end, sondern beobachtend und registrierend an den Schupfungsakten teilnahm, auf Baldini eine beruhigende Wirkung und sturkte sein Selbstvertrauen. Nach einer Weile glaubte er gar von sich, zum Gelingen der sublimen Dufte nicht unwesentlich beizutragen. Und wenn er sie erst einmal in seine Buchlein eingetragen hatte und im Tresor und dicht am eigenen Busen verwahrte, zweifelte er sowieso nicht mehr daran, dass sie nun ganz und gar sein eigen seien. Aber auch Grenouille profitierte von dem disziplinierenden Verfahren, das ihm von Baldini aufgezwungen wurde. Er selbst war zwar nicht darauf angewiesen. Er musste nie eine alte Formel nachschlagen, um ein Parfum nach Wochen oder Monaten zurekonstruieren, denn er vergaß Geruche nicht. Aber er erlernte mit der obligatorischen Verwendung von Messbecher und Waage die Sprache der Parfumerie, under spurte instinktiv, dass ihm die Kenntnis dieser Sprache von Nutzen sein konnte. Nach wenigen Wochen beherrschte Grenouille nicht nur die Namen sumtlicher Duftstoffe in Baldinis Werkstatt, sondern er war auch in der Lage, die Formel seiner Parfums selbst niederzuschreiben und umgekehrt, fremde Formeln und Anweisungen in Parfums und sonstige Riecherzeugnisse zu verwandeln. Und mehr noch! Nachdem er einmal gelernt hatte, seine parfumistischen Ideen in Gramm und Tropfen auszudrucken, bedurfte er nicht einmal mehr des experimentellen Zwischenschritts. Wenn Baldini ihm auftrug, einen neuen Duft, sei es fur ein Taschentuchparfum, fur ein Sachet, fur eine Schminke zu kreieren, so griff Grenouille nicht mehr zu Flakons und Pulvern, sondern er setzte sich einfach an den Tisch und schrieb die Formel direkt nieder. Er hatte gelernt, den Weg von seiner inneren Geruchsvorstellung zum fertigen Parfum um die Herstellung der Formel zu erweitern. Fur ihn war das ein Umweg. In den Augen der Welt, das heisst in Baldinis Augen, jedoch war es ein Fortschritt. Grenouilles Wunder blieben dieselben. Aber die Rezeptur, mit denen er sie nun versah, nahmen ihnen den Schrecken, und das war von Vorteil. Je besser Grenouille die handwerklichen Griffe und Verfahrensweisen beherrschte, je normaler er sich in der konventionellen Sprache der Parfumerie auszudrucken wusste, desto weniger furchtete und beargwuhnte ihn der Meister. Bald hielt Baldini ihn zwar noch fur einen ungewuhnlich begabten Geruchsmenschen, nicht mehr aber fur einen zweiten Frangipani oder gar fur einen unheimlichen Hexenmeister, und Grenouille war das nur recht. Der handwerkliche Komment diente ihm als willkommene Tarnung. Er lullte Baldini geradezu ein durch sein vorbildliches Verfahren beim Wugen der Zutaten, beim Schwenken der Mischflasche, beim Betupfen des weißen Probiertuchleins. Er konnte es fast schon so zierlich schutteln, so elegant an der Nase voruberfliegen lassen wie der Meister. Und gelegentlich, in wohldosierten Intervallen, beging er Fehler, die so beschaffen waren, dass Baldini sie bemerken musste: Vergaß zu filtrieren, stellte die Waage falsch ein, schrieb einen unsinnig hohen Prozentsatz von Ambertinktur in eine Formel... und ließ sich den Fehler verweisen, um ihn dann geflissentlichst zu korrigieren. So gelang es ihm, Baldini in der Illusion zu wiegen, es gehe letzten Endes alles doch mit rechten Dingen zu. Er wollte den Alten ja nicht verprellen. Er wollte ja wirklich von ihm lernen. Nicht das Mischen von Parfums, nicht die rechte Komposition eines Duftes, naturlich nicht! Auf diesem Gebiet gab es niemand auf der Welt, der ihn etwas hutte lehren kunnen, und die in Baldinis Laden vorhandenen Ingredienzien hutten auch bei weitem nicht ausgereicht, seine Vorstellungen eines wirklich großen Parfums zu verwirklichen. Was er bei Baldini an Geruchen realisieren konnte, waren Spielereien verglichen mit den Geruchen, die er in sich trug und die er eines Tages zu realisieren gedachte. Dazu aber, das wusste er, bedurfte es zweier unabdingbarer Voraussetzungen: Die eine war der Mantel einer burgerlichen Existenz; mindestens des Gesellentums, in dessen Schutz er seinen eigentlichen Leidenschaften frunen und seine eigentlichen Ziele ungesturt verfolgen konnte. Die andre war die Kenntnis jener handwerklichen Verfahren, nach denen man Duftstoffe herstellte, isolierte, konzentrierte, konservierte und somit fur eine huhere Verwendung uberhaupt erst verfugbar machte. Denn Grenouille besaß zwar in der Tat die beste Nase der Welt, sowohl analytisch als auch visionur, aber er besaß noch nicht die Fuhigkeit, sich der Geruche dinglich zu bemuchtigen. 18 Und so ließ er sich denn willig unterweisen in der Kunst des Seifenkochens aus Schweinefett, des Handschuhnuhens aus Waschleder, des Pudermischens aus Weizenmehl und Mandelkleie und gepulverten Veilchenwurzeln. Rollte Duftkerzen aus Holzkohle, Salpeter und Sandelholzspunen. Presste orientalische Pastillen aus Myrrhe, Benzoe und Bernsteinpulver. Knetete Weihrauch, Schellack, Vetiver und Zimt zu Ruucherkugelchen. Siebte und spaltete Poudre Imperiale aus gemahlenen Rosenbluttern, Lavendelblute, Kaskarillarinde. Ruhrte Schminken, weiß und aderblau, und formte Fettstifte, karmesinrot, fur die Lippen. Schlummte feinste Fingernagelpulver und Zahnkreiden, die nach Minze schmeckten. Mixte Kruuselflussigkeit fur das Peruckenhaar und Warzentropfen fur die Huhneraugen, Sommersprossenbleiche fur die Haut und Belladonnaauszug fur die Augen, Spanischfliegensalbe fur die Herren und Hygieneessig fur die Damen... Die Herstellung sumtlicher Wusserchen und Pulverchen, Toilette- und Schunheitsmittelchen, aber auch von Tee- und Wurzmischungen, von Likuren, Marinaden und dergleichen, kurz, alles, was Baldini ihn mit seinem großen uberkommenen Wissen zu lehren hatte, lernte Grenouille, ohne sonderliches Interesse zwar, doch klaglos und mit Erfolg. Mit besonderem Eifer war er hingegen bei der Sache, wenn Baldini ihn im Anfertigen von Tinkturen, Auszugen und Essenzen unterwies. Unermudlich konnte er Bittermandelkerne in der Schraubenpresse quetschen oder Moschuskurner stampfen oder fette graue Amberknollen mit dem Wiegemesser hacken oder Veilchenwurzeln raspeln, um die Spune dann in feinstem Alkohol zu digerieren. Er lernte den Gebrauch des Scheidetrichters kennen, mit welchem man das reine ul gepresster Limonenschalen von der truben Ruckstandsbruhe trennte. Er lernte Kruuter und Bluten zu trocknen, auf Rosten in schattiger Wurme, und das raschelnde Laub in wachsversiegelten Tupfen und Truhen zu konservieren. Er erlernte die Kunst, Pomaden auszuwaschen, Infusionen herzustellen, zu filtrieren, zu konzentrieren, zu klarifizieren und zu rektifizieren. Freilich war Baldinis Werkstatt nicht dazu geeignet, dass man darin in großem Stile Bluten- oder Kruuterule fabrizierte. Es hutte in Paris ja auch die notwendigen Mengen frischer Pflanzen kaum gegeben. Gelegentlich jedoch, wenn frischer Rosmarin, wenn Salbei, Minze oder Anissamen am Markt billig zu haben waren oder wenn ein grußerer Posten Irisknollen oder Baldrianwurzel, Kummel, Muskatnuss oder trockne Nelkenblute eingetroffen war, dann regte sich Baldinis Alchimistenader, und er holte seinen großen Alambic hervor, einen kupfernen Destillierbottich mit oben aufgesetztem Kondensiertopf - einen sogenannten Maurenkopfalambic, wie er stolz verkundete -, mit dem er schon vor vierzig Jahren an den sudlichen Hungen Liguriens und auf den Huhen des Luberon auf freiem Felde Lavendel destilliert habe. Und wuhrend Grenouille das Destilliergut zerkleinerte, heizte Baldini in hektischer Eile - denn rasche Verarbeitung war das A und O des Geschufts - eine gemauerte Feuerstelle ein, auf die er den kupfernen Kessel, mit einem guten Bodensatz Wasser gefullt, postierte. Er warf die Pflanzenteile hinein, stopfte den doppelwandigen Maurenkopf auf den Stutzen und schloss zwei Schluuchlein fur zu- und abfließendes Wasser daran an. Diese raffinierte Wasserkuhlungskonstruktion, so erklurte er, sei erst nachtruglich von ihm eingebaut worden, denn seinerzeit auf dem Felde habe man selbstverstundlich mit bloßer zugefuchelter Luft gekuhlt. Dann blies er das Feuer an. Allmuhlich begann es, im Kessel zu brodeln. Und nach einer Weile, erst zaghaft trupfchenweise, dann in fadendunnem Rinnsal, floss Destillat aus der dritten Ruhre des Maurenkopfs in eine Florentinerflasche, die Baldini untergestellt hatte. Es sah zunuchst recht unansehnlich aus, wie eine dunne, trube Suppe. Nach und nach