ein wahres Wort! Witzbolde,
trostlose Witzbolde sind sie! Wissen nichts vom Ernst des Lebens."
"Ich muchte wissen, wer außer Totengrubern und Sargtischlern mehr
vom Ernst des Lebens weiß als wir", sage ich.
"Ach ihr! Ihr wißt nur was von der Lucherlichkeit des Todes",
erklurt Gerda plutzlich aus heiterem Himmel. "Und deshalb versteht ihr
nichts mehr vom Ernst des Lebens."
Wir starren sie maßlos verblufft an. Das ist bereits unverkennbar
Eduards Stil! Ich fuhle, daß ich auf verlorenem Boden kumpfe, gebe
noch nicht auf.
"Von wem hast du das ?" frage ich. "Du Sybille uber den dunklen Teichen
der Schwermut!"
Gerda lacht. "Fur euch ist das Leben immer gleich beim Grabstein. So
schnell geht das nicht fur andere Menschen. Eduard zum Beispiel ist eine
Nachtigall!"
Eduard bluht uber seine fetten Backen. "Wie ist es also mit dem
Rehrucken?" fragt Gerda ihn.
"Nun, schließlich, warum nicht?"
Eduard entschwindet. Ich sehe Gerda an. "Bravo!" sage ich.
"Erstklassige Arbeit. Was sollen wir davon halten?"
"Mach nicht ein Gesicht wie ein Ehemann", erwidert sie. "Freue dich
einfach deines Lebens, fertig."
"Was ist das Leben?"
"Das, was gerade passiert."
"Bravo," sagt Georg. "Und herzlichen Dank fur die Einladung. Wir lieben
Eduard wirklich sehr; er versteht uns nur nicht."
"Liebst du ihn auch?" frage ich Gerda.
Sie lacht. "Wie kindisch er ist", sagt sie zu Georg. "Kunnen Sie ihm
nicht ein bißchen die Augen daruber uffnen, daß nicht alles
immer sein Eigentum ist? Besonders, wenn er selbst nichts dazu tut."
"Ich versuche fortwuhrend, ihn aufzukluren", erwidert Georg, "Er hat
nur einen Haufen Hindernisse in sich, die er Ideale nennt. Wenn er erst
einmal merkt, daß das euphemistischer Egoismus ist, wird er sich schon
bessern."
"Was ist euphemistischer Egoismus?"
"Jugendliche Wichtigtuerei."
Gerda lacht derartig, daß der Tisch zittert. "Ich habe das nicht
ungern", erklurt sie "Aber ohne Abwechslung ermudet es. Tatsachen sind
nun einmal Tatsachen."
Ich hute mich zu fragen, ob Tatsachen wirklich Tatsachen seien. Gerda
sitzt da, ehrlich und fest, und wartet mit aufgestemmtem Messer auf die
zweite Portion Rehrucken. Ihr Gesicht ist runder als fruher; sie hat schon
zugenommen bei Eduards Kost und strahlt mich an und ist
nicht im mindesten verlegen. Weshalb sollte sie auch? Was fur Rechte
habe ich tatsuchlich schon an ihr? Und wer betrugt im Augenblick wen?
"Es ist wahr", sage ich. "Ich bin mit egoistischen Atavismen behangen
wie ein Fels mit Moos. Mea culpa!"
"Recht, Schatz", erwidert Gerda. "Genieße dein Leben und denke
nur, wenn es nutig ist."
"Wann ist es nutig?"
"Wenn du Geld verdienen mußt oder vorwurtskommen willst."
