Патрик Зюскинд. Парфюмер (На немецком языке) Patrick Suskind. Das Parfum --------------------------------------------------------------- Патрик Зюскинд. Парфюмер. На немецком языке. 1998 OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru ? http://frank.deutschesprache.ru --------------------------------------------------------------- ERSTER TEIL 1 Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehurte. Seine Geschichte soll hier erzuhlt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz zu den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouches, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen beruhmteren Finstermunnern an Selbstuberhebung, Menschenverachtung, Immoralitut, kurz an Gottlosigkeit nachgestanden hutte, sondern weil sich sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschrunkte, welches in der Geschichte keine Spuren hinterlusst: auf das fluchtige Reich der Geruche. Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Studten ein fur uns moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen nach Mist, es stanken die Hinterhufe nach Urin, es stanken die Treppenhuuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Kuchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett; die ungelufteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem stechend sußen Duft der Nachttupfe. Aus den Kaminen stank der Schwefel, aus den Gerbereien stanken die utzenden Laugen, aus den Schlachthufen stank das geronnene Blut. Die Menschen stanken nach Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach verrotteten Zuhnen, aus ihren Mugen nach Zwiebelsaft und an den Kurpern, wenn sie nicht mehr ganz jung waren, nach altem Kuse und nach saurer Milch und nach Geschwulstkrankheiten. Es stanken die Flusse, es stanken die Plutze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brucken und in den Palusten. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die Meistersfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der Kunig stank, wie ein Raubtier stank er, und die Kunigin wie eine alte Ziege, sommers wie winters. Denn der zersetzenden Aktivitut der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert noch keine Grenze gesetzt, und so gab es keine menschliche Tutigkeit, keine aufbauende und keine zersturende, keine uußerung des aufkeimenden oder verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen wure. Und naturlich war in Paris der Gestank am grußten, denn Paris war die grußte Stadt Frankreichs. Und innerhalb von Paris wiederum gab es einen Ort, an dem der Gestank ganz besonders infernalisch herrschte, zwischen der Rue aux Fers und der Rue de la Ferronnerie, numlich den Cimetiere des Innocents. Achthundert Jahre lang hatte man hierher die Toten des Krankenhauses Hotel-Dieu und der umliegenden Pfarrgemeinden verbracht, achthundert Jahre lang Tag fur Tag die Kadaver zu Dutzenden herbeigekarrt und in lange Gruben geschuttet, achthundert Jahre lang in den Gruften und Beinhuusern Knuchelchen auf Knuchelchen geschichtet. Und erst sputer, am Vorabend der Franzusischen Revolution, nachdem einige der Leichengruben gefuhrlich eingesturzt waren und der Gestank des uberquellenden Friedhofs die Anwohner nicht mehr zu bloßen Protesten, sondern zu wahren Aufstunden trieb, wurde er endlich geschlossen und aufgelassen, wurden die Millionen Knochen und Schudel in die Katakomben von Montmartre geschaufelt, und man errichtete an seiner Stelle einen Marktplatz fur Viktualien. Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Kunigreichs, wurde am 17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der heißesten Tage des Jahres. Die Hitze lag wie Blei uber dem Friedhof und quetschte den nach einer Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem Hurn riechenden Verwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles Mutter stand, als die Wehen einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux Fers und schuppte Weißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die Fische, angeblich erst am Morgen aus der Seine gezogen, stanken bereits so sehr, dass ihr Geruch den Leichengeruch uberdeckte. Grenouilles Mutter aber nahm weder den Fisch- noch den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen Geruche im huchsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr Leib, und der Schmerz tutete alle Empfunglichkeit fur uußere Sinneseindrucke. Sie wollte nur noch, dass der Schmerz aufhure, sie wollte die eklige Geburt so rasch als muglich hinter sich bringen. Es war ihre funfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude absolviert, und alle waren Totgeburten oder Halbtotgeburten gewesen, denn das blutige Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekruse, das da schon lag, und lebte auch nicht viel mehr, und abends wurde alles mitsammen weggeschaufelt und hinubergekarrt zum Friedhof oder hinunter zum Fluss. So sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter, die noch eine junge Frau war, gerade Mitte zwanzig, die noch ganz hubsch aussah und noch fast alle Zuhne im Munde hatte und auf dem Kopf noch etwas Haar und außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine ernsthafte Krankheit; die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht funf oder zehn Jahre lang, und vielleicht sogar einmal zu heiraten und wirkliche Kinder zu bekommen als ehrenwerte Frau eines verwitweten Handwerkers oder so... Grenouilles Mutter wunschte, dass alles schon voruber wure. Und als die Presswehen einsetzten, hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und gebar dort, wie schon vier Mal zuvor und nabelte mit dem Fischmesser das neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze und des Gestanks, den sie als solchen nicht wahrnahm, sondern nur als etwas Unertrugliches, Betuubendes - wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges Zimmer, in dem zu viel Narzissen stehen -, wurde sie ohnmuchtig, kippte zur Seite, fiel unter dem Tisch hervor mitten auf die Straße und blieb dort liegen, das Messer in der Hand. Geschrei, Gerenne, im Kreis steht die glotzende Menge, man holt die Polizei. Immer noch liegt dieFrau mit dem Messer in der Hand auf der Straße, la ngsam kommt sie zu sich. Was ihr geschehen sei? "Nichts." Was sie mit dem Messer tue? "Nichts." Woher das Blut an ihren Rucken komme? "Von den Fischen." Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen. Da fungt, wider Erwarten, die Geburt unter dem Schlachttisch zu schreien an. Man schaut nach, entdeckt unter einem Schwurm von Fliegen und zwischen Gekruse und abgeschlagenen Fischkupfen das Neugeborene, zerrt es heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen. Und weil sie gestundig ist und ohne weiteres zugibt, dass sie das Ding bestimmt wurde haben verrecken lassen, wie sie es im ubrigen schon mit vier anderen getan habe, macht man ihr den Prozess, verurteilt sie wegen mehrfachen Kindermords und schlugt ihr ein paar Wochen sputer auf der Place de Greve den Kopf ab. Das Kind hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das dritte Mal die Amme gewechselt. Keine wollte es lunger als ein paar Tage behalten. Es sei zu gierig, hieß es, sauge fur zwei, entziehe den anderen Stillkindern die Milch und damit ihnen, den Ammen, den Lebensunterhalt, da rentables Stillen bei einem einzigen Suugling unmuglich sei. Der zustundige Polizeioffizier, ein gewisser La Fosse, war die Sache alsbald leid und wollte das Kind schon zur Sammelstelle fur Findlinge und Waisen in der uußeren Rue Saint-Antoine bringen lassen, von wo aus tuglich Kindertransporte ins staatliche Großfindelheim von Rouen abgingen. Da nun aber diese Transporte von Lasttrugern vermittels Bastkiepen durchgefuhrt wurden, in welche man aus Rationalitutsgrunden bis zu vier Suuglinge gleichzeitig steckte; da deshalb die Sterberate unterwegs außerordentlich hoch war; da aus diesem Grund die Kiepentruger angehalten waren, nur getaufte Suuglinge zu befurdern und nur solche, die mit einem ordnungsgemußen Transportschein versehen waren, welcher in Rouen abgestempelt werden musste; da das Kind Grenouille aber weder getauft war noch uberhaupt einen Namen besaß, den man ordnungsgemuß in den Transportschein hutte eintragen kunnen; da es ferner seitens der Polizei nicht gut angungig gewesen wure, ein Kind anonymiter vor den Pforten der Sammelstelle auszusetzen, was allein die Erfullung der ubrigen Formalituten erubrigt haben wurde... - aus einer Reihe von Schwierigkeiten burokratischer und verwaltungstechnischer Art also, die sich bei der Abschiebung des Kleinkinds zu ergeben schienen, und weil im ubrigen die Zeit drungte, nahm der Polizeioffizier La Fosse von seinem ursprunglichen Entschluss wieder Abstand und gab Anweisung, den Knaben bei irgendeiner kirchlichen Institution gegen Aushundigung einer Quittung abzugeben, damit man ihn dort taufe und uber sein weiteres Schicksal entscheide. Im Kloster von Saint-Merri in der Rue Saint-Martin wurde man ihn los. Er erhielt die Taufe und den Namen Jean-Baptiste. Und weil der Prior an diesem Tage gute Laune hatte und seine karitativen Fonds noch nicht erschupft waren, ließ man das Kind nicht nach Rouen exportieren, sondern auf Kosten des Klosters aufpuppeln. Es wurde zu diesem Behuf einer Amme namens Jeanne Bussie in der Rue Saint-Denis ubergeben, welche bis auf weiteres drei Franc pro Woche fur ihre Bemuhungen erhielt. 2 Einige Wochen sputer stand die Amme Jeanne Bussie mit einem Henkelkorb in der Hand vor der Pforte des Klosters von Saint-Merri und sagte dem uffnenden Pater Terrier, einem etwa funfzigjuhrigen kahlkupfigen, leicht nach Essig riechenden Munch "Da!" und stellte den Henkelkorb auf die Schwelle. "Was ist das?" sagte Terrier und beugte sich uber den Korb und schnupperte daran, denn er vermutete Essbares. "Der Bastard der Kindermurderin aus der Rue aux Fers!" Der Pater kramte mit dem Finger im Henkelkorb herum, bis er das Gesicht des schlafenden Suuglings freigelegt hatte. "Gut schaut er aus. Rosig und wohlgenuhrt." "Weil er sich an mir vollgefressen hat. Weil er mich leergepumpt hat bis auf die Knochen. Aber damit ist jetzt Schluss. Jetzt kunnt Ihr ihn selber weiterfuttern mit Ziegenmilch, mit Brei, mit Rubensaft. Er frisst alles, der Bastard." Pater Terrier war ein gemutlicher Mann. In seine Zustundigkeit fiel die Verwaltung des klusterlichen Karitativfonds, die Verteilung von Geld an Arme und Bedurftige. Und er erwartete, dass man ihm dafur Danke sagte und ihn des weiteren nicht belustigte. Technische Einzelheiten waren ihm sehr zuwider, denn Einzelheiten bedeuteten immer Schwierigkeiten, und Schwierigkeiten bedeuteten eine Sturung seiner Gemutsruhe, und das konnte er gar nicht vertragen. Er urgerte sich, dass er die Pforte uberhaupt geuffnet hatte. Er wunschte, dass diese Person ihren Henkelkorb nuhme und nach Hause ginge und ihn in Ruhe ließe mit ihren Suuglingsproblemen. Langsam richtete er sich auf und sog mit einem Atemzug den Duft von Milch und kusiger Schafswolle ein, den die Amme verstrumte. Es war ein angenehmer Duft. "Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe wirklich nicht, worauf du hinauswillst. Ich kann mir nur vorstellen, dass es diesem Suugling durchaus nicht schaden wurde, wenn er noch geraume Zeit an deinen Brusten luge." "Ihm nicht", schnarrte die Amme zuruck, "aber mir. Zehn Pfund habe ich abgenommen und dabei gegessen fur drei. Und wofur? Fur drei Franc in der Woche!" "Ach, ich verstehe", sagte Terrier fast erleichtert, "ich bin im Bilde: Es geht also wieder einmal ums Geld." "Nein!" sagte die Amme. "Doch! Immer geht es ums Geld. Wenn an diese Pforte geklopft wird, geht es ums Geld. Einmal wunschte ich mir, dass ich uffnete, und es stunde ein Mensch da, dem es um etwas anderes ginge. Jemand, der beispielsweise eine kleine Aufmerksamkeit vorbeibruchte. Beispielsweise etwas Obst oder ein paar Nusse. Es gibt doch im Herbst eine Menge Dinge, die man vorbeibringen kunnte. Blumen vielleicht. Oder wenn bloß jemand kume und freundlich sagte: >Gott zum Gruße, Pater Terrier, ich wunsche Ihnen einen schunen Tag!