aber, vor allem wenn die gefullte Flasche durch eine neue ausgetauscht und ruhig beiseite gestellt worden war, schied sich die Bruhe in zwei verschiedene Flussigkeiten: unten stand das Bluten- oder Kruuterwasser, obenauf schwamm eine dicke Schicht von ul. Goss man nun vorsichtig durch den unteren Schnabelhals der Florentinerflasche das nur zart duftende Blutenwasser ab, so blieb das reine ul zuruck, die Essenz, das starke riechende Prinzip der Pflanze. Grenouille war von dem Vorgang fasziniert. Wenn je etwas im Leben Begeisterung in ihm entfacht hatte freilich keine uußerlich sichtbare, sondern eine verborgene, wie in kalter Flamme brennende Begeisterung -, dann war es dieses Verfahren, mit Feuer, Wasser und Dampf und einer ausgeklugelten Apparatur den Dingen ihre duftende Seele zu entreißen. Diese duftende Seele, das utherische ul, war ja das Beste an ihnen, das einzige, um dessentwillen sie ihn interessierten. Der blude Rest: Blute, Blutter, Schale, Frucht, Farbe, Schunheit, Lebendigkeit und was sonst noch an uberflussigem in ihnen steckte, das kummerte ihn nicht. Das war nur Hulle und Ballast. Das gehurte weg. Von Zeit zu Zeit, wenn das Destillat wussrig klar geworden war, nahmen sie den Alambic vom Feuer, uffneten ihn und schutteten das zerkochte Zeug heraus. Es sah schlapp aus und blass wie aufgeweichtes Stroh, wie gebleichte Knochen kleiner Vugel, wie Gemuse, das zu lang gekocht hat, fad und fasrig, matschig, kaum noch als es selbst erkenntlich, eklig leichenhaft und so gut wie vollstundig des eigenen Geruchs beraubt. Sie warfen es zum Fenster hinaus in den Fluss. Dann beschickten sie mit neuen frischen Pflanzen, fullten Wasser nach und setzten den Alambic zuruck auf die Feuerstelle. Und wieder begann der Kessel zu brodeln, und wieder rann der Lebenssaft der Pflanzen in die Florentinerflaschen. So ging es oft die ganze Nacht hindurch. Baldini besorgte den Ofen, Grenouille behielt die Flaschen im Auge, mehr war nicht zu tun in der Zeit zwischen den Wechseln. Sie saßen auf Schemeln ums Feuer, im Banne des plumpen Bottichs, beide gebannt, wenn auch aus sehr verschiedenen Grunden. Baldini genoss die Glut des Feuers und das flackernde Rot der Flammen und des Kupfers, er liebte das Knistern des brennenden Holzes, das Gurgeln des Alambics, denn das war wie fruher. Da konnte man ins Schwurmen kommen! Er holte eine Flasche Wein aus dem Laden, denn die Hitze machte ihn durstig, und Weintrinken, das war auch wie fruher. Und dann fing er an, Geschichten zu erzuhlen, von damals, endlos. Vom spanischen Erbfolgekrieg, an dessen Verlauf er, gegen die usterreicher kumpfend, maßgeblich beteiligt gewesen sei; von den Camisards, mit denen er die Cevennen unsicher gemacht habe; von der Tochter eines Hugenotten im Esterei, die vom Lavendelduft berauscht ihm zu Willen gewesen sei; von einem Waldbrand, den er dabei um ein Haar entfacht und der dann wohl die gesamte Provence in Brand gesteckt hutte, so sicher wie das Amen in der Kirche, denn es ging ein scharfer Mistral; und vom Destillieren erzuhlte er, immer wieder davon, auf freiem Feld, nachts, beim Mondschein, bei Wein und bei Zikadengeschrei, und von einem Lavendelul, das er dabei erzeugt habe, so fein und kruftig, dass man es ihm mit Silber auf gewogen habe; von seiner Lehrzeit in Genua, von seinen Wanderjahren und von der Stadt Grasse, in der es so viele Parfumeure gebe wie anderswo Schuster, und so reiche darunter, dass sie lebten wie Fursten, in pruchtigen Huusern mit schattigen Gurten und Terrassen und holzgetufelten Esszimmern, in denen sie speisten von porzellanenen Tellern mit Goldbesteck, und so fort... Solche Geschichten erzuhlte der alte Baldini und trank Wein dazu und bekam vom Wein und von der Feuerglut und von der Begeisterung uber seine eignen Geschichten ganz feuerrote Buckchen. Grenouille aber, der etwas mehr im Schatten saß, hurte gar nicht zu. Ihn interessierten keine alten Geschichten, ihn interessierte ausschließlich der neue Vorgang. Er starrte unausgesetzt auf das Ruhrchen am Kopf des Alambics, aus dem in dunnem Strahl das Destillat rann. Und indem er es anstarrte, stellte er sich vor, er selbst sei so ein Alambic, in dem es brodele wie in diesem und aus dem ein Destillat hervorquelle wie hier, nur eben besser, neuer, ungewohnter, ein Destillat von jenen exquisiten Pflanzen, die er selbst in seinem Innern gezogen hatte, die dort bluhten, ungerochen außer von ihm selbst, und die mit ihrem einzigartigen Parfum die Welt in einen duftenden Garten Eden verwandeln kunnten, in welchem fur ihn das Dasein olfaktorisch einigermaßen ertruglich wure. Ein großer Alambic zu sein, der alle Welt mit seinen selbsterzeugten Destillaten uberschwemmte, das war der Wunschtraum, dem Grenouille sich hingab. Wuhrend aber Baldini, vom Wein entzundet, immer ausschweifendere Geschichten davon erzuhlte, wie es fruher gewesen war, und sich immer hemmungsloser in die eigenen Schwurmereien verstrickte, ließ Grenouille bald ab von seiner bizarren Phantasie. Er verbannte die Vorstellung vom großen Alambic furs erste aus seinem Kopf und uberlegte stattdessen, wie er sich seine neuerworbenen Kenntnisse fur nuherliegende Ziele nutzbar machen kunnte. 19 Nicht lang, und er war ein Spezialist auf dem Gebiet des Destillierens. Er fand heraus - und seine Nase half ihm dabei mehr als Baldinis Regelwerk -, dass die Hitze des Feuers von entscheidendem Einfluss auf die Gute des Destillates war. Jede Pflanze, jede Blute, jedes Holz und jede ulfrucht verlangten eine besondere Prozedur. Mal musste schurfster Dampf entwickelt, mal nur mußig stark gebrodelt werden, und manche Blute gab ihr Bestes erst, wenn man sie auf kleinster Flamme schwitzen ließ. uhnlich wichtig war die Aufbereitung. Minze und Lavendel konnte man in ganzen Buscheln destillieren. Andres wollte fein verlesen sein, zerpfluckt, gehackt, geraspelt, gestampft oder sogar als Maische angesetzt, bevor es in den Kupferkessel kam. Manches aber ließ sich uberhaupt nicht destillieren, und das erbitterte Grenouille aufs uußerste. Baldini hatte ihm, als er sah, wie sicher Grenouille die Apparatur beherrschte, freie Hand im Umgang mit dem Alambic gelassen, und Grenouille hatte diese Freiheit weidlich genutzt. Wuhrend er tagsuber Parfums mischte und sonstige Duft- und Wurzprodukte fertigte, beschuftigte er sich nachts ausschließlich mit der geheimnisvollen Kunst des Destillierens. Sein Plan war, vollkommen neue Geruchsstoffe zu produzieren, um damit wenigstens einige der Dufte, die er in seinem Innern trug, herstellen zu kunnen. Zunuchst hatte er auch kleine Erfolge. Es gelang ihm, ein ul von Brennesselbluten und von Kressesamen zu erzeugen, ein Wasser von der frischgeschulten Rinde des Holunder-Strauchs und von Eibenzweigen. Die Destillate uhnelten zwar im Duft den Ausgangsstoffen kaum noch, waren aber immerhin noch interessant genug, um fur weitere Verarbeitung zu taugen. Dann allerdings gab es Stoffe, bei denen das Verfahren vollstundig versagte. Grenouille versuchte etwa, den Geruch von Glas zu destillieren, den lehmig-kuhlen Geruch glatten Glases, der von normalen Menschen gar nicht wahrzunehmen ist. Er besorgte sich Fensterglas und Flaschenglas und verarbeitete es in großen Stucken, in Scherben, in Splittern, als Staub - ohne den geringsten Erfolg. Er destillierte Messing, Porzellan und Leder, Korn und Kieselsteine. Schiere Erde destillierte er. Blut und Holz und frische Fische. Seine eigenen Haare. Am Ende destillierte er sogar Wasser, Wasser aus der Seine, dessen eigentumlicher Geruch ihm wert schien, aufbewahrt zu werden. Er glaubte, mit Hilfe des Alambics kunne er diesen Stoffen ihren charakteristischen Duft entreißen, wie das bei Thymian, bei Lavendel und beim Kummelsamen muglich war. Er wusste ja nicht, dass die Destillation nichts anderes war als ein Verfahren zur Trennung gemischter Substanzen in ihre fluchtigen und weniger fluchtigen Einzelteile und dass sie fur die Parfumerie nur insofern von Nutzen war, als sie das fluchtige utherische ul gewisser Pflanzen von ihren duftlosen oder duftarmen Resten absondern konnte. Bei Substanzen, denen dieses utherische ul abging, war das Verfahren der Destillation naturlich vullig sinnlos. Uns heutigen Menschen, die wir physikalisch ausgebildet sind, leuchtet das sofort ein. Fur Grenouille jedoch war diese Erkenntnis das muhselig errungene Ergebnis einer langen Kette von enttuuschenden Versuchen. uber Monate hinweg hatte er Nacht fur Nacht am Alambic gesessen und auf jede erdenkliche Weise versucht, mittels Destillation radikal neue Dufte zu erzeugen, Dufte, wie es sie in konzentrierter Form auf Erden noch nicht gegeben hatte. Und bis auf ein paar lucherliche Pflanzenule war nichts dabei herausgekommen. Aus dem tiefen, unermesslich reichen Brunnen seiner Vorstellung hatte er keinen einzigen Tropfen konkreter Duftessenz gefurdert, von allem, was ihm geruchlich vorgeschwebt hatte, nicht ein Atom realisieren kunnen. Als er sich uber sein Scheitern klargeworden war, stellte er die Versuche ein und wurde lebensbedrohlich krank. 