"Bravo", sagt Georg wieder. In diesem Augenblick erscheint der
Rehrucken, und das Gespruch stockt. Eduard uberwacht uns wie eine Bruthenne
ihre Kuken. Es ist das erstemal, daß er uns unser Essen gunnt. Er hat
ein neues Lucheln, aus dem ich nicht klug werde. Es ist voll von feister
uberlegenheit, und er steckt es Gerda ab und zu heimlich zu wie ein
Verbrecher jemandem einen Kassiber im Gefungnis. Aber Gerda hat immer noch
ihr altes, vullig offenes Lucheln, das sie unschuldig wie ein Kommunionkind
mir zustrahlt, wenn Eduard wegsieht. Sie ist junger als ich, aber ich habe
das Gefuhl, daß sie mindestens vierzig Jahre mehr Erfahrung hat.
"Iß, Baby", sagt sie.
Ich esse mit schlechtem Gewissen und starkem Mißtrauen, und der
Rehbraten, eine Delikatesse ersten Ranges, schmeckt mir plutzlich nicht.
"Noch ein Stuckchen?" fragt Eduard mich. "Oder noch etwas
Preiselbeersoße?"
Ich starre ihn an. Ich habe das Gefuhl, als habe mein fruherer
Rekrutenunteroffizier mir vorgeschlagen, ihn zu kussen. Auch Georg ist
alarmiert. Ich weiß, daß er nachher behaupten wird, der Grund
fur Eduards unglaubliche Freigebigkeit sei die Tatsache, daß Gerda mit
ihm bereits geschlafen habe - aber das weiß ich dieses Mal besser.
Rehrucken kriegt sie nur so lange, wie sie das noch nicht getan hat. Wenn er
sie erst hat, gibt es nur noch Kunigsberger Klopse mit deutscher Tunke. Und
ich habe keine Sorge, daß Gerda das nicht auch weiß.
Trotzdem beschließe ich, mit ihr nach dem Essen zusammen
wegzugehen. Vertrauen ist zwar Vertrauen, aber Eduard hat zuviel
verschiedene Likure in der Bar.
Still und mit allen Sternen hungt die Nacht uber der Stadt. Ich hocke
am Fenster meines Zimmers und warte auf Knopf, fur den ich die Regenruhre
vorbereitet habe. Sie reicht gerade ins Fenster hinein und luuft von da uber
den Toreingang bis an das Knopfsche Haus. Dort macht das kurze Stuck eine
rechtwinklige Biegung zum Hof hin. Man kann aber die Ruhre vom Hof aus nicht
sehen.
Ich warte und lese die Zeitung. Der Dollar ist um weitere zehntausend
Mark hinaufgeklettert. Gestern gab es nur einen Selbstmord, dafur aber zwei
Streiks. Die Beamten haben nach langem Verhandeln endlich eine Lohnerhuhung
erhalten, die inzwischen bereits so entwertet ist, daß sie jetzt kaum
noch einen Liter Milch in der Woche dafur kaufen kunnen. Nuchste Woche
wahrscheinlich nur noch eine Schachtel Streichhulzer. Die Arbeitslosenziffer
ist um weitere hundertfunfzigtausend gestiegen. Unruhen mehren sich im
ganzen Reich. Neue Rezepte fur die Verwertung von Abfullen in der Kuche
werden angepriesen. Die Grippewelle steigt weiter. Die Erhuhung der Renten
fur die Alters- und Invalidenversicherung ist einem Komitee zum Studium
uberwiesen worden. Man erwartet in einigen Monaten einen Bericht daruber.
Die Rentner und Invaliden versuchen sich in der Zwischenzeit durch Betteln
oder durch Unterstutzungen von Bekannten und Verwandten vor dem Verhungern
zu schutzen.