< Aber das werde ich wohl nie mehr erleben. Wenn es kein Bettler ist, dann ist es ein Hundler, und wenn es kein Hundler ist, dann ist es ein Handwerker, und wenn er kein Almosen will, dann prusentiert er eine Rechnung. Ich kann schon gar nicht mehr auf die Straße gehen. Wenn ich auf die Straße gehe, bin ich nach drei Schritten umzingelt von Individuen, die Geld wollen!" "Nicht von mir", sagte die Amme. "Aber ich sage dir eines: Du bist nicht die einzige Amme im Sprengel. Es gibt Hunderte von erstklassigen Ziehmuttern, die sich darum reißen werden, diesen entzuckenden Suugling fur drei Franc pro Woche an die Brust zu legen oder ihm Brei oder Sufte oder sonstige Nuhrmittel einzuflußen..." "Dann gebt ihn einer von denen!" "... Andrerseits ist es nicht gut, ein Kind so herumzuschubsen. Wer weiß, ob es mit anderer Milch so gut gedeiht wie mit deiner. Es ist den Duft deiner Brust gewuhnt, musst du wissen, und den Schlag deines Herzens." Und abermals nahm er einen tiefen Atemzug vom warmen Dunst, den die Amme verstrumte, und sagte dann, als er merkte, dass seine Worte keinen Eindruck auf sie gemacht hatten: "Nimm jetzt das Kind mit nach Hause! Ich werde die Sache mit dem Prior besprechen. Ich werde ihm vorschlagen, dir kunftig vier Franc in der Woche zu geben." "Nein", sagte die Amme. "Also gut: funf!" "Nein." "Wie viel verlangst du denn noch?" schrie Terrier sie an. "Funf Franc sind ein Haufen Geld fur die untergeordnete Aufgabe, ein kleines Kind zu ernuhren!" "Ich will uberhaupt kein Geld", sagte die Amme. "Ich will den Bastard aus dem Haus haben." "Aber warum denn, liebe Frau?" sagte Terrier und fingerte wieder in dem Henkelkorb herum. "Er ist doch ein allerliebstes Kind. Er sieht rosa aus, er schreit nicht, er schluft gut, und er ist getauft." "Er ist vom Teufel besessen." Rasch zog Terrier seine Finger aus dem Korb. "Unmuglich! Es ist absolut unmuglich, dass ein Suugling vom Teufel besessen ist. Ein Suugling ist kein Mensch, sondern ein Vormensch und besitzt noch keine voll ausgebildete Seele. Infolgedessen ist er fur den Teufel uninteressant. Spricht er vielleicht schon? Zuckt es in ihm? Bewegt er Dinge im Zimmer? Geht ein ubler Gestank von ihm aus?" "Er riecht uberhaupt nicht", sagte die Amme. "Da hast du es! Das ist ein eindeutiges Zeichen. Wenn er vom Teufel besessen wure, musste er stinken." Und um die Amme zu beruhigen und seinen eigenen Mut unter Beweis zu stellen, hob Terrier den Henkelkorb hoch und hielt ihn sich unter die Nase. "Ich rieche nichts Absonderliches", sagte er, nachdem er eine Weile geschnuppert hatte, "wirklich nichts Absonderliches. Mir scheint allerdings, als ob da etwas aus der Windel ruche." Und er hielt ihr den Korb hin, damit sie seinen Eindruck bestutige."Das meine ich nicht", sagte die Amme unwirsch und schob den Korb von sich. "Ich meine nicht das, was in der Windel ist. Seine Exkremente riechen wohl. Er selbst, der Bastard selbst, riecht nicht." "Weil er gesund ist", rief Terrier, "weil er gesund ist, deshalb riecht er nicht! Nur kranke Kinder riechen, das ist doch bekannt. Bekanntlich riecht ein Kind, das Blattern hat, nach Pferdedung, und eines, welches Scharlachfieber hat, nach alten upfeln, und ein schwindsuchtiges Kind, das riecht nach Zwiebeln. Es ist gesund, das ist alles, was ihm fehlt. Soll es denn stinken? Stinken denn deine eigenen Kinder?" "Nein", sagte die Amme. "Meine Kinder riechen so, wie Menschenkinder riechen sollen." Terrier stellte den Henkelkorb vorsichtig auf den Boden zuruck, denn er fuhlte, wie die ersten Wallungen von Wut uber die Widerborstigkeit der Person in ihm aufstiegen. Es war nicht auszuschließen, dass er im Fortgang des Disputes beide Arme zur freieren Gestik benutigte, und er wollte nicht, dass der Suugling dadurch Schaden nuhme. Vorerst allerdings verknotete er seine Hunde hinter dem Rucken, streckte der Amme seinen spitzen Bauch entgegen und fragte scharf: "Du behauptest also zu wissen, wie ein Menschenkind, das ja immerhin auch - daran muchte ich erinnern, zumal wenn es getauft ist - ein Gotteskind ist, zu riechen habe?" "Ja", sagte die Amme. "Und behauptest ferner, dass, wenn es nicht ruche, wie du meintest, dass es riechen solle - du, die Amme Jeanne Bussie aus der Rue Saint-Denis! -, es dann ein Kind des Teufels sei?" Er schwang die Linke hinter seinem Rucken hervor und hielt ihr drohend den gebogenen Zeigefinger wie ein Fragezeichen vors Gesicht. Die Amme uberlegte. Es war ihr nicht recht, dass das Gespruch mit einem Mal zu einem theologischen Verhur ausartete, bei dem sie nur unterliegen konnte. "Das will ich nicht gesagt haben", antwortete sie ausweichend. "Ob die Sache etwas mit dem Teufel zu tun hat oder nicht, das musst Ihr selbst entscheiden, Pater Terrier, dafur bin ich nicht zustundig. Ich weiß nur eins: dass mich vor diesem Suugling graust, weil er nicht riecht, wie Kinder riechen sollen." "Aha", sagte Terrier befriedigt und ließ seinen Arm wieder zuruckpendeln. "Das mit dem Teufel nehmen wir also wieder zuruck. Gut. Aber nun sage mir gefulligst: Wie riecht ein Suugling denn, wenn er so riecht, wie du glaubst, dass er riechen solle? Na?" "Gut riecht er", sagte die Amme. "Was heisst >gut<?" brullte Terrier sie an. "Gut riecht vieles. Ein Bund Lavendel riecht gut. Suppenfleisch riecht gut. Die Gurten von Arabien riechen gut. Wie riecht ein Suugling, will ich wissen?" Die Amme zugerte. Sie wusste wohl, wie Suuglinge rochen, sie wusste es ganz genau, sie hatte doch schon Dutzende genuhrt, gepflegt, geschaukelt, gekusst... sie konnte sie nachts mit der Nase finden, sie trug den Suuglingsgeruch selbst jetzt deutlich in der Nase. Aber sie hatte ihn noch nie mit Worten bezeichnet. "Na?" bellte Terrier und knipste ungeduldig an seinen Fingernugeln. "Also -", begann die Amme, "es ist nicht ganz leicht zu sagen, weil... weil, sie riechen nicht uberall gleich, obwohl sie uberall gut riechen, Pater, verstehen Sie, also an den Fußen zum Beispiel, da riechen sie wie ein glatter warmer Stein - nein eher wie Topfen... oder wie Butter, wie frische Butter, ja genau: wie frische Butter riechen sie. Und am Kurper riechen sie wie ... wie eine Galette, die man in Milch gelegt hat. Und am Kopf, da oben, hinten auf dem Kopf, wo das Haar den Wirbel macht, da, schauen Sie, Pater, da, wo bei Ihnen nichts mehr ist...", und sie tippte Terrier, der uber diesen Schwall detaillierter Dummheit fur einen Moment sprachlos geworden war und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die Glatze, "... hier, genau hier, da riechen sie am besten. Da riechen sie nach Karamel, das riecht so suß, so wunderbar, Pater, Sie machen sich keine Vorstellung! Wenn man sie da gerochen hat, dann liebt man sie, ganz gleich ob es die eignen oder fremde sind. Und so und nicht anders mussen kleine Kinder riechen. Und wenn sie nicht so riechen, wenn sie da oben gar nicht riechen, noch weniger als kalte Luft, so wie der da, der Bastard, dann... Sie kunnen das erkluren, wie Sie wollen, Pater, aber ich" - und sie verschrunkte entschlossen die Arme unter ihrem Busen und warf einen so angeekelten Blick auf den Henkelkorb zu ihren Fußen, als enthielte er Kruten -, "ich, Jeanne Bussie, werde das da nicht mehr zu mir nehmen!" Pater Terrier hob langsam den gesenkten Kopf und fuhr sich ein paarmal mit dem Finger uber die Glatze, als wolle er dort Haare ordnen, legte den Finger wie zufullig unter seine Nase und schnupperte nachdenklich. "Wie Karamel...?" fragte er und versuchte, seinen strengen Ton wiederzufinden... "Karamel! Was weisst du von Karamel? Hast du schon mal welches gegessen?" "Nicht direkt", sagte die Amme. "Aber ich war einmal in einem großen Hotel in der Rue Saint-Honore und habe zugesehen, wie es gemacht wurde aus geschmolzenem Zucker und Rahm. Es roch so gut, dass ich es nicht mehr vergessen habe." "Jaja. Schon recht", sagte Terrier und entfernte den Finger von der Nase. "Bitte schweige jetzt! Es ist fur mich uberaus anstrengend, mich weiterhin auf diesem Niveau mit dir zu unterhalten. Ich stelle fest, du weigerst dich, aus welchen Grunden auch immer, den dir anvertrauten Suugling Jean-Baptiste Grenouille weiter zu ernuhren, und erstattest ihn hiermit seinem provisorischen Vormund, dem Kloster von Saint-Merri zuruck. Ich finde das betrublich, aber ich kann es wohl nicht undern. Du bist entlassen." Damit packte er den Henkelkorb, nahm noch einen Atemzug von dem verwehenden warmen, wolligen Milchdunst und warf das Tor ins Schloss. Dann ging er in sein Buro. 3 Pater Terrier war ein gebildeter Mann. Er hatte nicht nur Theologie studiert, sondern auch die Philosophen gelesen und beschuftigte sich nebenbei mit Botanik und Alchemie. Er hielt einiges auf die Kraft seines kritischen Geistes. Zwar wure er nicht so weit gegangen, wie manche es taten, die Wunder, die Orakel oder die Wahrheit der Texte der Heiligen Schrift in Frage zu stellen, auch wenn sie strenggenommen mit Vernunft allein nicht zu erkluren waren, ja dieser sogar oft direkt widersprachen. Von solchen Problemen ließ er lieber seine Finger, sie waren ihm zu ungemutlich und wurden ihn nur in die peinlichste Unsicherheit und Unruhe sturzen, wo man doch, gerade um sich seiner Vernunft zu bedienen, der Sicherheit und der Ruhe bedurfte. Was er aber aufs entschiedenste bekumpfte, waren die abergluubischen Vorstellungen des einfachen Volkes: Hexerei und Kartenlesen, Amulettgetrage, buser Blick, Beschwurungen, Vollmondhokuspokus und was sie sonst noch alles trieben - es war ja tief deprimierend zu sehen, dass solche heidnischen Gebruuche nach uber tausendjuhriger fester Installation der christlichen Religion immer noch nicht ausgerottet waren! Auch die meisten Fulle von sogenannter Teufelsbesessenheit und Satansbundelei erwiesen sich bei nuherer Betrachtung als abergluubisches Spektakel. Zwar, die Existenz des Satans selbst zu leugnen, seine Macht zu bezweifeln - so weit wurde Terrier nicht gehen; solche Probleme zu entscheiden, die die Grundfesten der Theologie beruhrten, waren andere Instanzen berufen als