20 Er bekam hohes Fieber, das in den ersten Tagen von Ausschwitzungen begleitet war und sputer, als genugten die Poren der Haut nicht mehr, unzuhlige Pusteln erzeugte. Grenouilles Kurper war ubersut von diesenroten Bluschen. Viele von ihnen platzten auf und ergossen ihren wussrigen Inhalt, um sich dann wieder von neuem zu fullen. Andere wuchsen sich zu wahren Furunkeln aus, schwollen dick rot an und rissen wie Krater auf und spieen dickflussigen Eiter aus und mit gelben Schlieren durchsetztes Blut. Nach einer Weile sah Grenouille aus wie ein von innen gesteinigter Murtyrer, aus hundert Wunden schwurend. Da machte sich Baldini naturlich Sorgen. Es wure ihm sehr unangenehm gewesen, seinen kostbaren Lehrling ausgerechnet in einem Augenblick zu verlieren, wo er sich anschickte, seinen Handel uber die Grenzen der Hauptstadt, ja sogar des ganzen Landes auszudehnen. Denn in der Tat geschah es immer huufiger, dass nicht nur aus der Provinz, sondern auch von auslundischen Hufen Bestellungen eingingen fur jene neuartigen Dufte, nach denen Paris verruckt war; und Baldini trug sich mit dem Gedanken, zur Bewultigung dieser Nachfrage eine Filiale im Faubourg Saint-Antoine zu grunden, eine veritable kleine Manufaktur, wo die gungigsten Dufte en gros gemischt und en gros in nette kleine Flakons gefullt, von netten kleinen Mudchen verpackt nach Holland, England und ins Deutsche Reich verschickt werden sollten. Fur einen in Paris ansussigen Meister war ein solches Unterfangen nicht gerade legal, aber neuerdings verfugte Baldini ja uber Protektion huheren Orts, seine raffinierten Dufte hatten sie ihm verschafft, nicht nur beim Intendanten, sondern auch bei so wichtigen Persunlichkeiten wie Monsieur dem Zollpuchter von Paris und einem Mitglied des kuniglichen Finanzkabinetts und Furderer wirtschaftlich florierender Unternehmen wie dem Herrn Feydeau de Brou. Dieser hatte sogar kunigliches Privileg in Aussicht gestellt, das Beste, was man sich uberhaupt wunschen konnte, war es doch eine Art Passepartout zur Umgehung sumtlicher staatlicher und stundischer Bevormundung, das Ende aller geschuftlichen Sorgen und eine ewige Garantie fur sicheren, unangefochtenen Wohlstand. Und dann gab es noch einen anderen Plan, mit dem Baldini schwanger ging, einen Lieblingsplan, eine Art Gegenprojekt zu der Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, die, wenn nicht Massenware, so doch fur jedermann kuufliche produzierte: Er wollte fur eine ausgewuhlte Zahl hoher und huchster Kundschaft persunliche Parfums kreieren, vielmehr kreieren lassen, Parfums, die, wie angeschneiderte Kleider, nur zu einer Person passten, nur von dieser verwendet werden durften und allein ihren erlauchten Namen trugen. Er stellte sich ein >Parfum de la Marquise de Cernay< vor, ein >Parfum de la Marechale de Villars<, ein >Parfum du Duc d'Aiguillon< und so fort. Er truumte von einem >Parfum de Madame la Marquise de Pompadour<, ja sogar von einem >Parfum de Sa Majeste le Roi< im kustlichgeschliffenen achatenen Flakon mit ziselierter Goldfassung und dem auf der Innenseite des Fußes verborgen eingravierten Namen >Giuseppe Baldini, Parfumeur<. Des Kunigs Namen und sein eigener auf ein und demselben Gegenstand. Zu solch herrlichen Vorstellungen hatte sich Baldini verstiegen! Und nun war Grenouille krank geworden. Wo doch Grimal, Gott hab ihn selig, geschworen hatte, dem fehle nie etwas, der halte alles aus, sogar die schwarze Pest stecke der weg. War mir nichts, dir nichts krank auf den Tod. Wenn er sturbe? Entsetzlich! Dann sturben mit ihm die herrlichen Plune von der Manufaktur, von den netten kleinen Mudchen, vom Privilegium und vom Parfum des Kunigs. Also beschloss Baldini, nichts unversucht zu lassen, um das teure Leben seines Lehrlings zu retten. Er ordnete eine Umsiedlung von der Werkstattpritsche in ein sauberes Bett im Obergeschoß des Hauses an. Er ließ das Bett mit Damast beziehen. Er half eigenhundig mit, den Kranken die enge Stiege hinaufzutragen, obwohl ihn unsuglich vor den Pusteln und den schwurenden Furunkeln ekelte. Er befahl seiner Frau, Huhnerbruhe mit Wein zu kochen. Er schickte nach dem renommiertesten Arzt im Quartier, einem gewissen Procope, der im voraus bezahlt werden musste, zwanzig Franc! damit er sich uberhaupt herbemuhte. Der Doktor kam, hob mit spitzen Fingern das Laken hoch, warf einen einzigen Blick auf Grenouilles Kurper, der wirklich aussah wie von hundert Kugeln zerschossen, und verließ das Zimmer, ohne seine Tasche, die der Assistent ihm stundig nachtrug, auch nur geuffnet zu haben. Der Fall, begann er zu Baldini, sei vullig klar. Es handle sich um eine syphilitische Spielart der schwarzen Blattern untermischt mit eiternden Masern in stadio ultimo. Eine Behandlung sei schon deshalb nicht vonnuten, da ein Schnepper zum Aderlass an dem sich zersetzenden Leib, der einer Leiche uhnlicher sei als einem lebenden Organismus, gar nicht mehr ordnungsgemuß angebracht werden kunne. Und obwohl der fur den Krankheitsverlauf charakteristische pestilenzartige Gestank noch nicht wahrzunehmen sei - was allerdings verwundere und vom streng wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ein kleines Kuriosum darstelle -, kunne am Ableben des Patienten innerhalb der kommenden achtundvierzig Stunden nicht der geringste Zweifel herrschen, so wahr er Doktor Procope heiße. Worauf er sich abermals zwanzig Franc auszahlen ließ fur absolvierten Besuch und erstellte Prognose - funf Franc davon ruckzahlbar fur den Fall, dass man ihm den Kadaver mit der klassischen Symptomatik zu Demonstrationszwecken uberließ - und sich empfahl. Baldini war außer sich. Er klagte und schrie vor Verzweiflung. Er biss sich in die Finger vor Wut uber sein Schicksal. Wieder einmal wurden ihm die Plune fur den ganz, ganz großen Erfolg kurz vor dem Ziel vermasselt. Seinerzeit, da waren's Pelissier und seine Spießgesellen mit ihrem Erfindungsreichtum gewesen. Jetzt war's dieser Junge mit seinem unerschupflichen Fundus an neuen Geruchen, dieser mit Gold gar nicht aufzuwiegende kleine Dreckskerl, der ausgerechnet jetzt, in der geschuftlichen Aufbauphase, die syphilitischen Blattern bekommen musste und die eitrigen Masern in stadio ultimo! Ausgerechnet jetzt! Warum nicht in zwei Jahren? Warum nicht in einem? Bis dahin hutte man ihn ausplundern kunnen wie eine Silbermine, wie einen Goldesel. In einem Jahr hutte er getrost sterben durfen. Aber nein! Er starb jetzt, Herrgottsakrament, binnen achtundvierzig Stunden! Fur einen kurzen Moment erwog Baldini den Gedanken, nach Notre-Dame hinuberzupilgern, eine Kerze anzuzunden und von der Heiligen Mutter Gottes Genesung fur Grenouille herbeizuflehen. Aber dann ließ er den Gedanken fallen, denn die Zeit drungte zu sehr. Er lief um Tinte und Papier und verscheuchte seine Frau aus dem Zimmer des Kranken. Er wolle selbst die Wache halten. Dann ließ er sich auf einem Stuhl neben dem Bett nieder, die Notizblutter auf den Knien, die tintenfeuchte Feder in der Hand, und versuchte, Grenouille eine parfumistische Beichte abzunehmen. Er muge doch um Gottes willen die Schutze, die er in seinem Innern trage, nicht sang- und klanglos mit sich nehmen! Er muge doch jetzt in seinen letzten Stunden ein Testament zu treuen Hunden hinterlassen, damit der Nachwelt nicht die besten Dufte aller Zeiten vorenthalten blieben! Er, Baldini, werde dieses Testament, diesen Formelkanon der sublimsten aller je gerochnen Dufte, treu verwalten und zum Bluhen bringen. Er werde unsterblichen Ruhm an Grenouilles Namen heften, ja, er werde - und hiermit schwure er's bei allen Heiligen - den besten dieser Dufte dem Kunig selbst zu Fußen legen, in einem achatenen Flakon mit ziseliertem Gold und eingravierter Widmung >Von