zu lauschen. Die Maschinengewehre knarren. Ich weiß, daß unsere Drahtverhaue fest und fast unbeschudigt sind; - ein Teil davon ist mit Starks