ein kleiner einfacher Munch. Auf der anderen Seite lag es klar zutage, dass, wenn eine einfultige Person wie jene Amme behauptete, sie habe einen Teufelsspuk entdeckt, der Teufel nie und nimmer seine Hand im Spiel haben konnte. Gerade dass sie ihn entdeckt zu haben glaubte, war ein sicherer Beweis dafur, dass da nichts Teuflisches zu entdecken war, denn so dumm stellte sich der Teufel auch wieder nicht an, dass er sich von der Amme Jeanne Bussie entlarven ließ. Und noch dazu mit der Nase! Mit dem primitiven Geruchsorgan, dem niedrigsten der Sinne! Als ruche die Hulle nach Schwefel und das Paradies nach Weihrauch und Myrrhe! Schlimmster Aberglaube, wie in dunkelster heidnischster Vorzeit, als die Menschen noch wie Tiere lebten, als sie noch keine scharfen Augen besaßen, die Farbe nicht kannten, aber Blut riechen zu kunnen glaubten, meinten, Freund von Feind zu erriechen, von kannibalischen Riesen und Werwulfen gewittert und von Erinnyen gerochen zu werden, und ihren scheußlichen Guttern stinkende, qualmende Brandopfer brachten. Entsetzlich! >Es sieht der Narr mit der Nase< mehr als mit den Augen, und wahrscheinlich musste das Licht der gottgegebenen Vernunft noch tausend weitere Jahre leuchten, ehe die letzten Reste des primitiven Glaubens verscheucht waren. "Ach, und das arme kleine Kind! Das unschuldige Wesen! Liegt in seinem Korb und schlummert, ahnt nichts von den ekligen Verduchtigungen, die gegen es erhoben werden. Du ruchest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt die unverschumte Person zu behaupten. Ja, was sagen wir denn dazu? Duziduzi!" Und er wiegte den Korb sachte auf den Knien, streichelte dem Suugling mit dem Finger uber den Kopf und sagte von Zeit zu Zeit "duziduzi", was er fur einen auf Kleinkinder zurtlich und beruhigend wirkenden Ausdruck hielt. "Nach Karamel sollst du riechen, so ein Unsinn, duziduzi!" Nach einer Weile zog er den Finger zuruck, hielt ihn sich unter die Nase, schnupperte, roch aber nichts als das Sauerkraut, das er mittags gegessen hatte. Er zugerte einen Moment, blickte sich um, ob ihn auch niemand beobachte, hob den Korb empor, senkte seine dicke Nase hinein. Ganz knapp, so dass die dunnen rutlichen Kindshaare seine Nustern kitzelten, schnoberte er uber den Kopf des Suuglings, in der Erwartung, einen Geruch aufzusaugen. Er wusste nicht so recht, wie Suuglinge am Kopf zu riechen hatten. Naturlich nicht nach Karamel, so viel stand fest, denn Karamel war ja geschmolzener Zucker, und wie sollte ein Suugling, der bisher nur Milch getrunken hatte, nach geschmolzenem Zucker riechen. Nach Milch kunnte er riechen, nach Ammenmilch. Aber er roch nicht nach Milch. Nach Haaren konnte er riechen, nach Haut und Haaren und vielleicht nach ein bisschen Kinderschweiß. Und Terrier schnupperte und stellte sich darauf ein, Haut, Haare und ein bisschen Kinderschweiß zu riechen. Aber er roch nichts. Beim besten Willen nichts. Wahrscheinlich riecht ein Suugling nicht, dachte er, so wird das sein. Ein Suugling, sofern reinlich gehalten, riecht eben nicht, genausowenig wie er spricht, luuft oder schreibt. Diese Dinge kommen erst mit dem Alter. Strenggenommen strumt der Mensch sogar erst Duft aus, wenn er pubertiert. So ist das und nicht anders. Schreibt nicht schon Horaz "Es buckelt der Jungling, es duftet erbluhend die Jungfrau wie eine weiße Narzisse..."?- und die Rumer verstanden etwas davon! Der Menschenduft ist immer ein fleischlicher Duft - also ein sundiger Duft. Wie sollte also ein Suugling, der doch noch nicht einmal im Traume die fleischliche Sunde kennt, riechen? Wie sollte er riechen? Duziduzi? Gar nicht! Er hatte den Korb wieder auf die Knie gestellt und hutschte ihn sachte. Das Kind schlief noch immer fest. Seine rechte Faust schaute unter der Decke hervor, klein und rot, und zuckte manchmal ruhrend gegen die Wange. Terrier luchelte und kam sich plutzlich sehr gemutlich vor. Fur einen Moment gestattete er sich den phantastischen Gedanken, er selbst sei der Vater des Kindes. Er wure kein Munch geworden, sondern ein normaler Burger, ein rechtschaffener Handwerker vielleicht, hutte ein Weib genommen, ein warmes wollig und milchig duftendes Weib, und hutte mit ihr einen Sohn gezeugt und hutschte ihn nun hier auf seinen eigenen Knien, sein eigenes Kind, duziduziduzi... Es war ihm wohl bei diesem Gedanken. Der Gedanke hatte etwas so Ordentliches. Ein Vater hutscht seinen Sohn auf den Knien, duziduzi, es war ein Bild so alt wie die Welt und immer ein neues und richtiges Bild, solange die Welt bestand, ach ja! Es wurde Terrier ein bisschen warm ums Herz und sentimental im Gemut. Da erwachte das Kind. Es erwachte zuerst mit der Nase. Die winzige Nase bewegte sich, sie zog sich nach oben und schnupperte. Sie sog die Luft ein und schnaubte sie in kurzen Stußen aus, wie bei einem unvollkommenen Niesen. Dann rumpfte sich die Nase, und das Kind tat die Augen auf. Die Augen waren von unbestimmter Farbe, zwischen austerngrau und opalweiß-cremig, von einer Art schleimigem Schleier uberzogen und offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet. Terrier hatte den Eindruck, dass sie ihn gar nicht gewahrten. Anders die Nase. Wuhrend die matten Augen des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu fixieren, und Terrier hatte das sehr sonderbare Gefuhl, als sei dieses Ziel er, seine Person, Terrier selbst. Die winzigen Nasenflugel um die zwei winzigen Lucher mitten im Gesicht des Kindes bluhten sich wie eine aufgehende Blute. Oder eher wie die Nupfe jener kleinen fleischfressenden Pflanzen, die man im botanischen Garten des Kunigs hielt. Und wie von diesen schien ein unheimlicher Sog von ihnen auszugehen. Es war Terrier, als sehe ihn das Kind mit seinen Nustern, als sehe es ihn scharf und prufend an, durchdringender, als man es mit Augen kunnte, als verschlunge es etwas mit seiner Nase, das von ihm, Terrier, ausging, und das er nicht zuruckhalten und nicht verbergen konnte... Das geruchlose Kind roch ihn schamlos ab, so war es! Es witterte ihn aus! Und er kam sich mit einem Mal stinkend vor, nach Schweiß und Essig, nach Sauerkraut und ungewaschenen Kleidern. Er kam sich nackt und hußlich vor, wie begafft von jemandem, der seinerseits nichts von sich preisgab. Selbst durch seine Haut schien es hindurchzuriechen, in sein Innerstes hinein. Die zartesten Gefuhle, die schmutzigsten Gedanken lagen bloß vor dieser gierigen kleinen Nase, die noch gar keine rechte Nase war, sondern nur ein Stups, ein sich stundig kruuselndes und bluhendes und bebendes winziges luchriges Organ. Terrier schauderte. Er ekelte sich. Er verzog nun seinerseits die Nase wie vor etwas ubelriechendem, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Vorbei der anheimelnde Gedanke, es handle sich ums eigne Fleisch und Blut. Zerstoben das sentimentale Idyll von Vater und Sohn und duftender Mutter. Wie weggerissen der gemutlich umhullende Gedankenschleier, den er sich um das Kind und sich selbst zurecht phantasiert hatte: Ein fremdes, kaltes Wesen lag auf seinen Knien, ein feindseliges Animal, und wenn er nicht ein so besonnener und von Gottesfurcht und rationaler Einsicht geleiteter Charakter gewesen wure, so hutte er es in einem Anflug von Ekel wie eine Spinne von sich geschleudert. Mit einem Ruck stand Terrier auf und setzte den Korb auf den Tisch. Er wollte das Ding loshaben, muglichst schnell, muglichst gleich, muglichst sofort. Und da begann es zu schreien. Es kniff die Augen zusammen, riss seinen roten Schlund auf und kreischte so widerwurtig schrill, dass Terrier das Blut in den Adern erstarrte. Er schuttelte den Korb mit ausgestreckter Hand und schrie "Duziduzi", um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber es brullte nur noch lauter und wurde ganz blau im Gesicht und sah aus, als wolle es vor Brullen zerplatzen. Weg damit! dachte Terrier, augenblicklich weg mit diesem... >Teufel< wollte er sagen und riss sich zusammen und verkniff es sich,... weg mit diesem Unhold, mit diesem unertruglichen Kind! Aber wohin? Er kannte ein Dutzend Ammen und Waisenhuuser im Quartier, aber das war ihm zu nah, zu dicht auf der Haut war ihm das, weiter weg musste das Ding, so weit, dass man's nicht hurte, so weit, dass man's ihm nicht jede Stunde wieder vor die Ture stellen konnte, nach Muglichkeit musste es in einen anderen Sprengel, ans andere Ufer noch besser, am allerbesten extra muros, in den Faubourg Saint-Antoine, das war's!, dahin kam der schreiende Balg, weit nach Osten, jenseits der Bastille, wo man nachts die Tore schloss. Und er raffte seine Soutane und ergriff den brullenden Korb und rannte davon, rannte durch das Gassengewirr zur Rue du Faubourg Saint-Antoine, die Seine hinauf nach Osten, zur Stadt hinaus, weit, weit hinaus bis zur Rue de Charonne und diese fast bis zum Ende, wo er, in der Nuhe des Klosters der Madeleine de Trenelle, die Adresse einer gewissen Madame Gaillard kannte, welche Kostkinder jeglichen Alters und jeglicher Art aufnahm, solange nur jemand dafur zahlte, und dort gab er das immer noch schreiende Kind ab, zahlte fur ein Jahr im voraus und floh zuruck in die Stadt, warf, im Kloster angekommen, seine Kleider wie etwas Beflecktes ab, wusch sich von Kopf bis Fuß und kroch in seiner Kammer ins Bett, wo er viele Kreuze schlug, lange betete und endlich erleichtert entschlief. 4 Madame Gaillard, obwohl noch keine dreißig Jahre alt, hatte das Leben schon hinter sich. uußerlich sah sie so alt aus, wie es ihrem wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und dreimal und hundertmal so alt, numlich wie die Mumie eines Mudchens; innerlich aber war sie lungst tot. Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken uber die Stirn bekommen, knapp oberhalb der Nasenwurzel, und seither den Geruchssinn verloren und jedes Gefuhl fur menschliche Wurme und menschliche Kulte und uberhaupt jede Leidenschaft. Zurtlichkeit war ihr mit diesem einen Schlag ebenso fremd geworden wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung. Sie empfand nichts, als sie sputer ein Mann beschlief, und ebenso nichts, als sie ihre Kinder gebar. Sie trauerte nicht uber die, die ihr starben, und freute sich nicht an denen, die ihr blieben. Als ihr Mann sie prugelte, zuckte sie nicht, und sie verspurte keine Erleichterung, als er im Hotel-Dieu an der Cholera starb. Die zwei einzigen Sensationen, die sie kannte, waren eine ganz leichte Gemutsverdusterung, wenn die monatliche Migrune nahte, und eine ganz leichte Gemutsaufhellung, wenn die Migrune wieder wich. Sonst spurte diese abgestorbene Frau nichts. Auf der anderen Seite... oder vielleicht gerade wegen ihrer vollkommenen Emotionslosigkeit, besaß Madame Gaillard einen gnadenlosen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr anvertrauten Kinder und benachteiligte keines. Sie verabreichte drei Mahlzeiten am Tag und keinen kleinsten Happen mehr. Sie windelte die Kleinen dreimal am Tag und nur bis zum zweiten Geburtstag. Wer danach noch in die Hose schiss, erhielt eine vorwurfslose Ohrfeige und eine Mahlzeit weniger. Exakt die Hulfte des Kostgelds verwandte sie fur die Zuglinge, exakt die Hulfte behielt sie fur sich. Sie versuchte in billigen Zeiten nicht, ihren Gewinn zu erhuhen; aber sie legte in harten Zeiten nicht einen einzigen Sol zu, auch nicht, wenn es auf Leben und Tod ging. Das Geschuft hutte sich sonst fur sie nicht mehr gelohnt. Sie brauchte das Geld. Sie hatte sich das ganz genau ausgerechnet. Im Alter wollte sie sich eine Rente kaufen und daruberhinaus noch so viel besitzen, dass sie es sich leisten konnte, zu Hause zu sterben und nicht im Hotel-Dieu zu verrecken wie ihr Mann. Sein Tod selbst hatte sie kaltgelassen. Aber ihr graute vor diesem uffentlichen gemeinsamen Sterben mit Hunderten von fremden Menschen. Sie wollte sich einen privaten Tod leisten, und dazu brauchte sie die volle Marge vom Kostgeld: Zwar, es gab Winter, da starben ihr von den zwei Dutzend kleinen Pensionuren drei oder vier. Doch damit lag sie immer noch erheblich besser als die meisten anderen privaten Ziehmutter und ubertraf die großen staatlichen oder kirchlichen Findelhuuser, deren Verlustquote oft neun Zehntel betrug, bei weitem. Es gab ja auch viel Ersatz. Paris produzierte im Jahr uber zehntausend neue Findelkinder, Bastarde und Waisen. So ließ sich mancher Ausfall verschmerzen. Fur den kleinen Grenouille war das Etablissement der Madame Gaillard ein Segen. Wahrscheinlich hutte er nirgendwo anders uberleben kunnen. Hier aber, bei dieser seelenarmen Frau gedieh er. Er besaß eine zuhe Konstitution. Wer wie er die eigene Geburt im Abfall uberlebt hatte, ließ sich nicht mehr so leicht aus der Welt bugsieren. Er konnte tagelang wussrige Suppen essen, er kam mit der dunnsten Milch aus, vertrug das faulste Gemuse und verdorbenes Fleisch. Im Verlauf seiner Kindheit uberlebte er die Masern, die Ruhr, die Windpocken, die Cholera, einen Sechsmetersturz in einen Brunnen und die Verbruhung der Brust mit kochendem Wasser. Zwar trug er Narben davon und Schrunde und Grind und einen leicht verkruppelten Fuß, der ihn hatschen machte, aber er lebte. Er war zuh wie ein resistentes Bakterium und genugsam wie ein Zeck, der still auf einem Baum sitzt und von einem winzigen Blutstrupfchen lebt, das er vor Jahren erbeutet hat. Ein minimales Quantum an Nahrung und Kleidung brauchte er fur seinen Kurper. Fur seine Seele brauchte er nichts. Geborgenheit, Zuwendung, Zurtlichkeit, Liebe - oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind angeblich bedurfte - waren dem Kinde Grenouille vullig entbehrlich. Vielmehr, so scheint uns, hatte er sie sich selbst entbehrlich gemacht, um uberhaupt leben zu kunnen, von Anfang an. Der Schrei nach seiner Geburt, der Schrei unter dem Schlachttisch hervor, mit dem er sich in Erinnerung und seine Mutter aufs Schafott gebracht hatte, war kein instinktiver Schrei nach Mitleid und Liebe gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast muchte man sagen ein reiflich erwogener Schrei gewesen, mit dem sich das Neugeborene gegen die Liebe und dennoch fur das Leben entschieden hatte. Unter den obwaltenden Umstunden war dieses ja auch nur ohne jene muglich, und hutte das Kind beides gefordert, so wure es zweifellos alsbald elend zugrunde gegangen. Es hutte damals allerdings auch die zweite ihm offenstehende Muglichkeit ergreifen und schweigen und den Weg von der Geburt zum Tode ohne den Umweg uber das Leben wuhlen kunnen, und es hutte damit der Welt und sich selbst eine Menge Unheil erspart. Um aber so bescheiden abzutreten, hutte es eines Mindestmaßes an eingeborener Freundlichkeit bedurft, und die besaß Grenouille nicht. Er war von Beginn an ein Scheusal. Er entschied sich fur das Leben aus reinem Trotz und aus reiner Boshaftigkeit. Selbstverstundlich entschied er sich nicht, wie ein erwachsener Mensch sich entscheidet, der seine mehr oder weniger große Vernunft und Erfahrung gebraucht, um zwischen verschiedenen Optionen zu wuhlen. Aber er entschied sich doch vegetativ, so wie eine weggeworfene Bohne entscheidet, ob sie nun keimen soll oder ob sie es besser bleiben lusst. Oder wie jener Zeck auf dem Baum, dem doch das Leben nichts anderes zu bieten hat als ein immerwuhrendes uberwintern. Der kleine hußliche Zeck, der seinen bleigrauen Kurper zur Kugel formt, um der Außenwelt die geringstmugliche Fluche zu bieten; der seine Haut glatt und derb macht, um nichts zu verstrumen, kein bisschen von sich hinauszutranspirieren. Der Zeck, der sich extra klein und unansehnlich macht, damit niemand ihn sehe und zertrete. Der einsame Zeck, der in sich versammelt auf seinem Baume hockt, blind, taub und stumm, und nur wittert, jahrelang wittert, meilenweit, das Blut voruberwandernder Tiere, die er aus eigner Kraft niemals erreichen wird. Der Zeck kunnte sich fallen lassen. Er kunnte sich auf den Boden des Waldes fallen lassen, mit seinen sechs winzigen Beinchen ein paar Millimeter dahin und dorthin kriechen und sich unters Laub zum Sterben legen, es wure nicht schade um ihn, weiß Gott nicht. Aber der Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis ihm der huchst unwahrscheinliche Zufall das Blut in Gestalt eines Tieres direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zuruckhaltung auf, lusst sich fallen und krallt und bohrt und beisst sich in das fremde Fleisch... So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot; kein Lucheln, keinen Schrei, keinen Glanz des Auges, nicht einmal einen eigenen Duft. Jede andere Frau hutte dieses monstruse Kind verstoßen. Nicht so Madame Gaillard. Sie roch ja nicht, dass es nicht roch, und sie erwartete keine seelische Regung von ihm, weil ihre eigene Seele versiegelt war. Die andern Kinder dagegen spurten sofort, was es mit Grenouille auf sich hatte. Vom ersten Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die Kiste, in der er lag, und ruckten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen, als wure es kulter geworden im Zimmer. Die jungeren schrien manchmal des Nachts; ihnen war, als zuge ein Windzug durch die Kammer. Andere truumten, es nehme ihnen etwas den Atem. Einmal taten sich die ulteren zusammen, um ihn zu ersticken. Sie huuften Lumpen und Decken und Stroh auf sein Gesicht und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame Gaillard ihn am nuchsten Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdruckt und blau, aber nicht tot. Sie versuchten es noch ein paarmal, vergebens. Ihn direkt zu erwurgen, am Hals, mit eigenen Hunden, oder ihm Mund oder Nase zu verstopfen, was eine sicherere Methode gewesen wure, das wagten sie nicht. Sie wollten ihn nicht beruhren. Sie ekelten sich vor ihm wie vor einer dicken Spinne, die man nicht mit eigner Hand zerquetschen will. Als er grußer wurde, gaben sie die Mordanschluge auf. Sie hatten wohl eingesehen, dass er nicht zu vernichten war. Statt dessen gingen sie ihm aus dem Weg, liefen davon, huteten sich in jedem Fall vor Beruhrung. Sie hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersuchtig oder futterneidisch auf ihn. Fur solche Gefuhle hutte es im Hause Gaillard nicht den geringsten Anlass gegeben. Es sturte sie ganz einfach, dass er da war. Sie konnten ihn nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm. 5 Dabei besaß er, objektiv gesehen, gar nichts Angsteinflußendes. Er war, als er heranwuchs, nicht besonders groß, nicht stark, zwar hußlich, aber nicht so extrem hußlich, dass man vor ihm hutte erschrecken mussen. Er war nicht aggressiv, nicht link, nicht hinterhultig, er provozierte nicht. Er hielt sich lieber abseits. Auch seine Intelligenz schien alles andere als furchterlich zu sein. Erst mit drei Jahren begann er auf zwei Beinen zu stehen, sein erstes Wort sprach er mit vier, es war das Wort "Fische", das in einem Moment plutzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo, als von ferne ein Fischverkuufer die Rue de Charonne heraufkam und seine Ware ausschrie. Die nuchsten Wurter, derer er sich entuußerte, waren "Pelargonie", "Ziegenstall", "Wirsing" und "Jacqueslorreur", letzteres der Name eines Gurtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der Filles de la Croix, der bei Madame Gaillard gelegentlich grubere und grubste Arbeiten verrichtete und sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein einziges Mal gewaschen hatte. Mit den Zeitwurtern, den Adjektiven und Fullwurtern hatte er es weniger. Bis auf "ja" und "nein" - die er ubrigens sehr sput zum ersten Mal aussprach - gab er nur Hauptwurter, ja eigentlich nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen von sich, und auch nur dann, wenn ihn diese Dinge, Pflanzen, Tiere oder Menschen unversehens geruchlich uberwultigten. In der Murzsonne auf einem Stapel Buchenscheite sitzend, die in der Wurme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort "Holz" aussprach. Er hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal gehurt. Er verstand es auch, war er doch im Winter oft hinausgeschickt worden, um Holz zu holen. Aber der Gegenstand Holz war ihm nie interessant genug vorgekommen, als dass er sich die Muhe gegeben hutte, seinen Namen auszusprechen. Das geschah erst an jenem Murztag, als er auf dem Stapel saß. Der Stapel war wie eine Bank an der Sudseite des Schuppens von Madame Gaillard unter einem uberhungenden Dach aufgeschichtet. Brenzlig suß rochen die obersten Scheite, moosig duftete es aus der Tiefe des Stapels herauf, und von der Fichtenwand des Schuppens fiel in der Wurme bruseliger Harzduft ab. Grenouille saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Stapel, den Rucken gegen die Schuppenwand gelehnt, er hatte die Augen geschlossen und ruhrte sich nicht. Er sah nichts, er hurte und spurte nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um ihn herum aufstieg und sich unter dem Dach wie unter einer Haube fing. Er trank diesen Duft, er ertrank darin, imprugnierte sich damit bis in die letzte innerste Pore, wurde selbst Holz, wie eine hulzerne Puppe, wie ein Pinocchio lag er auf dem Holzstoß, wie tot, bis er, nach langer Zeit, vielleicht nach einer halben Stunde erst, das Wort "Holz" hervorwurgte. Als sei er angefullt mit Holz bis uber beide Ohren, als stunde ihm das Holz schon bis zum Hals, als habe er den Bauch, den Schlund, die Nase ubervoll von Holz, so kotzte er das Wort heraus. Und das brachte ihn zu sich, errettete ihn, kurz bevor die uberwultigende Gegenwart des Holzes selbst, sein Duft, ihn zu ersticken drohte. Er rappelte sich auf, rutschte von dem Stapel herunter und wankte wie auf hulzernen Beinen davon. Noch Tage sputer war er von dem intensiven Geruchserlebnis ganz benommen und brabbelte, wenn die Erinnerung daran zu kruftig in ihm aufstieg, beschwurend "Holz, Holz" vor sich hin. So lernte er sprechen. Mit Wurtern, die keinen riechenden Gegenstand bezeichneten, mit abstrakten Begriffen also, vor allem ethischer und moralischer Natur, hatte er die grußten Schwierigkeiten. Er konnte sie nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern und oft falsch: Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut, Dankbarkeit usw. - was damit ausgedruckt