Jean-Baptiste Grenouille, Parfumeur in Paris<. - So sprach, oder besser: so flusterte Baldini in Grenouilles Ohr, beschwurend, flehentlich, schmeichelnd und unausgesetzt. Aber es war alles umsonst. Grenouille gab nichts von sich als wussriges Sekret und blutigen Eiter. Stumm lag er im Damast und entuußerte sich dieser ekelhaften Sufte, nicht aber seiner Schutze, seines Wissens, nicht der geringsten Formel eines Dufts. Baldini hutte ihn erwurgen mugen, erschlagen hutte er ihn mugen, herausgeprugelt aus dem moribunden Kurper hutte er am liebsten die kostbaren Geheimnisse, wenn's Aussicht auf Erfolg gehabt... und wenn es seiner Auffassung von christlicher Nuchstenliebe nicht so eklatant widersprochen hutte. Und so suuselte und flutete er denn weiter in den sußesten Tunen und umhutschelte den Kranken und tupfte ihm mit kuhlen Tuchern - wiewohl es ihn grauenhafte uberwindung kostete - die schweißnasse Stirn und die gluhenden Vulkane der Wunden, und luffelte ihm Wein in den Mund, um seine Zunge zum Sprechen zu bringen, die ganze Nacht hindurch - vergebens. Im Morgengrauen gab er es auf. Er fiel erschupft in einen Sessel am anderen Ende des Zimmers und starrte, nicht einmal mehr wutend, sondern nur noch stiller Resignation ergeben, auf den kleinen sterbenden Kurper Grenouilles druben im Bett, den er weder retten noch berauben konnte, aus dem er nichts mehr fur sich bergen konnte, dessen Untergang er nur noch tatenlos mitansehen musste wie ein Kapitun den Untergang des Schiffs, das seinen ganzen Reichtum mit in die Tiefe reißt. Da uffneten sich mit einem Mal die Lippen des Todkranken, und mit einer Stimme, die in ihrer Klarheit und Festigkeit von bevorstehendem Untergang wenig ahnen ließ, sprach er: "Sagen Sie, Maitre: Gibt es noch andre Mittel als das Pressen oder Destillieren, um aus einem Kurper Duft zu gewinnen?" Baldini, der glaubte, dass die Stimme seiner Einbildung oder dem Jenseits entsprungen war, antwortete mechanisch: "Ja, die gibt es." "Welche?" fragte es vom Bett her, und Baldini riss die muden Augen auf. Regungslos lag Grenouille in den Kissen. Hatte die Leiche gesprochen? "Welche?" fragte es wieder, und diesmal erkannte Baldini die Bewegung auf Grenouilles Lippen. "Jetzt ist es aus", dachte er, "jetzt geht's dahin, das ist der Fieberwahn oder die Todesagonie." Und er stand auf, ging zum Bett hinuber und beugte sich uber den Kranken. Der hatte die Augen geuffnet und sah Baldini mit dem gleichen seltsam lauernden Blick an, mit dem er ihn bei der ersten Begegnung fixiert hatte. "Welche?" fragte er. Da gab Baldini seinem Herzen einen Stoß - er wollte einem Sterbenden den letzten Willen nicht versagen - und antwortete: "Es gibt deren drei, mein Sohn: Die enfleurage u chaud, die enfleurage u froid und die enfleurage u l'huile. Sie sind dem Destillieren in vieler Hinsicht uberlegen, und man bedient sich ihrer zur Gewinnung der feinsten aller Dufte: des Jasmins, der Rose und der Orangenblute." "Wo?" fragte Grenouille. "Im Suden", antwortete Baldini. "Vor allem in der Stadt Grasse." "Gut", sagte Grenouille. Und damit schloss er die Augen. Baldini richtete sich langsam auf. Er war sehr deprimiert. Er suchte seine Notizblutter zusammen, auf die er keine einzige Zeile geschrieben hatte, und blies die Kerze aus. Draußen tagte es schon. Er war hundemude. Man hutte einen Priester kommen lassen sollen, dachte er. Dann machte er mit der Rechten ein fluchtiges Zeichen des Kreuzes und ging hinaus.Grenouille aber war alles andere als tot. Er schlief nur sehr fest und truumte tief und zog seine Sufte in sich zuruck. Schon begannen die Bluschen auf seiner Haut zu verdorren, die Eiterkrater zu versiegen, schon begannen sich seine Wunden zu schließen. Im Verlauf einer Woche war er genesen. 21 Am liebsten wure er gleich weggegangen nach Suden, dorthin, wo man die neuen Techniken lernen konnte, von denen ihm der Alte gesprochen hatte. Aber daran war naturlich gar nicht zu denken. Er war ja nur ein Lehrling, das heißt ein Nichts. Strenggenommen, so erklurte ihm Baldini - nachdem er seine anfungliche Freude uber Grenouilles Wiederauferstehung uberwunden hatte -, strenggenommen war er noch weniger als ein Nichts, denn zum ordentlichen Lehrling gehurten tadellose, numlich eheliche Abkunft, standesgemuße Verwandtschaft und ein Lehrvertrag, was er alles nicht besitze. Wenn er, Baldini, ihm dennoch eines Tages zum Gesellenbrief verhelfen wolle, so nur in Anbetracht von Grenouilles nicht alltuglicher Begabung, eines tadellosen kunftigen Verhaltens und wegen seiner, Baldinis, unendlichen Gutherzigkeit, die er, auch wenn sie ihm oft zum Schaden gereicht habe, niemals verleugnen kunne. Es hatte freilich mit der Einlusung dieses Versprechens der Gutmutigkeit gute Weile, numlich knappe drei Jahre. In dieser Zeit erfullte sich Baldini mit Grenouilles Hilfe seine hochfliegenden Truume. Er grundete die Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, setzte sich mit seinen exklusiven Parfums bei Hofe durch, bekam kunigliches Privileg. Seine feinen Duftprodukte wurden bis nach Petersburg verkauft, bis nach Palermo, bis nach Kopenhagen. Eine moschusschwangere Note war sogar in Konstantinopel begehrt, wo man doch weiß Gott genug eigene Dufte besaß. In den feinen Kontoren der Londoner City duftete es ebenso nach Baldinis Parfums wie am Hofe von Parma, im Warschauer Schloss nicht anders als im Schlusschen des Grafen von und zur Lippe-Detmold. Baldini war, nachdem er sich bereits damit abgefunden hatte, sein Alter in bitterer Armut bei Messina zu verbringen, mit siebzig Jahren zum unumstritten grußten Parfumeur Europas aufgestiegen und zu einem der reichsten Burger von Paris. Anfang des Jahres 1756 - er hatte sich unterdessen das Nebenhaus auf dem Pont au Change zugelegt, ausschließlich zum Wohnen, denn das alte Haus war nun buchstublich bis unters Dach mit Duftstoffen und Spezereien vollgestopft - eruffnete er Grenouille, dass er nun gewillt sei, ihn freizusprechen, allerdings nur unter drei Bedingungen: Erstens durfe er sumtliche unter Baldinis Dach entstandenen Parfums kunftig weder selbst herstellen noch ihre Formel an Dritte weitergeben; zweitens musse er Paris verlassen und durfe es zu Baldinis Lebzeiten nicht wieder betreten; und drittens habe er uber die beiden ersten Bedingungen absolutes Stillschweigen zu bewahren. Dies alles solle er beschwuren bei sumtlichen Heiligen, bei der armen Seele seiner Mutter und bei seiner eigenen Ehre. Grenouille, der weder eine Ehre hatte noch an Heilige oder gar an die arme Seele seiner Mutter glaubte, schwor. Er hutte alles geschworen. Er hutte jede Bedingung Baldinis akzeptiert, denn er wollte diesen lucherlichen Gesellenbrief haben, der es ihm ermuglichte, unauffullig zu leben und unbehelligt zu reisen und Anstellung zu finden. Das andere war ihm gleichgultig. Was waren das auch schon fur Bedingungen! Paris nicht mehr betreten? Wozu brauchte er Paris! Er kannte es ja bis in den letzten stinkenden Winkel, er fuhrte es mit sich, wohin immer er ging, er besaß Paris, seit Jahren. - Keinen von Baldinis Erfolgsduften herstellen, keine Formeln weitergeben? Als ob er nicht tausend andere erfinden kunnte, ebenso gute und bessere, wenn er nur wollte! Aber er wollte ja gar nicht. Er hatte ja gar nicht vor, in Konkurrenz zu Baldini oder zu irgendeinem anderen der burgerlichen Parfumeure zu treten. Er war nicht darauf aus, mit seiner Kunst das große Geld zu machen, nicht einmal leben wollte er von ihr, wenn's anders muglich war zu leben. Er wollte seines Innern sich entuußern, nichts anderes, seines Innern, das er fur wunderbarer hielt als alles, was die uußere Welt zu bieten hatte. Und deshalb waren Baldinis Bedingungen fur Grenouille keine Bedingungen. Im Fruhjahr zog er los, an einem Tag im Mai, fruhmorgens. Er hatte von Baldini einen kleinen Rucksack bekommen, ein zweites Hemd, zwei Paar Strumpfe, eine große Wurst, eine Pferdedecke und funfundzwanzig Franc. Das sei weit mehr, als er zu geben verpflichtet sei, sagte Baldini, zumal Grenouille fur die profunde Ausbildung, die er genossen, keinen Sol Lehrgeld bezahlt habe. Verpflichtet sei er zu zwei Franc Weggeld, zu sonst gar nichts. Aber er kunne eben seine Gutmutigkeit so wenig verleugnen wie die tiefe Sympathie, die sich im Lauf der Jahre in seinem Herzen fur den guten Jean-Baptiste angesammelt habe. Er wunsche ihm viel Gluck auf seiner