Draußen kommen leise Schritte heran. Ich luge vorsichtig aus dem
Fenster. Es ist nicht Knopf; es ist ein Liebespaar, das auf Zehenspitzen
durch den Hof in den Garten schleicht. Die Saison ist jetzt in vollem Gange,
und die Not der Liebenden ist grußer als je. Wilke hat recht: Wohin
sollen sie gehen, um ungesturt zu sein? Wenn sie versuchen, in ihre
mublierten Zimmer zu schleichen, liegt die Wirtin auf der Lauer um sie im
Namen der Moral und des Neides wie ein Engel mit dem Schwert auszutreiben -
in uffentlichen Anlagen und Gurten werden sie von Polizisten angebrullt und
festgenommen - fur Hotelzimmer haben sie kein Geld - wohin sollen sie also
gehen? In unserem Hof sind sie ungesturt. Die grußeren Denkmuler
bieten Schutz vor anderen Paaren; man wird nicht gesehen, und man kann sich
an sie anlehnen und in ihrem Schatten flustern und sich umarmen, und die
großen Kreuzdenkmuler sind nach wie vor fur die sturmisch Liebenden an
feuchten Tagen da, wenn sie sich nicht am Boden lagern kunnen; dann halten
die Mudchen sich an ihnen fest und werden von ihren Bewerbern bedrungt, der
Regen schlugt in ihre heißen Gesichter, der Nebel weht, ihr Atem
fliegt stoßweise, und die Kupfe, deren Haar ihr Geliebter mit seinen
Fuusten gepackt hat, sind hochgerissen wie die wiehernder Pferde. Die
Schilder, die ich neulich angebracht habe, haben nichts genutzt. Wer denkt
schon an seine Zehen, wenn sein ganzes Dasein in Flammen steht?
Plutzlich hure ich Knopfs Schritte in der Gasse. Ich sehe auf die Uhr.
Es ist halb drei; der Schleifer vieler Generationen unglucklicher Rekruten
muß also schwer geladen haben. Ich drehe das Licht ab.
Zielbewußt steuert Knopf sofort auf den schwarzen Obelisken zu. Ich
nehme das Ende der Regenruhre, das in mein Fenster ragt, presse meinen Mund
dicht an die uffnung und sage: "Knopf!"
Es klingt hohl am anderen Ende, im Rucken des Feldwebels, aus der
Ruhre, als kume es aus einem Grabe. Knopf blickt um sich; er weiß
nicht, woher die Stimme kommt. "Knopf!" wiederhole ich. "Schwein! Schumst du
dich nicht? Habe ich dich deshalb erschaffen, damit du suufst und Grabsteine
anpißt, du Sau?"
Knopf fuhrt wieder herum. "Was?" lallt er. "Wer ist da?"
"Dreckfink!" sage ich, und es klingt geisterhaft und unheimlich.
"Fragen stellst du auch noch? Hast du einen Vorgesetzten zu fragen? Steh
stramm, wenn ich mit dir rede!"
Knopf starrt sein Haus an, von dem die Stimme kommt. Alle Fenster darin
sind dunkel und geschlossen. Auch die Tur ist zu. Das Rohr auf der Mauer
sieht er nicht." Steh stramm, du pflichtvergessener Lump von einem
Feldwebel!" sage ich. "Habe ich dir dafur Litzen am Kragen und einen langen
Subel verliehen, damit du Steine beschmutzest, die fur den Gottesacker
bestimmt sind?" Und schurfer, zischend, im Kommandoton: "Konchen zusammen,
wurdeloser Grabsteinnusser!"
Das Kommando wirkt. Knopf steht stramm, die Hunde an der Hosennaht. Der
Mond spiegelt sich in seinen weit aufgerissenen. Augen. "Knopf", sage ich
mit Gespensterstimme. "Du wirst zum Soldaten zweiter Klasse degradiert, wenn
ich dich noch einmal erwische! Du Schandfleck auf der Ehre des deutschen
Soldaten und des Vereins aktiver Feldwebel a. D."
Knopf horcht, den Kopf etwas seitlich hochgereckt, wie ein
mondsuchtiger Hund. "Der Kaiser?" flustert er.
"Knupfe deine Hose zu und verschwinde!" flustere ich hohl zuruck. "Und
merke dir: Riskiere deine Sauerei noch einmal, und du wirst degradiert und
kastriert! Kastriert auch! Und nun fort, du liederlicher Zivilist,
marsch-marsch!"