sein sollte, war und blieb ihm schleierhaft. Andrerseits hutte die gungige Sprache schon bald nicht mehr ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe in sich versammelt hatte. Bald roch er nicht mehr bloß Holz, sondern Holzsorten, Ahornholz, Eichenholz, Kiefernholz, Ulmenholz, Birnbaumholz, altes, junges, morsches, modriges, moosiges Holz, ja sogar einzelne Holzscheite, Holzsplitter und Holzbrusel - und roch sie als so deutlich unterschiedene Gegenstunde, wie andre Leute sie nicht mit Augen hutten unterscheiden kunnen. uhnlich erging es ihm mit anderen Dingen. Dass jenes weiße Getrunk, welches Madame Gaillard allmorgendlich ihren Zuglingen verabreichte, durchweg als Milch bezeichnet wurde, wo es doch nach Grenouilles Empfinden jeden Morgen durchaus anders roch und schmeckte, je nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen hatte, wieviel Rahm man ihm belassen hatte und so fort... dass Rauch, dass ein von hundert Einzelduften schillerndes, minuten-, ja sekundenweis sich wandelndes und zu neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde wie der Rauch des Feuers nur eben jenen einen Namen "Rauch" besaß... dass Erde, Landschaft, Luft, die von Schritt zu Schritt und von Atemzug zu Atemzug von anderem Geruch erfullt und damit von andrer Identitut beseelt waren, dennoch nur mit jenen drei plumpen Wurtern bezeichnet sein sollten - all diese grotesken Missverhultnisse zwischen dem Reichtum der geruchlich wahrgenommenen Welt und der Armut der Sprache, ließen den Knaben Grenouille am Sinn der Sprache uberhaupt zweifeln; und er bequemte sich zu ihrem Gebrauch nur, wenn es der Umgang mit anderen Menschen unbedingt erforderlich machte. Mit sechs Jahren hatte er seine Umgebung olfaktorisch vollstundig erfasst. Es gab im Hause der Madame Gaillard keinen Gegenstand, in der nurdlichen Rue de Charonne keinen Ort, keinen Menschen, keinen Stein, Baum, Strauch oder Lattenzaun, keinen noch so kleinen Flecken, den er nicht geruchlich kannte, wiedererkannte und mit der jeweiligen Einmaligkeit fest im Geduchtnis verwahrte. Zehntausend, hunderttausend spezifische Eigengeruche hatte er gesammelt und hielt sie zu seiner Verfugung, so deutlich, so beliebig, dass er sich nicht nur ihrer erinnerte, wenn er sie wieder roch, sondern dass er sie tatsuchlich roch, wenn er sich ihrer wieder erinnerte; ja, mehr noch, dass er sie sogar in seiner bloßen Phantasie untereinander neu zu kombinieren verstand und dergestalt in sich Geruche erschuf, die es in der wirklichen Welt gar nicht gab. Es war, als besuße er ein riesiges selbsterlerntes Vokabular von Geruchen, das ihn befuhigte, eine schier beliebig große Menge neuer Geruchssutze zu bilden und dies in einem Alter, da andere Kinder mit den ihnen muhsam eingetrichterten Wurtern die ersten, zur Beschreibung der Welt huchst unzulunglichen konventionellen Sutze stammelten. Am ehesten war seine Begabung vielleicht der eines musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das den Melodien und Harmonien das Alphabet der einzelnen Tune abgelauscht hatte und nun selbst vollkommen neue Melodien und Harmonien komponierte - mit dem Unterschied freilich, dass das Alphabet der Geruche ungleich grußer und differenzierter war als das der Tune, und mit dem Unterschied ferner, dass sich die schupferische Tutigkeit des Wunderkinds Grenouille allein in seinem Innern abspielte und von niemandem wahrgenommen werden konnte als nur von ihm selbst. Nach außen hin wurde er immer verschlossener. Am liebsten streifte er allein durch den nurdlichen Faubourg Saint-Antoine, durch Gemusegurten, Weinfelder, uber Wiesen. Manchmal kehrte er abends nicht nach Hause zuruck, blieb tagelang verschollen. Die fullige Zuchtigung mit dem Stock ertrug er ohne Schmerzensuußerung. Hausarrest, Essensentzug, Strafarbeit konnten sein Benehmen nicht undern. Ein eineinhalbjuhriger sporadischer Besuch der Pfarrschule von Notre Dame de Bon Secours blieb ohne erkennbare Wirkung. Er lernte ein bisschen buchstabieren und den eignen Namen schreiben, sonst nichts. Sein Lehrer hielt ihn fur schwachsinnig. Madame Gaillard hingegen fiel auf, dass er bestimmte Fuhigkeiten und Eigenheiten besaß, die sehr ungewuhnlich, um nicht zu sagen ubernaturlich waren: So schien ihm die kindliche Angst vor der Dunkelheit und der Nacht vullig fremd zu sein. Man konnte ihn jederzeit zu einer Besorgung in den Keller schicken, wohin sich die anderen Kinder kaum mit einer Lampe wagten, oder hinaus zum Schuppen zum Holzholen bei stockfinsterer Nacht. Und nie nahm er ein Licht mit und fand sich doch zurecht und brachte sofort das Verlangte, ohne einen falschen Griff zu tun, ohne zu stolpern oder etwas umzustoßen. Noch merkwurdiger freilich erschien es, dass er, wie Madame Gaillard festgestellt zu haben glaubte, durch Papier, Stoff, Holz, ja sogar durch festgemauerte Wunde und geschlossene Turen hindurchzusehen vermochte. Er wusste, wieviel und welche Zuglinge sich im Schlafraum aufhielten, ohne ihn betreten zu haben. Er wusste, dass eine Raupe im Blumenkohl steckte, ehe der Kopf zerteilt war. Und einmal, als sie ihr Geld so gut versteckt hatte, dass sie es selbst nicht mehr wiederfand (sie underte ihre Verstecke), deutete er, ohne eine Sekunde zu suchen, auf eine Stelle hinter dem Kaminbalken, und siehe, da war es! Sogar in die Zukunft konnte er sehen, indem er numlich den Besuch einer Person lange vor ihrem Eintreffen ankundigte oder das Nahen eines Gewitters unfehlbar vorauszusagen wusste, ehe noch das kleinste Wulkchen am Himmel stand. Dass er dies alles freilich nicht sah, nicht mit Augen sah, sondern mit seiner immer schurfer und pruziser riechenden Nase erwitterte: die Raupe im Kohl, das Geld hinterm Balken, die Menschen durch Wunde hindurch und uber eine Entfernung von mehreren Straßenzugen hinweg - darauf wure Madame Gaillard im Traume nicht gekommen, auch wenn jener Schlag mit dem Feuerhaken ihren Olfaktorius unbeschudigt gelassen hutte. Sie war davon uberzeugt, der Knabe musse - Schwachsinn hin oder her - das zweite Gesicht besitzen. Und da sie wusste, dass Zwiegesichtige Unheil und Tod anziehen, wurde er ihr unheimlich. Noch unheimlicher, geradezu unertruglich war ihr der Gedanke, mit jemandem unter einem Dach zu leben, der die Gabe hatte, sorgfultig verstecktes Geld durch Wunde und Balken hindurch zu sehen, und als sie diese entsetzliche Fuhigkeit Grenouilles entdeckt hatte, trachtete sie danach, ihn loszuwerden, und es traf sich gut, dass etwa um die gleiche Zeit - Grenouille war acht Jahre alt - das Kloster von Saint-Merri seine juhrlichen Zahlungen ohne Angabe von Grunden einstellte. Madame mahnte nicht nach. Anstandshalber wartete sie noch eine Woche, und als das fullige Geld dann immer noch nicht eingetroffen war, nahm sie den Knaben bei der Hand und ging mit ihm in die Stadt. In der Rue de la Mortellerie, nahe dem Fluss, kannte sie einen Gerber namens Grimal, der notorischen Bedarf an jugendlichen Arbeitskruften hatte - nicht an ordentlichen Lehrlingen oder Gesellen, sondern an billigen Kulis. Es gab numlich in dem Gewerbe Arbeiten - das Entfleischen verwesender Tierhuute, das Mischen von giftigen Gerb- und Furbebruhen, das Ausbringen utzender Lohen -, die so lebensgefuhrlich waren, dass ein verantwortungsbewusster Meister nach Muglichkeit nicht seine gelernten Hilfskrufte dafur verschwendete, sondern arbeitsloses Gesindel, Herumtreiber oder eben herrenlose Kinder, nach denen im Zweifelsfalle niemand mehr fragte. Naturlich wusste Madame Gaillard, dass Grenouille in Grimals Gerberwerkstatt nach menschlichem Ermessen keine uberlebenschance besaß. Aber sie war nicht die Frau, sich daruber Gedanken zu machen. Ihre Pflicht hatte sie ja getan. Das Pflegeverhultnis war beendet. Was mit dem Zugling weiterhin geschah, ging sie nichts an. Wenn er durchkam, so war's gut, wenn er starb, so war's auch gut - Hauptsache, alles ging rechtens zu. Und so ließ sie sich von Monsieur Grimal die ubergabe des Knaben schriftlich bestutigen, quittierte ihrerseits den Erhalt von funfzehn Franc Provision und machte sich wieder auf nach Hause in die Rue de Charonne. Sie verspurte nicht den geringsten Anflug eines schlechten Gewissens. Im Gegenteil glaubte sie, nicht nur rechtens, sondern auch gerecht gehandelt zu haben, denn der Verbleib eines Kindes, fur das niemand zahlte, wure ja notwendigerweise zu Lasten der anderen Kinder gegangen oder sogar zu ihren eigenen Lasten und hutte womuglich die Zukunft der anderen Kinder gefuhrdet oder sogar ihre eigene Zukunft, das heisst ihren eignen, abgeschirmten, privaten Tod, der das einzige war, was sie sich im Leben noch wunschte. Da wir Madame Gaillard an dieser Stelle der Geschichte verlassen und ihr auch sputer nicht mehr wiederbegegnen werden, wollen wir in ein paar Sutzen das Ende ihrer Tage schildern. Madame, obwohl als Kind schon innerlich gestorben, wurde zu ihrem Ungluck sehr, sehr alt. Anno 1782, mit fast siebzig Jahren, gab sie ihr Gewerbe auf, kaufte sich wie vorgehabt in eine Rente ein, saß in ihrem Huuschen und wartete auf den Tod. Der Tod aber kam nicht. Statt seiner kam etwas, womit kein Mensch auf der Welt hutte rechnen kunnen und was es im Lande noch nie gegeben hatte, numlich eine Revolution, das heisst eine rasante Umwandlung sumtlicher gesellschaftlicher, moralischer und transzendentaler Verhultnisse. Zunuchst hatte diese Revolution keine Auswirkungen auf Madame Gaillards persunliches Schicksal. Dann aber - sie war nun fast achtzig - hieß es mit einem Mal, ihr Rentengeber habe emigrieren mussen, sei enteignet und sein Besitz an einen Hosenfabrikanten versteigert worden. Es sah eine Weile lang noch so aus, als habe auch dieser Wandel noch keine fatalen Auswirkungen fur Madame Gaillard, denn der Hosenfabrikant zahlte weiterhin punktlich die Rente. Aber dann kam der Tag, da sie ihr Geld nicht mehr in harter Munze, sondern in Form von kleinen bedruckten Papierbluttchen erhielt, und das war der Anfang ihres materiellen Endes. Nach Verlauf von zwei Jahren reichte die Rente nicht einmal mehr aus, das Feuerholz zu bezahlen. Madame sah sich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen, zu lucherlich geringem Preis, denn es gab plutzlich außer ihr Tausende von anderen Leuten, die ihr Haus ebenfalls verkaufen mussten. Und wieder bekam sie als Gegenwert nur diese bluden Bluttchen, und wieder waren sie nach zwei Jahren so gut wie nichts mehr wert, und im Jahre 1797 - sie ging nun auf die Neunzig zu - hatte sie ihr gesamtes, in muhevoller sukularer Arbeit zusammengescharrtes Vermugen verloren und hauste in einer winzigen mublierten Kammer in der Rue des Coquilles. Und nun erst, mit zehn-, mit zwanzigjuhriger Versputung, kam der Tod herbei und kam in Gestalt einer langwierigen Geschwulstkrankheit, die Madame an der Kehle packte und ihr erst den Appetit und dann die Stimme raubte, so dass sie mit keinem Wort Einspruch erheben konnte, als sie ins Hotel-Dieu fortgeschafft wurde. Dort brachte man sie in den gleichen, von Hunderten todkranker Menschen bevulkerten Saal, in dem schon ihr Mann gestorben war, steckte sie in ein Gemeinschaftsbett zu funf anderen alten wildfremden Weibern, kurperdicht Leib an Leib lagen sie, und ließ sie dort drei Wochen lang in aller uffentlichkeit sterben. Dann wurde sie in einen Sack genuht, um vier Uhr fruh nebst funfzig anderen Leichen auf einen Transportkarren geworfen und unter dem dunnen Gebimmel eines Gluckchens zum neubegrundeten Friedhof von Clamart, eine Meile vor den Toren der Stadt, gefahren und dort in einem Massengrab zur letzten Ruhe gebettet, unter einer dicken Schicht von ungeluschtem Kalk. Das war im Jahre 1799. Gott sei Dank ahnte Madame nichts von diesem ihr bevorstehenden Schicksal, als sie an jenem Tag des Jahres 1747 nach Hause ging und den Knaben Grenouille und unsere Geschichte verließ. Sie hutte womuglich ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren und damit an den einzigen ihr begreiflichen Sinn des Lebens. 