Wanderschaft und ermahne ihn noch einmal eindringlich, seines Schwurs nicht zu vergessen. Damit brachte er ihn an die Tur des Dienstboteneingangs, wo er ihn einst empfangen hatte, und entließ ihn. Die Hand gab er ihm nicht, so weit war es mit der Sympathie auch wieder nicht her. Er hatte ihm noch nie die Hand gegeben. Er hatte uberhaupt immer vermieden, ihn zu beruhren, aus einer Art frommem Ekel, so, als bestunde die Gefahr, dass er sich anstecke an ihm, sich besudele. Er sagte nur kurz adieu. Und Grenouille nickte und duckte sich weg und ging davon. Die Straße war menschenleer. Другие "параллельные тексты" на английском и немецком языках смотрите в библиотеке на сайте http://frank.deutschesprache.ru/ 22 Baldini schaute ihm nach, wie er die Brucke hinunterhatschte, zur Insel hinuber, klein, gebuckt, den Rucksack wie einen Buckel tragend, von hinten aussehend wie ein alter Mann. Druben am Parlamentspalast, wo die Gasse eine Biegung machte, verlor er ihn aus den Augen und war außerordentlich erleichtert. Er hatte den Kerl nie gemocht, nie, jetzt konnte er es sich endlich eingestehen. Die ganze Zeit, die er ihn unter seinem Dach beherbergt und ausgeplundert hatte, war ihm nicht wohl gewesen. Ihm war zumute gewesen wie einem unbescholtenen Menschen, der zum ersten Mal etwas Verbotenes tut, ein Spiel mit unerlaubten Mitteln spielt. Gewiss, das Risiko, dass man ihm auf die Schliche kam, war klein und die Aussicht auf den Erfolg war riesengroß gewesen; aber ebenso groß waren auch Nervositut und schlechtes Gewissen. Tatsuchlich war in all den Jahren kein Tag vergangen, an dem er nicht von der unangenehmen Vorstellung verfolgt gewesen wure, er musse auf irgendeine Weise dafur bezahlen, dass er sich mit diesem Menschen eingelassen hatte. Wenn's nur gutgeht! so hatte er sich immer wieder ungstlich vorgebetet, wenn's mir nur gelingt, dass ich den Erfolg dieses gewagten Abenteuers einheimse, ohne die Zeche dafur zu bezahlen! Wenn's mir nur gelingt! Es ist zwar nicht recht, was ich tue, aber Gott wird ein Auge zudrucken, bestimmt wird Er es tun! Er hat mich im Verlaufe meines Lebens oftmals hart genug gestraft, ohne jeden Anlass, also wure es nur gerecht, wenn Er sich dies mal konziliant verhielte. Worin besteht denn mein Vergehen schon, wenn es uberhaupt eines ist? Huchstens darin, dass ich mich ein wenig außerhalb der Zunftordnung bewege, indem ich die wunderbare Begabung eines Ungelernten exploitiere und seine Fuhigkeit als meine eigne ausgebe. Huchstens darin, dass ich um ein Kleines vom traditionellen Pfad der handwerklichen Tugend abgewichen bin. Huchstens darin, dass ich heute tue, was ich gestern noch verdammt habe. Ist das ein Verbrechen? Andere betrugen ihr Leben lang. Ich habe nur ein paar Jahre ein bisschen geschummelt. Und auch nur, weil mir der Zufall die einmalige Gelegenheit dazu gegeben hat. Vielleicht war es nicht einmal der Zufall, vielleicht war es Gott selbst, der mir den Zauberer ins Haus geschickt hat, zur Wiedergutmachung fur die Zeit der Erniedrigung durch Pelissier und seine Spießgesellen. Vielleicht richtet sich die guttliche Fugung uberhaupt nicht auf mich, sondern gegen Pelissier! Das kunnte sehr wohl muglich sein! Wie anders numlich wure Gott imstande, Pelissier zu strafen, als dadurch, dass er mich erhuhte? Mein Gluck wure infolgedessen das Mittel guttlicher Gerechtigkeit, und als solches durfte ich nicht nur, ich musste es akzeptieren, ohne Scham und ohne die geringste Reue... So hatte Baldini in den vergangenen Jahren oft gedacht, morgens, wenn er die schmale Treppe in den Laden hinunterstieg, abends, wenn er mit dem Inhalt der Kasse heraufkam und die schweren Gold- und Silbermunzen in seinen Geldschrank zuhlte, und nachts, wenn er neben dem schnarchenden Gerippe seiner Frau lag und aus lauter Angst vor seinem Gluck nicht schlafen konnte. Aber jetzt, endlich, war es vorbei mit den sinistren Gedanken. Der unheimliche Gast war fort und wurde nie mehr wiederkehren. Der Reichtum aber blieb und war fur alle Zukunft sicher. Baldini legte die Hand auf seine Brust und spurte durch den Stoff des Rocks das Buchlein uber seinem Herzen. Sechshundert Formeln waren darin aufgezeichnet, mehr als ganze Generationen von Parfumeuren jemals wurden realisieren kunnen. Wenn er heute alles verlure, so kunnte er allein mit diesem wunderbaren Buchlein binnen Jahresfrist abermals ein reicher Mann sein. Wahrlich, was konnte er mehr verlangen! Die Morgensonne fiel uber die Giebel der gegenuberliegenden Huuser gelb und warm auf sein Gesicht. Immer noch schaute Baldini nach Suden die Straße hinunter in Richtung Parlamentspalastes war einfach zu angenehm, dass von Grenouille nichts mehr zu sehen war! - und beschloss, aus einem uberbordenden Gefuhl von Dankbarkeit noch heute nach Notre-Dame hinuberzupilgern, ein Goldstuck in den Opferstock zu werfen, drei Kerzen anzuzunden und seinem Herrn auf den Knien zu danken, dass Er ihn mit so viel Gluck uberhuuft und vor Rache verschont hatte. Aber dummerweise kam ihm dann wieder etwas dazwischen, denn am Nachmittag, als er sich gerade auf den Weg in die Kirche machen wollte, wurde das Gerucht laut, die Englunder hutten Frankreich den Krieg erklurt. Das war zwar an und fur sich nichts Beunruhigendes. Da Baldini aber just dieser Tage eine Sendung mit Parfums nach London expedieren wollte, verschob er den Besuch in Notre-Dame und ging stattdessen in die Stadt, um Erkundigungen einzuholen, und anschließend in seine Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, um die Sendung nach London furs erste zu stornieren. Nachts im Bett, kurz vor dem Einschlafen, hatte er dann eine geniale Idee: Er wollte in Anbetracht der bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzungen um die Kolonien in der Neuen Welt ein Parfum lancieren unter dem Namen >Prestige du Quebecs einen harzigheroischen Duft, dessen Erfolg - das stand fest - ihn fur den Wegfall des Englandgeschufts mehr als entschudigen wurde. Mit diesem sußen Gedanken in seinem dummen alten Kopf, den er erleichtert auf das Kissen bettete, unter welchem sich der Druck des Formelbuchleins angenehm spurbar machte, entschlief Maitre Baldini und wachte in seinem Leben nicht mehr auf. In der Nacht numlich geschah eine kleine Katastrophe, welche, mit gebuhrender Verzugerung, den Anlass dazu gab, dass nach und nach sumtliche Huuser auf sumtlichen Brucken der Stadt Paris auf kuniglichen Befehl hin abgerissen werden mussten: Ohne erkennbare Ursache brach der Pont au Change auf seiner westlichen Seite zwischen dem dritten und vierten Pfeiler in sich zusammen. Zwei Huuser sturzten in den Fluss, so vollstundig und so plutzlich, dass keiner der Insassen gerettet werden konnte. Glucklicherweise handelte es sich nur um zwei Personen, numlich um Giuseppe Baldini und seine Frau Teresa. Die Bediensteten hatten sich, erlaubt oder unerlaubt, Ausgang genommen. Chenier, der erst in den fruhen Morgenstunden leicht angetrunken nach Hause kam - vielmehr nach Hause kommen wollte, denn das Haus war ja nicht mehr da -, erlitt einen nervusen Zusammenbruch. Er hatte sich dreißig Jahre lang der Hoffnung hingegeben, von Baldini, der keine Kinder und Verwandte hatte, im Testament als Erbe eingesetzt zu sein. Und nun, mit einem Schlag, war das gesamte Erbe weg, alles, Haus, Geschuft, Rohstoffe, Werkstatt, Baldini selbst - ja sogar das Testament, das vielleicht noch Aussicht auf das Eigentum an der Manufaktur gegeben hutte! Nichts wurde gefunden, die Leichen nicht, der Geldschrank nicht, die Buchlein mit den sechshundert Formeln nicht. Das einzige, was von Giuseppe Baldini, Europas grußtem Parfumeur, zuruckblieb, war ein sehr gemischter Duft von Moschus, Zimt, Essig, Lavendel und tausend anderen Stoffen, der noch mehrere Wochen lang den Lauf der Seine von Paris bis nach Le Havre uberschwebte. ZWEITER TEIL 23 Zu der Zeit, da das Haus Giuseppe Baldini sturzte, befand sich Grenouille auf der Straße nach Orleans. Er hatte den Dunstkreis der großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er sich weiter von ihr entfernte, wurde die Luft um ihn her klarer, reiner und sauberer. Sie dunnte sich gleichsam aus. Es hetzten sich nicht mehr Meter fur Meter Hunderte, Tausende verschiedener Geruche in rasendem Wechsel, sondern die wenigen, die es gab - der Geruch der sandigen Straße, der Wiesen, der Erde, der Pflanzen, des Wassers -, zogen in langen Bahnen uber das Land, langsam sich bluhend, langsam schwindend, kaum je abrupt unterbrochen. Grenouille empfand diese Simplizitut wie eine Erlusung. Die gemuchlichen Dufte schmeichelten seiner Nase. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er nicht mit jedem Atemzug darauf gefasst sein, ein Neues, Unerwartetes, Feindliches zu wittern, oder ein Angenehmes zu verlieren. Zum ersten Mal konnte er fast frei atmen, ohne dabei immer lauernd riechen zu mussen. >Fast< sagen wir, denn wirklich frei strumte naturlich nichts durch Grenouilles Nase. Es blieb, auch wenn er nicht den kleinsten Anlass dazu hatte, immer eine instinktive Reserviertheit in ihm wach gegen alles, was von außen kam und in ihn eingelassen werden sollte. Sein Leben lang, selbst in den wenigen Momenten, in denen er Anklunge von so etwas wie Genugtuung, Zufriedenheit, ja vielleicht sogar Gluck erlebte, atmete er lieber aus als ein - wie er ja auch sein Leben nicht mit einem hoffnungsvollen Atemholen begonnen hatte, sondern mit einem murderischen Schrei. Aber von dieser Einschrunkung abgesehen, die bei ihm eine konstitutionelle Beschrunkung war, fuhlte sich Grenouille, je weiter er Paris hinter sich ließ, immer wohler, atmete er immer leichter, ging er immer beschwingteren Schritts und raffte sich sogar sporadisch zu einer geraden Kurperhaltung auf, so dass er von ferne betrachtet beinahe wie ein gewuhnlicher Handwerksbursche aussah, also wie ein ganz normaler Mensch. Am befreiendsten empfand er die Entfernung von den Menschen. In Paris lebten mehr Menschen auf engstem Raum als in irgendeiner anderen Stadt auf der Welt. Sechs-, siebenhunderttausend Menschen lebten in Paris. Auf den Straßen und Plutzen wimmelte es von ihnen, und die Huuser waren vollgepfropft mit ihnen vom Keller bis unter die Ducher. Es gab kaum einen Winkel in Paris, der nicht vor Menschen starrte, keinen Stein, kein Fleckchen Erde, das nicht nach Menschlichem roch. Dass es dieser geballte Menschenbrodem war, der ihn achtzehn Jahre lang wie gewitterschwule Luft bedruckt hatte, das wurde Grenouille erst jetzt klar, da er sich ihm zu entziehen begann. Bisher hatte er immer geglaubt, es sei die Welt im allgemeinen, von der er sich wegkrummen musse. Es war aber nicht die Welt, es waren die Menschen. Mit der Welt, so schien es, der menschenleeren Welt, ließ sich leben. Am dritten Tag seiner Reise geriet er ins olfaktorische Gravitationsfeld von Orleans. Lange noch bevor irgendein sichtbares Zeichen auf die Nuhe der Stadt hindeutete, gewahrte Grenouillle die Verdichtung des Menschlichen in der Luft und entschloss sich, entgegen seiner ursprunglichen Absicht, Orleans zu meiden. Er wollte sich die frischgewonnene Atemfreiheit nicht schon so bald wieder vom stickigen Menschenklima verderben lassen. Er machte einen großen Bogen um die Stadt, stieß bei Chuteauneuf auf die Loire und uberquerte sie bei Sully. Bis dorthin reichte seine Wurst. Er kaufte sich eine neue und zog dann, den Flusslauf verlassend, landeinwurts. Er mied jetzt nicht mehr nur die Studte, er mied auch die Durfer. Er war wie berauscht von der sich immer sturker ausdunnenden, immer menschenferneren Luft. Nur um sich neu zu verproviantieren, nuherte er sich einer Siedlung oder einem alleinstehenden Gehuft, kaufte Brot und verschwand wieder in den Wuldern. Nach einigen Wochen wurden ihm selbst die Begegnungen mit den wenigen Reisenden auf den abgelegenen Wegen zu viel, ertrug er nicht mehr den punktuell auftretenden Geruch der Bauern, die auf den Wiesen das erste Gras muhten. ungstlich wich er jeder Schafherde aus, nicht der Schafe wegen, sondern um den Geruch der Hirten zu umgehen. Er schlug sich querfeldein, nahm meilenweite Umwege in Kauf, wenn er eine noch Stunden entfernte Schwadron Reiter auf sich zukommen roch. Nicht weil er, wie andere Handwerksburschen und Herumtreiber, furchtete, kontrolliert und nach Papieren gefragt und womuglich zum Kriegsdienst verpflichtet zu werden - er wusste nicht einmal, dass Krieg war -, sondern einzig und allein, weil ihn vor dem Menschengeruch der Reiter ekelte. Und so kam es ganz von alleine und ohne besonderen Entschluss, dass sein Plan, auf schnellstem Wege nach Grasse zu gehen, allmuhlich verblasste; der Plan luste sich sozusagen in der Freiheit auf, wie alle anderen Plune und Absichten. Grenouille wollte nicht mehr irgendwohin, sondern nur noch weg, weg von den Menschen. Schließlich wanderte er nur noch nachts. Tagsuber verkroch er sich ins Unterholz, schlief unter Buschen, im Gestrupp, an muglichst unzugunglichen Orten, zusammengerollt wie ein Tier, die erdbraune Pferdedecke uber Kurper und Kopf gezogen, die Nase in die Ellbogenbeuge verkeilt und abwurts zur Erde gerichtet, damit auch nicht der kleinste fremde Geruch seine Truume sturte. Bei Sonnenuntergang erwachte er, witterte nach allen Himmelsrichtungen, und erst, wenn er sicher gerochen hatte, dass auch der letzte Bauer sein Feld verlassen und auch der wagemutigste Wanderer vor der hereinbrechenden Dunkelheit eine Unterkunft aufgesucht hatten, erst wenn die Nacht mit ihren vermeintlichen Gefahren das Land von Menschen reingefegt hatte, kam Grenouille aus seinem Versteck hervorgekrochen und setzte seine Reise fort. Er brauchte kein Licht, um zu sehen. Schon fruher, als er noch tagsuber gewandert war, hatte er oft stundenlang die Augen geschlossen gehalten und war nur der Nase nach gegangen. Das grelle Bild der Landschaft, das Blendende, die Plutzlichkeit und die Schurfe des Sehens mit den Augen schmerzten ihn. Allein das Mondlicht ließ er sich gefallen. Das Mondlicht kannte keine Farben und zeichnete nur schwach die Konturen des Gelundes. Es uberzog das Land mit schmutzigem Grau und erdrosselte fur eine Nacht lang das Leben. Diese wie in Blei gegossene Welt, in der sich nichts regte als der Wind, der manchmal wie ein Schattenuber die grauen Wulder fiel, und in der nichts lebte als die Dufte der nackten Erde, war die einzige Welt, die er gelten ließ, denn sie uhnelte der Welt seiner Seele. So zog er in sudliche Richtung. Ungefuhr in sudliche Richtung, denn er folgte keinem magnetischen Kompass, sondern nur dem Kompass seiner Nase, der ihn jede Stadt, jedes Dorf, jede Siedlung umgehen ließ. Wochenlang traf er keinen Menschen. Und er hutte sich im beruhigenden Glauben wiegen kunnen, er sei allein auf der dunklen oder vom kalten Mondlicht beschienenen Welt, wenn nicht der feine Kompass ihn eines Besseren belehrt hutte. Auch nachts gab es Menschen. Auch in den entlegensten Gebieten gab es Menschen. Sie hatten sich nur in ihre Schlupfwinkel zuruckgezogen wie die Ratten und schliefen. Die Erde war nicht rein von ihnen, denn selbst im Schlaf dunsteten sie ihren Geruch aus, der durch die offenen Fenster und durch die Ritzen ihrer Behausungen hinaus ins Freie drungte und die sich scheinbar selbst uberlassene Natur verpestete. Je mehr sich Grenouille an die reinere Luft gewuhnt hatte, desto empfindlicher traf ihn so ein Menschengeruch, der plutzlich, vullig unerwartet, nuchtens daherflatterte, scheußlich wie Adelgestank, und die Anwesenheit irgendeiner Hirtenunterkunft oder einer Kuhlerkate oder einer Ruuberhuhle verriet. Und er fluchtete weiter, immer sensibler reagierend auf den immer seltener werdenden Geruch des Menschlichen. So fuhrte ihn seine Nase in immer abgelegenere Gegenden des Landes, entfernte ihn immer weiter von den Menschen und trieb ihn immer heftiger dem Magnetpol der grußtmuglichen Einsamkeit entgegen. 24 Dieser Pol, numlich der menschenfernste Punkt des ganzen Kunigreichs, befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa funf Tagesreisen sudlich von Clermont, auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkansnamens Plomb du Cantal. Der Berg bestand aus einem riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war umgeben von einem endlosen, kargen, nur von grauem Moos und grauem Gestrupp bewachsenen Hochland, aus dem hier und da braune Felsspitzen wie verfaulte Zuhne aufragten und ein paar von Brunden verkohlte Buume. Selbst am helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, dass der urmste Schafhirte der ohnehin armen Provinz seine Tiere nicht hierher getrieben hutte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie in ihrer gottverlassenen ude nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der weithin gesuchte auvergnatische Bandit Lebrun hatte es vorgezogen, sich in die Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen und vierteilen zu lassen, als sich am Plomb du Cantal zu verstecken, wo ihn zwar sicher niemand gesucht und gefunden hutte, wo er aber ebenso sicher den ihm schlimmer erscheinenden Tod der lebenslangen Einsamkeit gestorben wure. In meilenweitem Umkreis des Berges lebten kein Mensch und kein ordentliches warmblutiges Tier, bloß ein paar Fledermuuse und ein paar Kufer und Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen. Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wusste noch nicht, dass seine Reise hier zu Ende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in immer noch reinere Lufte, und er drehte sich im Kreise und ließ den Blick seiner Nase uber das gewaltige Panorama des vulkanischen udlands streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint-Flour und die Sumpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er gekommen und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach Westen, von woher der leichte Morgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein und hartem Gras entgegentrug; nach Suden schließlich, wo die Ausluufer des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der Truyere. uberall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche Menschenferne, und zugleich hutte jeder Schritt in jede Richtung wieder grußere Menschennuhe bedeutet. Der Kompass kreiselte. Er gab keine Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen. Als die Sonne aufging, stand er immer noch am gleichen Fleck und hielt seine Nase in die Luft. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte er, die Richtung zu erschnuppern, aus der das bedrohlich Menschliche kam, und die Gegenrichtung, in die er weiterfliehen musste. In jeder Richtung argwuhnte er, doch noch einen verborgenen Fetzen menschlichen Geruchs zu entdecken. Doch da war nichts. Da war nur Ruhe, wenn man so sagen kann, geruchliche Ruhe. Ringsum herrschte nur der wie ein leises Rauschen wehende, homogene Duft der toten Steine, der grauen Flechten und der durren Gruser, und sonst nichts. Grenouille brauchte sehr lange Zeit, um zu glauben, was er nicht roch. Er war auf sein Gluck nicht vorbereitet. Sein Misstrauen wehrte sich lange gegen die bessere Einsicht. Er nahm sogar, wuhrend die Sonne stieg, seine Augen zuhilfe und suchte den Horizont nach dem geringsten Zeichen menschlicher Gegenwart ab, nach dem Dach einer Hutte, dem Rauch eines Feuers, einem Zaun, einer Brucke, einer Herde. Er hielt die Hunde an die Ohren und lauschte, nach dem Dengeln einer Sense etwa oder dem Gebell eines Hundes oder dem Schrei eines Kindes. Den ganzen Tag uber verharrte er in der gluhendsten Hitze auf dem Gipfel des Plomb du Cantal und wartete vergeblich auf das kleinste Indiz. Erst als die Sonne unterging, wich sein Misstrauen allmuhlich einem immer sturker werdenden Gefuhl der Euphorie: Er war dem verhassten Odium entkommen! Er war tatsuchlich vollstundig allein! Er war der einzige Menschauf der Welt! Ein ungeheurer Jubel brach in ihm aus. So wie ein Schiffbruchiger nach wochenlanger Irrfahrt die erste von Menschen bewohnte Insel ekstatisch begrußt, feierte Grenouille seine Ankunft auf dem Berg der Einsamkeit. Er schrie vor Gluck. Rucksack, Decke, Stock warf er von sich und trampelte mit den Fußen auf den Boden, warf die Arme in die Huhe, tanzte im Kreis, brullte seinen eigenen Namen in alle vier Winde, ballte die Fuuste, schuttelte sie triumphierend gegen das ganze weite unter ihm liegende Land und gegen die sinkende Sonne, triumphierend, als hutte er sie persunlich vom Himmel verjagt. Er fuhrte sich auf wie ein Wahnsinniger, bis tief in die Nacht hinein. 25 Die nuchsten Tage verbrachte er damit, sich auf dem Berg einzurichten - denn das stand fur ihn fest, dass er diese begnadete Gegend so schnell nicht mehr verlassen wurde. Als erstes schnupperte er nach Wasser und fand es in einem Einbruch etwas unterhalb des Gipfels, wo es in einem dunnen Film am Fels entlangrann. Es war nicht viel, aber wenn er geduldig eine Stunde lang leckte, hatte er seinen Feuchtigkeitsbedarf fur einen Tag gestillt. Er fand auch Nahrung, numlich kleine Salamander und Ringelnattern, die er, nachdem er ihnen den Kopf abgeknipst hatte, mit Haut und Knochen verschlang. Dazu aß er trockene Flechten und Gras und Moosbeeren. Diese nach burgerlichen Maßstuben vullig undiskutable Ernuhrungsweise verdross ihn nicht im mindesten. Schon in den letzten Wochen und Monaten hatte er sich nicht mehr von menschlich gefertigter Nahrung wie Brot und Wurst und Kuse ernuhrt, sondern, wenn er Hunger verspurte, alles zusammengefressen, was ihm an irgendwie Essbarem in die Quere gekommen war. Er war nichts weniger als ein Gourmet. Er hatte es uberhaupt nicht mit dem Genuss, wenn der Genuss in etwas anderem als dem reinen kurperlosen Geruch bestand. Er hatte es auch nicht mit der Bequemlichkeit und wure zufrieden gewesen, sein Lager auf blankem Stein einzurichten. Aber er fand etwas Besseres. Nahe der Wasserstelle entdeckte er einen naturlichen Stollen, der in vielen engen Windungen in das Innere des Berges fuhrte, bis er nach etwa dreißig Metern an einer Verschuttung endete. Dort, am Ende des Stollens, war es so eng, dass Grenouilles Schultern das Gestein beruhrten, und so niedrig, dass er nur gebuckt stehen konnte. Aber er konnte sitzen, und wenn er sich krummte, konnte er sogar liegen. Das genugte seinem Bedurfnis nach Komfort vollkommen. Denn der Ort hatte unschutzbare Vorzuge: Am Ende des Tunnels herrschte selbst tagsuber stockfinstere Nacht, es war totenstill, und die Luft atmete eine feuchte, salzige Kuhle. Grenouille roch sofort, dassnoch kein lebendes Wesen diesen Platz je betreten hatte. Es uberfiel ihn beinahe ein Gefuhl von heiliger Scheu, als er ihn in Besitz nahm. Sorgsam breitete er seine Pferdedecke auf den Boden, als bedecke er einen Altar, und legte sich darauf. Er fuhlte sich himmlisch wohl. Er lag im einsamsten Berg Frankreichs funfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem eigenen Grab. Noch nie im Leben hatte er sich so sicher gefuhlt - schon gar nicht im Bauch seiner Mutter. Es mochte draußen die Welt verbrennen, hier wurde er nichts davon merken. Er begann still zu weinen. Er wusste nicht, wem er danken sollte fur so viel Gluck. In der folgenden Zeit ging er nur noch ins Freie, um an der Wasserstelle zu lecken, sich rasch seines Urins und seiner Exkremente zu entledigen, und um Echsen und Schlangen zu jagen. Nachts waren sie leicht zu erwischen, denn sie hatten sich unter Steinplatten oder in kleine Huhlen zuruckgezogen, wo er sie mit seiner Nase aufspurte. Zum Gipfel hinauf stieg er wuhrend der ersten Wochen wohl noch ein paar Mal, um den Horizont abzuwittern. Bald aber war dies mehr eine lustige Gewohnheit als eine Notwendigkeit geworden, denn kein einziges Mal hatte er Bedrohliches gerochen. Und so stellte er schließlich die Exkursionen ein und war nur noch darauf bedacht, so schnell wie muglich in seine Gruft zuruckzukehren, wenn er die furs schiere uberleben allernutigsten Verrichtungen hinter sich gebracht hatte. Denn hier, in der Gruft, lebte er eigentlich. Das heißt, er saß weit uber zwanzig Stunden am Tag in vollkommener Dunkelheit und vollkommener Stille und vollkommener Bewegungslosigkeit auf seiner Pferdedecke am Ende des steinernen Ganges, hatte den Rucken gegen das Gerull gelehnt, die Schultern zwischen die Felsen geklemmt, und genugte sich selbst. Man weiß von Menschen, die die Einsamkeit suchen: Bußer, Gescheiterte, Heilige oder Propheten. Sie ziehen sich vorzugsweise in Wusten zuruck, wo sie von Heuschrecken und wildem Honig leben. Manche wohnen auch in Huhlen und Klausen auf abgelegenen Inseln oder hocken sich - etwas spektakulurer - in Kufige, die auf Stangen montiert sind und hoch in den Luften schweben. Sie tun das, um Gott nuher zu sein. Sie kasteien sich mit der Einsamkeit und tun Buße durch sie. Sie handeln im Glauben, ein gottgefulliges Leben zu fuhren. Oder sie warten monate- oder jahrelang darauf, dass ihnen in der Einsamkeit eine guttliche Mitteilung zukomme, die sie dann eiligst unter den Menschen verbreiten wollen. Nichts von alledem traf auf Grenouille zu. Er hatte mit Gott nicht das geringste im Sinn. Er bußte nicht und wartete auf keine huhere Eingebung. Nur zu seinem eigenen, einzigen Vergnugen hatte er sich