Knopf stolpert benommen auf seine Haustur los. Gleich darauf bricht das
Liebespaar wie zwei aufgescheuchte Rehe aus dem Garten und saust auf die
Straße hinaus. Das hatte ich naturlich nicht gewollt.
14 Der Dichterklub ist bei Eduard versammelt. Der Ausflug zum Bordell
ist beschlossen. Otto Bambuss erhofft davon eine Durchblutung seiner Lyrik;
Hans Hungermann will sich Anregungen holen fur seinen "Casanova" und einen
Zyklus in freien Rhythmen: "Dumon Weib", und selbst Matthias Grund, der
Dichter des Buches vom Tode, glaubt fur das letzte Delirium eines
Paranoikers ein paar flotte Details erhaschen zu kunnen. "Warum kommst du
nicht mit, Eduard?" frage ich.
"Kein Bedurfnis", erklurt er uberlegen. "Habe alles, was ich brauche."
"So? Hast du?" Ich weiß, was er vorspiegeln will, und ich
weiß auch daß er lugt.
"Er schluft mit allen Zimmermudchen seines Hotels", erklurt Hans
Hungermann. "Wenn sie sich weigern, entlußt er sie. Er ist ein
wahrhafter Volksfreund."
"Zimmermudchen! Das wurdest du tun! Freie Rhythmen, freie Liebe! Ich
nicht! Nie etwas im eigenen Hause! Alter Wahlspruch."
"Mit Gusten auch nicht?"
"Guste." Eduard richtet die Augen zum Himmel. "Da kann man
sich naturlich oft nicht helfen. Die Herzogin von Bell-Armin zum
Beispiel - "
"Was zum Beispiel?" frage ich, als er schweigt.
Eduard ziert sich. "Ein Kavalier ist diskret."
Hungermann bekommt einen Hustenanfall. "Schune Diskretion! Wie alt war
sie? Achtzig?"
Eduard luchelt veruchtlich - aber im nuchsten Moment fullt das Lucheln
von ihm ab wie eine Maske, deren Knoten gerissen ist; Valentin Busch ist
eingetreten. Er ist zwar kein literarischer Mann, aber er hat trotzdem
beschlossen, mitzumachen. Er will dabeisein, wenn Otto Bambuss seine
Jungfernschaft verliert. "Wie geht es, Eduard?" fragt er. "Schun, daß
du noch am Leben bist, was ? Das mit der Herzogin huttest du sonst nicht
genießen kunnen."
"Woher weißt du, daß es wahr ist?" frage ich vullig
uberrascht.
"Habe es nur draußen im Gang gehurt. Ihr redet ziemlich laut.
Habt wohl schon allerlei getrunken. Immerhin, ich gunne Eduard die Herzogin
von Herzen. Freue mich, daß ich es war, der ihn dafur retten konnte."
"Es war lange vor dem Kriege", erklurt Eduard eilig. Er wittert einen
neuen Anschlag auf seinen Weinkeller.
"Gut, gut", erwidert Valentin nachgiebig. "Nach dem Kriege wirst du
auch schon deinen Mann gestanden und Schunes erlebt haben."
"In diesen Zeiten?"
"Gerade in diesen Zeiten! Wenn der Mensch verzweifelt ist, ist er
leichter dem Abenteuer zugunglich. Und gerade Herzoginnen, Prinzessinnen und
Grufinnen sind in diesen Jahren sehr verzweifelt. Inflation, Republik, keine
kaiserliche Armee mehr, das kann ein Aristokratenherz schon brechen! Wie ist
es mit einer guten Flasche, Eduard?"
"Ich habe jetzt keine Zeit", erwidert Eduard geistesgegenwurtig. "Tut
mir leid, Valentin, aber heute geht es nicht. Wir machen mit dem Klub einen
Ausflug."
"Gehst du denn mit?" frage ich.
"Naturlich! Als Schatzmeister! Muß ich doch! Dachte vorhin nicht
daran! Pflicht ist Pflicht."