6 Mit dem ersten Blick, den er auf Monsieur Grimal geworfen - nein, mit dem ersten witternden Atemzug, den er von Grimals Geruchsaura eingesogen hatte, wusste Grenouille, dass dieser Mann imstande war, ihn bei der geringsten Unbotmußigkeit zu Tode zu prugeln. Sein Leben galt gerade noch so viel wie die Arbeit , die er verrichten konnte, es bestand nur noch aus der Nutzlichkeit, die Grimal ihm beimaß. Und so kuschte Grenouille, ohne auch nur ein einziges Mal den Versuch einer Auflehnung zu machen. Von einem Tag zum undern verkapselte er wieder die ganze Energie seines Trotzes und seiner Widerborstigkeit in sich selbst, verwendete sie allein dazu, auf zeckenhafte Manier die Epoche der bevorstehenden Eiszeit zu uberdauern: zuh, genugsam, unauffullig, das Licht der Lebenshoffnung auf kleinster, aber wohlbehuteter Flamme haltend. Er war nun ein Muster an Fugsamkeit, Anspruchslosigkeit und Arbeitswillen, gehorchte aufs Wort, nahm mit jeder Speise vorlieb. Abends ließ er sich brav in einen seitlich an die Werkstatt gebauten Verschlag sperren, in dem Gerutschaften aufbewahrt wurden und eingesalzne Rohhuute hingen. Hier schlief er auf dem blanken gestampften Erdboden. Tagsuber arbeitete er, solange es hell war, im Winter acht, im Sommer vierzehn, funfzehn, sechzehn Stunden: entfleischte die bestialisch stinkenden Huute, wusserte, enthaarte, kalkte, utzte, walkte sie, strich sie mit Beizkot ein, spaltete Holz, entrindete Birken und Eiben, stieg hinab in die von beißendem Dunst erfullten Lohgruben, schichtete, wie es ihm die Gesellen befahlen, Huute und Rinden ubereinander, streute zerquetschte Gallupfel aus, uberdeckte den entsetzlichen Scheiterhaufen mit Eibenzweigen und Erde. Jahre sputer musste er ihn dann wieder ausbuddeln und die zu gegerbtem Leder mumifizierten Hautleichen aus ihrem Grab holen. Wenn er nicht Huute ein- oder ausgrub, dann schleppte er Wasser. Monatelang schleppte er Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer, Hunderte von Eimern am Tag, denn das Gewerbe verlangte Unmengen von Wasser zum Waschen, zum Weichen, zum Bruhen, zum Furben. Monatelang hatte er keine trockene Faser mehr am Leibe vor lauter Wassertragen, abends troffen ihm die Kleider von Wasser, und seine Haut war kalt, weich und aufgeschwemmt wie Waschleder. Nach einem Jahr dieser mehr tierischen als menschlichen Existenz bekam er den Milzbrand, eine gefurchtete Gerberkrankheit, die ublicherweise tudlich verluuft. Grimal hatte ihn schon abgeschrieben und sah sich nach Ersatz um - nicht ohne Bedauern ubrigens, denn einen genugsameren und leistungsfuhigeren Arbeiter als diesen Grenouille hatte er noch nie gehabt. Entgegen aller Erwartung jedoch uberstand Grenouille die Krankheit. Ihm blieben nur die Narben der großen schwarzen Karbunkel hinter den Ohren, am Hals und an den Wangen, die ihn entstellten und noch hußlicher machten, als er ohnehin schon war. Ihm blieb ferner - unschutzbarer Vorteil - eine Resistenz gegen den Milzbrand, so dass er von nun an sogar mit rissigen und blutigen Hunden die schlechtesten Huute entfleischen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich erneut anzustecken. Dadurch unterschied er sich nicht nur von den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch von seinen eigenen potentiellen Nachfolgern. Und weil er nun nicht mehr so leicht zu ersetzen war wie ehedem, stieg der Wert seiner Arbeit und damit der Wert seines Lebens. Plutzlich musste er nicht mehr auf der nackten Erde schlafen, sondern durfte sich im Schuppen ein Holzlager bauen, bekam Stroh daraufgeschuttet und eine eigene Decke. Zum Schlafen sperrte man ihn nicht mehr ein. Das Essen war auskummlicher. Grimal hielt ihn nicht mehr wie irgendein Tier, sondern wie ein nutzliches Haustier. Als er zwulf Jahre alt war, gab ihm Grimal den halben Sonntag frei, und mit dreizehn durfte er sogar wochentags am Abend nach der Arbeit eine Stunde lang weggehen und tun, was er wollte. Er hatte gesiegt, denn er lebte, und er besaß ein Quantum von Freiheit, das genugte, um weiterzuleben. Die Zeit des uberwinterns war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn. Das grußte Geruchsrevier der Welt stand ihm offen: die Stadt Paris. 7 Es war wie im Schlaraffenland. Allein die nahegelegenen Viertel von Saint-Jacques-de-la-Boucherie und von Saint-Eustache waren ein Schlaraffenland. In den Gassen seitab der Rue Saint-Denis und der Rue Saint-Martin lebten die Menschen so dicht beieinander, drungte sich Haus so eng an Haus, funf, sechs Stockwerke hoch, dass man den Himmel nicht sah und die Luft unten am Boden wie in feuchten Kanulen stand und vor Geruchen starrte. Es mischten sich Menschen- und Tiergeruche, Dunst von Essen und Krankheit, von Wasser und Stein und Asche und Leder, von Seife und frischgebackenem Brot und von Eiern, die man in Essig kochte, von Nudeln und blankgescheuertem Messing, von Salbei und Bier und Trunen, von Fett und nassem und trockenem Stroh. Tausende und Abertausende von Geruchen bildeten einen unsichtbaren Brei, der die Schluchten der Gassen anfullte, sich uber den Duchern nur selten, unten am Boden niemals verfluchtigte. Die Menschen, die dort lebten, rochen in diesem Brei nichts Besonderes mehr; er war ja aus ihnen entstanden und hatte sie wieder und wieder durchtrunkt, er war ja die Luft, die sie atmeten und von der sie lebten, er war wie eine langgetragene warme Kleidung, die man nicht mehr riecht und nicht mehr auf der Haut spurt. Grenouille aber roch alles wie zum ersten Mal. Und er roch nicht nur die Gesamtheit dieses Duftgemenges, sondern er spaltete es analytisch auf in seine kleinsten und entferntesten Teile und Teilchen. Seine feine Nase entwirrte das Knuuel aus Dunst und Gestank zu einzelnen Fuden von Grundgeruchen, die nicht mehr weiter zerlegbar waren. Es machte ihm unsugliches Vergnugen, diese Fuden aufzudruseln und aufzuspinnen. Oft blieb er stehen, an eine Hausmauer gelehnt oder in eine dunkle Ecke gedrungt, mit geschlossenen Augen, halbgeuffnetem Mund und gebluhten Nustern, still wie ein Raubfisch in einem großen, dunklen, langsam fließenden Wasser. Und wenn endlich ein Lufthauch ihm das Ende eines zarten Duftfadens zuspielte, dann stieß er zu und ließ nicht mehr los, dann roch er nichts mehr als diesen einen Geruch, hielt ihn fest, zog ihn in sich hinein und bewahrte ihn in sich fur alle Zeit. Es mochte ein altbekannter Geruch sein oder eine Variation davon, es konnte aber auch ein ganz neuer sein, einer, der kaum oder gar keine uhnlichkeit mit allem besaß, was er bis dahin gerochen, geschweige denn gesehen hatte: der Geruch von gebugelter Seide etwa; der Geruch eines Tees von Quendel, der Geruch eines Stucks silberbestickten Brokats, der Geruch eines Korkens aus einer Flasche mit seltenem Wein, der Geruch eines Schildpattkamms. Hinter solchen ihm noch unbekannten Geruchen war Grenouille her, sie jagte er mit der Leidenschaft und Geduld eines Anglers und sammelte sie in sich. Wenn er sich am dicken Brei der Gassen sattgerochen hatte, ging er in luftigeres Gelunde, wo die Geruche dunner waren, sich mit Wind vermischten und entfalteten, fast wie ein Parfum: auf den Platz der Hallen etwa, wo in den Geruchen abends noch der Tag fortlebte, unsichtbar, aber so deutlich, als wuselten da noch im Gedrunge die Hundler, als stunden da noch die vollgepackten Kurbe mit Gemuse und Eiern, die Fusser voll Wein und Essig, die Sucke mit Gewurzen und Kartoffeln und Mehl, die Kusten mit Nugeln und Schrauben, die Fleischtische, die Tische voll von Stoffen und Geschirr und Schuhsohlen und all den hundert undern Dingen, die dort tagsuber verkauft wurden... das ganze Getriebe war bis in die kleinste Einzelheit prusent in der Luft, die es hinterlassen hatte. Grenouille sah den ganzen Markt riechend, wenn man so sagen kann. Und er roch ihn genauer, als mancher ihn sehen kunnte, denn er nahm ihn im nachhinein wahr und deshalb auf huhere Weise: als Essenz, als den Geist von etwas Gewesenem, der nicht durch die ublichen Attribute der Gegenwart gesturt war, alsda sind der Lurm, das Grelle, das eklige Aneinander der leibhaftigen Menschen. Oder er ging dorthin, wo man seine Mutter gekupft hatte, zur Place de Greve, die wie eine große Zunge in den Fluss hineinleckte. Hier lagen, ans Ufer gezogen oder an Pfosten vertuut, die Schiffe und rochen nach Kohle und Korn und Heu und feuchten Tauen. Und von Westen her kam durch diese einzige Schneise, die der Fluss durch die Stadt schnitt, ein breiter Windstrom und brachte Geruche vom Land her, von den Wiesen bei Neuilly, von den Wuldern zwischen Saint-Germain und Versailles, von weit entfernt gelegenen Studten wie Rouen oder Caen und manchmal sogar vom Meer. Das Meer roch wie ein gebluhtes Segel, in dem sich Wasser, Salz und eine kalte Sonne fingen. Es roch simpel, das Meer, aber zugleich roch es groß und einzigartig, so dass Grenouille zugerte, seinen Geruch aufzuspalten in das Fischige, das Salzige, das Wussrige, das Tangige, das Frische und so weiter. Er ließ den Geruch des Meeres lieber beisammen, verwahrte ihn als ganzes im Geduchtnis und genoss ihn ungeteilt. Der Geruch des Meeres gefiel ihm so gut, dass er sich wunschte, ihn einmal rein und unvermischt und in solchen Mengen zu bekommen, dass er sich dran besaufen kunnte. Und sputer, als er aus Erzuhlungen erfuhr, wie groß das Meer sei und dass man darauf tagelang mit Schiffen fahren konnte, ohne Land zu sehen, da war ihm nichts lieber als die Vorstellung, er suße auf so einem Schiff, hoch oben im Korb auf dem vordersten Mast, und fluge dahin durch den unendlichen Geruch des Meeres, der ja eigentlich gar kein Geruch war, sondern ein Atem, ein Ausatmen, das Ende aller Geruche, und luse sich auf vor Vergnugen in diesem Atem. Aber dahin sollte es nie kommen, denn Grenouille, der an der Place de Greve am Ufer stand und mehrmals einen kleinen Fetzen Meerwind, den er in die Nase bekommen hatte, aus- und einatmete, sollte das Meer, das eigentliche Meer, den großen Ozean, der im Westen lag, in seinem Leben niemals sehen und sich nie mit diesem Geruch vermischen durfen. Das Viertel zwischen Saint-Eustache und dem Hotel de Ville hatte er bald so genau durchrochen, dass er sich darin bei stockfinsterer Nacht zurechtfand. Und so dehnte er sein Jagdgebiet aus, zunuchst nach Westen hin zum Faubourg Saint-Honore, dann die Rue Saint-Antoine hinauf bis zur Bastille, und schließlich sogar auf die andere Seite des Flusses hinuber in das Sorbonneviertel und in den Faubourg Saint-Germain, wo die reichen Leute wohnten. Durch die Eisengitter der Toreinfahrten roch es nach Kutschenleder und nach dem Puder in den Perucken der Pagen, und uber die hohen Mauern hinweg strich aus den Gurten der Duft des Ginsters und der Rosen und der frisch geschnittenen Liguster. Hier war es auch, dass Grenouille zum ersten Mal Parfums im eigentlichen Sinn des Wortes roch: einfache Lavendel- oder Rosenwusser, mit denen bei festlichen Anlussen die Springbrunnen der Gurten gespeist wurden, aber auch komplexere, kostbarere Dufte von Moschustinktur gemischt mit dem ul von Neroli und Tuberose, Joncquille, Jasmin oder Zimt, die abends wie ein schweres Band hinter den Equipagen herwehten. Er registrierte diese Dufte, wie er profane Geruche registrierte, mit Neugier, aber ohne besondere Bewunderung. Zwar merkte er, dass es die Absicht der Parfums war, berauschend und anziehend zu wirken, und er erkannte die Gute der einzelnen Essenzen, aus denen sie bestanden. Aber als ganzes erschienen sie ihm doch eher grob und plump, mehr zusammengepanscht als komponiert, und er wusste, dass er ganz andere Wohlgeruche wurde herstellen kunnen, wenn er nur uber die gleichen Grundstoffe verfugte. Viele dieser Grundstoffe kannte er schon von den Blumen- und Gewurzstunden des Marktes her; andere waren ihm neu, und diese filterte er aus den Duftgemischen heraus und bewahrte sie namenlos im Geduchtnis: Amber, Zibet, Patschuli, Sandelholz, Bergamotte, Vetiver, Opoponax, Benzoe, Hopfenblute, Bibergeil... Wuhlerisch ging er nicht vor. Zwischen dem, was landluufig als guter oder schlechter Geruch bezeichnet wurde, unterschied er nicht, noch nicht. Er war gierig. Das Ziel seiner Jagden bestand darin, schlichtweg alles zu besitzen, was die Welt an Geruchen zu bieten hatte, und die einzige Bedingung war, dass die Geruche neu seien. Der Duft eines schweißenden Pferds galt ihm ebensoviel wie der zarte grune Geruch schwellender Rosenknospen, der stechende Gestank einer Wanze nicht weniger als der Dunst von gespicktem Kalbsbraten, der aus den Herrschaftskuchen quoll. Alles, alles fraß er, saugte er in sich hinein. Und auch in der synthetisierenden Geruchskuche seiner Phantasie, in der er stundig neue Duftkombinationen zusammenstellte, herrschte noch kein usthetisches Prinzip. Es waren Bizarrerien, die er schuf und alsbald wieder zersturte wie ein Kind, das mit Bauklutzen spielt, erfindungsreich und destruktiv, ohne erkennbares schupferisches Prinzip. 8 Am 1. September 1753, dem Jahrestag der Thronbesteigung des Kunigs, ließ die Stadt Paris am Pont Royal ein Feuerwerk abbrennen. Es war nicht so spektakulur wie das Feuerwerk zur Feier der Verehelichung des Kunigs oder wie jenes legendure Feuerwerk aus Anlass der Geburt des Dauphin, aber es war immerhin ein sehr beeindruckendes Feuerwerk. Man hatte goldene Sonnenruder auf die Masten der Schiffe montiert. Von der Brucke spieen sogenannte Feuerstiere einen brennenden Sternenregen in den Fluss. Und wuhrend alluberall unter betuubendem Lurm Petarden platzten und Knallfrusche uber das Pflaster zuckten, stiegen Raketen in den Himmel und malten weiße Lilien an das schwarze Firmament. Eine vieltausendkupfige Menge, welche sowohl auf der Brucke als auch auf den Quais zu beiden Seiten des Flusses versammelt war, begleitete das Spektakel mit begeisterten Ahs und Ohs und Bravos und sogar mit Vivats - obwohl der Kunig seinen Thron schon vor achtunddreißig Jahren bestiegen und den Huhepunkt seiner Beliebtheit lungst uberschritten hatte. So viel vermag ein Feuerwerk. Grenouille stand stumm im Schatten des Pavillon de Flore, am rechten Ufer, dem Pont Royal gegenuber. Er ruhrte keine Hand zum Beifall, er schaute nicht einmal hin, wenn die Raketen aufstiegen. Er war gekommen, weil er glaubte, irgend etwas Neues erschnuppern zu kunnen, aber es stellte sich bald heraus, dass das Feuerwerk geruchlich nichts zu bieten hatte. Was da in verschwenderischer Vielfalt funkelte und spruhte und krachte und pfiff, hinterließ ein huchst eintuniges Duftgemisch von Schwefel, ul und Salpeter. Er war schon im Begriff, die langweilige Veranstaltung zu verlassen, um an der Galerie des Louvre entlang heimwurts zu gehen, als ihm der Wind etwas zutrug, etwas Winziges, kaum Merkliches, ein Bruselchen, ein Duftatom, nein, noch weniger: eher die Ahnung eines Dufts als einen tatsuchlichen Duft - und zugleich doch die sichere Ahnung von etwas Niegerochenem. Er trat wieder zuruck an die Mauer, schloss die Augen und bluhte die Nustern. Der Duft war so ausnehmend zart und fein, dass er ihn nicht festhalten konnte, immer wieder entzog er sich der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom Pulverdampf der Petarden, blockiert von den Ausdunstungen der Menschenmassen, zerstuckelt und zerrieben von den tausend andren Geruchen der Stadt. Aber dann, plutzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang als herrliche Andeutung zu riechen... und verschwand alsbald. Grenouille litt Qualen. Zum ersten Mal war es nicht nur sein gieriger Charakter, dem eine Krunkung widerfuhr, sondern tatsuchlich sein Herz, das litt. Ihm schwante sonderbar, dieser Duft sei der Schlussel zur Ordnung aller anderen Dufte, man habe nichts von den Duften verstanden, wenn man diesen einen nicht verstand, und er Grenouille, hutte sein Leben verpfuscht, wenn es ihm nicht gelunge, diesen einen zu besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen. Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft uberhaupt kam. Manchmal dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde, minutenlang, und jedesmal uberfiel ihn die grußliche Angst, er hutte ihn auf immer verloren. Endlich rettete er sich in den verzweifelten Glauben, der Duft komme vom anderen Ufer des Flusses, irgendwoher aus sudustlicher Richtung. Er luste sich von der Mauer des Pavillon de Flore, tauchte in die Menschenmenge ein und bahnte sich seinen Weg uber die Brucke. Alle paar Schritte blieb er stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um uber die Kupfe der Menschen hinwegzuschnuppern, roch zunuchst nichts vor lauter Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, sturker sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen Fuhrte, tauchte unter, wuhlte sich weiter durch die Menge der Gaffer und der Feuerwerker, die alle Augenblicke ihre Fackeln an die Lunten der Raketen hielten, verlor im beißenden Qualm des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß und rempelte weiter und wuhlte sich fort, erreichte nach endlosen Minuten das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einmundung der Rue de Seine... Hier blieb er stehen, sammelte sich und roch. Er hatte ihn. Er hielt ihn fest. Wie ein Band kam der Geruch die Rue de Seine herabgezogen, unverwechselbar deutlich, dennoch weiterhin sehr zart und sehr fein. Grenouille spurte, wie sein Herz pochte, und er wusste, dass es nicht die Anstrengung des Laufens war, die es pochen machte, sondern seine erregte Hilflosigkeit vor der Gegenwart dieses Geruches. Er versuchte, sich an irgend etwas Vergleichbares zu erinnern und musste alle Vergleiche verwerfen. Dieser Geruch hatte Frische; aber nicht die Frische der Limetten oder Pomeranzen, nicht die Frische von Myrrhe oder Zimtblatt oder Krauseminze oder Birken oder Kampfer oder Kiefernnadeln, nicht von Mairegen oder Frostwind oder von Quellwasser..., und er hatte zugleich Wurme; aber nicht wie Bergamotte, Zypresse oder Moschus, nicht wie Jasmin und Narzisse, nicht wie Rosenholz und nicht wie Iris... Dieser Geruch war eine Mischung aus beidem, aus Fluchtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit, und dazu gering und schwach und dennoch solid und tragend, wie ein Stuck dunner schillernder Seide... und auch wieder nicht wie Seide, sondern wie honigsuße Milch, in der sich Biskuit lust - was j a nun beim besten Willen nicht zusammenging: Milch und Seide! Unbegreiflich dieser Duft, unbeschreiblich, in keiner Weise einzuordnen, es durfte ihn eigentlich gar nicht geben. Und doch war er da in herrlichster Selbstverstundlichkeit. Grenouille folgte ihm, mit bunglich pochendem Herzen, denn er ahnte, dass nicht er dem Duft folgte, sondern dass der Duft ihn gefangengenommen hatte und nun unwiderstehlich zu sich zog. Er ging die Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die Huuser standen leer und still. Die Leute waren unten am Fluss beim Feuerwerk. Kein hektischer Menschengeruch sturte, kein beißender Pulvergestank. Die Straße duftete nach den ublichen Duften von Wasser, Kot, Ratten und Gemuseabfall. Daruber aber schwebte zart und deutlich das Band, das Grenouille leitete. Nach wenigen Schritten war das wenige Nachtlicht des Himmels von den hohen Huusern verschluckt, und Grenouille ging weiter im Dunkeln. Er brauchte nichts zu sehen. Der Geruch fuhrte ihn sicher. Nach funfzig Metern bog er rechts ab in die Rue des Marais, eine womuglich noch dunklere, kaum eine Armspanne breite Gasse. Sonderbarerweise wurde der Duft nicht sehr viel sturker. Er wurde nur reiner, und dadurch, durch seine immer grußer werdende Reinheit, bekam er eine immer muchtigere Anziehungskraft. Grenouille ging ohne eigenen Willen. An einer Stelle zog ihn der Geruch hart nach rechts, scheinbar mitten in die Mauer eines Hauses hinein. Ein niedriger Gang tat sich auf, der in den Hinterhof fuhrte. Traumwandlerisch durchschritt Grenouille diesen Gang, durchschritt den Hinterhof, bog um eine Ecke, gelangte in einen zweiten, kleineren Hinterhof, und hier nun endlich war Licht: Der Platz umfasste nur wenige Schritte im Geviert. An der Mauer sprang ein schruges Holzdach vor. Auf einem Tisch darunter klebte eine Kerze. Ein Mudchen saß an diesem Tisch und putzte Mirabellen. Sie nahm die Fruchte aus einem Korb zu ihrer Linken, entstielte und entkernte sie mit einem Messer und ließ sie in einen Eimer fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille blieb stehen. Er wusste sofort, was die Quelle des Duftes war, den er uber eine halbe Meile hinweg bis ans andere Ufer des Flusses gerochen hatte: nicht dieser schmuddelige Hinterhof, nicht die Mirabellen. Die Quelle war das Mudchen. Fur einen Moment war er so verwirrt, dass er tatsuchlich dachte, er habe in seinem Leben noch nie etwas so Schunes gesehen wie dieses Mudchen. Dabei sah er nur ihre Silhouette von hinten gegen die Kerze. Er meinte naturlich, er habe noch nie so etwas Schunes gerochen. Aber da er doch Menschengeruche kannte, viele Tausende, Geruche von Munnern, Frauen, Kindern, wollte er nicht begreifen, dass ein so exquisiter Duft einem Menschen entstrumen konnte. ublicherweise rochen Menschen nichtssagend oder miserabel. Kinder rochen fad, Munner urinus, nach scharfem Schweiß und Kuse, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus uninteressant, abstoßend rochen die Menschen... Und so geschah es, dass Grenouille zum ersten Mal in seinem Leben seiner Nase nicht traute und die Augen zuhilfe nehmen musste, um zu glauben, was er roch. Die Sinnesverwirrung dauerte freilich nicht lange. Es war tatsuchlich nur ein Augenblick, den er benutigte, um sich optisch zu vergewissern und sich alsdann desto ruckhaltloser den Wahrnehmungen seines Geruchssinns hinzugeben. Nun roch er, dass sie ein Mensch war, roch den Schweiß ihrer Achseln, das Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und roch mit grußtem Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie Meerwind, der Talg ihrer Haare so suß wie Nussul, ihr Geschlecht wie ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenblute..., und die Verbindung all dieser Komponenten ergab ein Parfum so reich, so balanciert, so zauberhaft, dass alles, was Grenouille bisher an Parfums gerochen, alles, was er selbst in seinem Innern an Geruchsgebuuden spielerisch erschaffen hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend Dufte schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das huhere Prinzip, nach dessen Vorbild sich die undern ordnen mussten. Er war die reine Schunheit. Fur Grenouille stand fest, dass ohne den Besitz des Duftes sein Leben keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte zarteste Verustelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe Erinnerung an ihn genugte nicht. Er wollte wie mit einem Prugestempel das apotheotische Parfum ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser Zauberformel denken, leben, riechen. Er ging langsam auf das Mudchen zu, immer nuher, trat unter das Vordach und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie hurte ihn nicht. Sie hatte rote Haare und trug ein graues Kleid ohne urmel. Ihre Arme waren sehr weiß und ihre Hunde gelb vom Saft der aufgeschnittenen Mirabellen. Grenouille stand uber sie gebeugt und sog ihren Duft jetzt vullig unvermischt ein, so wie er aufstieg von ihrem Nacken, ihren Haaren, aus dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in sich hineinstrumen wie einen sanften Wind. Ihm war noch nie so wohl gewesen. Dem Mudchen aber wurde es kuhl. Sie sah Grenouille nicht. Aber sie bekam ein banges Gefuhl, ein sonderbares Frusteln, wie man es bekommt, wenn einen plutzlich eine alte abgelegte Angst befullt. Ihr war, als herrsche da ein kalter Zug in ihrem Rucken, als habe jemand eine Ture aufgestoßen, die in einen riesengroßen kalten Keller fuhrt. Und sie legte ihr Kuchenmesser weg, zog die Arme an die Brust und wandte sich um. Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte, ihr seine Hunde um den Hals zu legen. Sie versuchte keinen Schrei, ruhrte sich nicht, tat keine abwehrende Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an. Ihr feines sommersprossenubersprenkeltes Gesicht, den roten Mund, die großen funkelnd grunen Augen sah er nicht, denn er hielt seine Augen fest geschlossen, wuhrend er sie wurgte, und hatte nur die eine Sorge, von ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren. Als sie tot war, legte er sie auf den Boden mitten in die Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und der Duftstrom wurde zur Flut, sie uberschwemmte ihn mit ihrem Wohlgeruch. Er sturzte sein Gesicht auf ihre Haut und fuhr mit weitgebluhten Nustern von ihrem Bauch zurBrust, zum Hals, in ihr Gesicht und durch die Haare und zuruck zum Bauch, hinab an ihr Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge. Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr hocken, um sich zu versammeln, denn er war ubervoll von ihr. Er wollte nichts von ihrem Duft verschutten. Erst musste er die innern Schotten dicht verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus...... Um diese Zeit kamen die ersten Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue de Seine herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits Augustins hinuber, die parallel zur Rue de Seine zum Fluss fuhrte. Wenig sputer entdeckte man die Tote. Geschrei erhob sich. Fackeln wurden angezundet. Die Wache kam. Grenouille war lungst am anderen Ufer. In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Gluck sei, hatte er in seinem Leben bisher nicht erfahren. Er kannte allenfalls sehr seltene Zustunde von dumpfer Zufriedenheit. Jetzt aber zitterte er vor Gluck und konnte vor lauter Gluckseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als wurde er zum zweiten Mal geboren, nein, nic ht zum zweiten, zum ersten Mal, denn bisher hatte er bloß animalisch existiert in huchst nebuluser Kenntnis seiner selbst. Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er endlich, wer er wirklich sei: numlich nichts anderes als ein Genie; und dass sein Leben Sinn und Zweck und Ziel und huhere Bestimmung habe: numlich keine geringere, als die Welt der Dufte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle Mittel besitze: numlich seine exquisite Nase, sein phunomenales Geduchtnis und, als Wichtigstes von allem, den prugenden Duft dieses Mudchens aus der Rue des Marais, in welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen großen Duft, was ein Parfum ausmachte: Zartheit, Kraft, Dauer, Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Schunheit. Er hatte den Kompass fur sein kunftiges Leben gefunden. Und wie alle genialen Scheusale, denen durch ein uußeres Ereignis ein gerades Geleis ins Spiralenchaos ihrer Seelen gelegt wird, wich Grenouille von dem, was er als Richtung seines Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht mehr ab. Jetzt wurde ihm klar, weshalb er so zuh und verbissen am Leben hing: Er musste ein Schupfer von Duften sein. Und nicht nur irgendeiner. Sondern der grußte Parfumeur aller Zeiten. Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum, das riesige Trummerfeld seiner Erinnerung. Er prufte die Millionen und Abermillionen von Duftbauklutzen und brachte sie in eine systematische Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches zu Ambrosischem. Im Verlauf der nuchsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der Dufte immer reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgebuude aufzurichten: Huuser, Mauern, Stufen, Turme, Keller, Zimmer, geheime Gemucher... eine tuglich sich erweiternde, tuglich sich verschunende und perfekter gefugte innere Festung der herrlichsten Duftkompositionen. Dass am Anfang dieser Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn uberhaupt bewusst, vollkommen gleichgultig. An das Bild des Mudchens aus der Rue des Marais, an ihr Gesicht, an ihren Kurper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip ihres Dufts. 9 Zu jener Zeit gab es in Paris ein gutes Dutzend Parfumeure. Sechs von ihnen lebten am rechten Ufer, sechs am linken Ufer, und einer akkurat dazwischen, numlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer mit der Ile de la Citu verband. Diese Brucke war zu beiden Seiten so dicht mit vierstuckigen Huusern bebaut, dass man beim uberschreiten den Fluss an keiner Stelle zu Gesicht bekam, sondern sich auf einer ganz normalen, fest fundierten und obendrein noch uußerst eleganten Straße wuhnte. In der Tat galt der Pont au Change fur eine der feinsten Geschuftsadressen der Stadt. Hier befanden sich die renommiertesten Luden, hier saßen die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Peruckenmacher und Taschner, die Verfertiger feinster Dessous und Strumpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelhundler, Epaulettensticker, Goldknupfegießer und Bankiers. Und hier lag auch das Geschufts- und Wohnhaus des Parfumeurs und Handschuhmachers Giuseppe Baldini. uber sein Schaufenster spannte sich ein pruchtiger grunlackierter Baldachin, daneben hing Baldinis Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon, aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der Ture lag ein roter Teppich, der ebenfalls Baldinis Wappen trug, als goldene Stickerei. uffnete man die Ture, dann erklang ein persisches Glockenspiel, und zwei silberne Reiher begannen, aus ihren Schnubeln Veilchenwasser in eine vergoldete Schale zu speien, die ihrerseits die Flakonform von Baldinis Wappen besaß. Hinter dem Kontor aus hellem Buchsbaum aber stand Baldini selbst, alt und starr wie eine Suule, in silberbepuderter Perucke und blauem goldbetresstem Rock. Eine Wolke von Frangipaniwasser, mit dem er sich allmorgendlich bespruhte, umgab ihn geradezu sichtbar und ruckte seine Person in nebelhafte Ferne. In seiner Unbeweglichkeit sah er aus wie sein eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien - beides geschah nicht allzu oft -, wurde plutzlich Leben in ihn kommen, wurde seine Gestalt in sich zusammensinken, klein und wuselig werden und unter vielen Bucklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen, so schnell, dass die Frangipaniwasserwolke kaum zu folgen vermuchte, und den Kunden bitten, Platz zu nehmen zur Vorfuhrung erlesenster Dufte und Kosmetika. Baldini hatte deren Tausende. Sein Angebot reichte von Essences absolues, Blutenulen, Tinkturen, Auszugen, Sekreten, Balsamen, Harzen und sonstigen Drogen in trockener, flussiger oder wachsartiger Form, uber diverse Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes, Sachets, Bandolinen, Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen und Schunheitspflusterchen bis hin zu Badewussern, Lotionen, Riechsalzen, Toilettenessigen und einer Unzahl echter Parfums. Doch Baldini begnugte sich nicht mit diesen Produkten der klassischen Schunheitspflege. Sein Ehrgeiz bestand darin, in seinem Laden alles zu versammeln, was irgendwie duftete oder in irgendeiner Weise dem Duft diente. Und so fanden sich neben Ruucherpastillen, Ruucherkerzen und Ruucherbundern auch sumtliche Gewurze vom Anissamen bis zur Zimtrinde, Sirups, Likure und Obstwusser, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige, Kaffees, Tees, getrocknete und kandierte Fruchte, Feigen, Bonbons, Schokoladen, Maronen, ja sogar eingelegte Kapern, Gurken und Zwiebeln und marinierter Thunfisch. Und dann wieder duftender Siegellack, parfumiertes Briefpapier, nach Rosenul riechende Liebestinte, Schreibmappen aus spanischem Leder, Federhalter aus weißem Sandelholz, Kustchen und Truhen aus Zedernholz, Potpourris und Schalen fur Blutenblutter, Weihrauchbehulter aus Messing, Flakons und Tiegelchen aus Kristall mit geschliffenen Stupseln aus Bernstein, riechende Handschuhe, Taschentucher, mit Muskatblute gefullte Nuhnadelkissen und moschusbedampfte Tapeten, die ein Zimmer lunger als einhundert Jahre mit Duft erfullen konnten. Naturlich hatten all diese Waren nicht im pompusen, zur Straße (oder zur Brucke) hin gelegenen Laden Platz, und so mussten, in Ermanglung eines Kellers, nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste und zweite Stock sowie fast sumtliche zum Fluss hin gelegenen Ruume des Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon war, dass im Hause Baldini ein unbeschreibliches Chaos von D