zuruckgezogen, nur, um sich selbst nahe zu sein. Er badete in seiner eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz und fand das herrlich. Wie seine eigene Leiche lag er in der Felsengruft, kaum noch atmend, kaum dass sein Herz noch schlug - und lebte doch so intensiv und ausschweifend, wie nie ein Lebemann draußen in der Welt gelebt hat. 26 Schauplatz dieser Ausschweifungen war - wie kunnte es anders sein - sein inneres Imperium, in das er von Geburt an die Konturen aller Geruche eingegraben hatte, denen er jemals begegnet war. Um sich in Stimmung zu bringen, beschwor er zunuchst die fruhesten, die allerentlegensten: den feindlichen, dampfigen Dunst der Schlafstube von Madame Gaillard; das ledrig verdorrte Odeur ihrer Hunde; den essigsauren Atem des Pater Terrier; den hysterischen, heißen mutterlichen Schweiß der Amme Bussie; den Leichengestank des Cimetiere des Innocents; den Murdergeruch seiner Mutter. Und er schwelgte in Ekel und Hass, und es struubten sich seine Haare vor wohligem Entsetzen. Manchmal, wenn ihn dieser Aperitif der Abscheulichkeiten noch nicht genugend in Fahrt gebracht hatte, gestattete er sich auch einen kleinen geruchlichen Abstecher zu Grimal und kostete vom Gestank der rohen, fleischigen Huute und der Gerbbruhen, oder er imaginierte den versammelten Brodem von sechshunderttausend Parisern in der schwulen lastenden Hitze des Hochsommers. Und dann brach mit einem Mal - das war der Sinn der ubung - mit orgastischer Gewalt sein angestauter Hass hervor. Wie ein Gewitter zog er her uber diese Geruche, die es gewagt hatten, seine erlauchte Nase zu beleidigen. Wie Hagel auf ein Kornfeld drosch er auf sie ein, wie ein Orkan zerstuubte er das Geluder und ersuufte es in einer riesigen reinigenden Sintflut destillierten Wassers. So gerecht war sein Zorn. So groß war seine Rache. Ah! Welch sublimer Augenblick! Grenouille, der kleine Mensch, zitterte vor Erregung, sein Kurper krampfte sich in wollustigem Behagen und wulbte sich auf, so dass er fur einen Moment mit dem Scheitel an die Decke des Stollens stieß, um dann langsam zuruckzusinken und liegen zu bleiben, gelust und tief befriedigt. Er war wirklich zu angenehm, dieser eruptive Akt der Extinktion aller widerwurtigen Geruche, wirklich zu angenehm... Fast war ihm diese Nummer das liebste in der ganzen Szenenfolge seines inneren Welttheaters, denn sie vermittelte das wunderbare Gefuhl rechtschaffener Erschupfung, das nur den wirklich großen, heldenhaften Taten folgt. Er durfte nun eine Weile lang guten Gewissens ruhen. Er streckte sich aus; kurperlich, so gut es eben ging im engen steinernen Gelass. Innerlich jedoch, auf den reingefegten Matten seiner Seele , da streckte er sich bequem der vollen Lunge nach und duste dahin und ließ sich feine Dufte um die Nase spielen: ein wurziges Luftchen etwa, wie von Fruhlingswiesen hergetragen; einen lauen Maienwind, der durch die ersten grunen Buchenblutter weht; eine Brise vom Meer, herb wie gesalzene Mandeln. Es war sputer Nachmittag, als er sich erhob - sozusagen sputer Nachmittag, denn es gab naturlich keinen Nachmittag oder Vormittag oder Abend oder Morgen, es gab kein Licht und keine Finsternis, es gab auch keine Fruhlingswiesen und keine grunen Buchenblutter... es gab uberhaupt keine Dinge in Grenouilles innerem Universum, sondern nur die Dufte von Dingen. (Darum ist es eine fauon de parler, von diesem Universum als einer Landschaft zu sprechen, eine aduquate freilich und die einzig mugliche, denn unsere Sprache taugt nicht zur Beschreibung der riechbaren Welt.) - Es war also sputer Nachmittag, will sagen ein Zustand und Zeitpunkt in Grenouilles Seele, wie er im Suden am Ende der Siesta herrscht, wenn die mittugliche Luhmung langsam abfullt von der Landschaft und das zuruckgehaltne Leben wieder beginnen will. Die wutentbrannte Hitze - Feindin der sublimen Dufte - war verflogen, das Dumonenpack vernichtet. Die inneren Gefilde lagen blank und weich in der lasziven Ruhe des Erwachens und warteten, dass der Wille ihres Herrn uber sie kume. Und Grenouille erhob sich - wie gesagt - und schuttelte den Schlaf aus seinen Gliedern. Er stand auf, der große innere Grenouille, wie ein Riese stellte er sich hin, in seiner ganzen Pracht und Gruße, herrlich war er anzuschauen - fast schade, dass ihn keiner sah! -, und blickte in die Runde, stolz und hoheitsvoll: Ja! Dies war sein Reich! Das einzigartige Grenouillereich! Von ihm, dem einzigartigen Grenouille erschaffen und beherrscht, von ihm verwustet, wann es ihm gefiel, und wieder aufgerichtet, von ihm ins Unermessliche erweitert und mit dem Flammenschwert verteidigt gegen jeden Eindringling. Hier galt nichts als sein Wille, der Wille des großen, herrlichen, einzigartigen Grenouille. Und nachdem die ublen Gestunke der Vergangenheit hinweggetilgt waren, wollte er nun, dass es dufte in seinem Reich. Und er ging mit muchtigen Schritten uber die brachen Fluren und sute Duft der verschiedensten Sorten, verschwenderisch hier, sparsam dort, in endlos weiten Plantagen und kleinen intimen Rabatten, den Samen faustweise verschleudernd oder einzeln an eigens ausgewuhlten Plutzen versenkend. Bis in die entlegensten Regionen seines Reiches eilte der Große Grenouille, der rasende Gurtner, und bald war kein Winkel mehr, in den er kein Duftkorn geworfen hutte. Und als er sah, dass es gut war und dass das ganze Land von seinem guttlichen Grenouillesamen durchtrunkt war, da ließ der Große Grenouille einen Weingeistregen herniedergehen, sanft und stetig, und es begann alluberall zu keimen und zu sprießen, und die Saat trieb aus, dass es das Herz erfreute. Schon wogte es uppig auf den Plantagen, und in den verborgenen Gurten standen die Stengel im Saft. Die Knospen der Bluten platzten schier aus ihrer Hulle. Da gebot der Große Grenouille Einhalt dem Regen. Und es geschah. Und er schickte die milde Sonne seines Luchelns uber das Land, worauf sich mit einem Schlag die millionenfache Pracht der Bluten erschloss, von einem Ende des Reichs bis zum anderen, zu einem einzigen bunten Teppich, geknupft aus Myriaden von kustlichen Duftbehultern. Und der Große Grenouille sah, dass es gut war, sehr, sehr gut. Und er blies den Wind seines Odems uber das Land. Und die Bluten, liebkost, verstrumten Duft und vermischten ihre Myriaden Dufte zu einem stundig changierenden und doch in stundigem Wechsel vereinten universalen Huldigungsduft an Ihn, den Großen, den Einzigen, den Herrlichen Grenouille, und dieser, auf einer goldduftenden Wolke thronend, sog den Odem schnuppernd wieder ein, und der Geruch des Opfers war ihm angenehm. Und er ließ sich herab, seine Schupfung mehrmals zu segnen, was ihm von dieser mit Jauchzen und Jubilieren und abermaligen herrlichen Duftausstußen gedankt wurde. Unterdessen war es Abend geworden, und die Dufte verstrumten sich weiter und mischten sich in der Bluue der Nacht zu immer phantastischeren Noten. Es stand eine wahre Ballnacht der Dufte bevor mit einem gigantischen Brillantduftfeuerwerk. Der Große Grenouille aber war etwas mude geworden und guhnte und sprach: "Siehe, ich habe ein großes Werk getan, und es gefullt mir sehr gut. Aber wie alles Vollendete beginnt es mich zu langweilen. Ich will mich zuruckziehen und mir zum Abschluss dieses arbeitsreichen Tages in den Kammern meines Herzens noch eine kleine Begluckung gunnen." Also sprach der Große Grenouille und segelte, wuhrend das einfache Duftvolk unter ihm freudig tanzte und feierte, mit weitausgespannten Flugeln von der goldenen Wolke herab uber das nuchtliche Land seiner Seele nach Haus in sein Herz. 27 Ach, es war angenehm, heimzukehren! Das Doppelamt des Ruchers und Weltenerzeugers strengte nicht schlecht an, und sich danach von der eigenen Brut stundenlang feiern zu lassen, war auch nicht die reinste Erholung. Der guttlichen Schupfungs- und Reprusentationsverpflichtungen mude, sehnte sich der Große Grenouille nach huuslichen Freuden. Sein Herz war ein purpurnes Schloss. Es lag in einer steinernen Wuste, getarnt hinter Dunen, umgeben von einer Oase aus Sumpf und hinter sieben steinernen Mauern. Es war nur im Flug zu erreichen. Es besaß tausend Kammern und tausend Keller und tausend feine Salons, darunter einen mit einem einfachen purpurnen Kanapee, auf welchem Grenouille, der nun nicht mehr der Große Grenouille war, sondern Grenouille ganz privat oder einfach der liebe Jean-Baptiste, sich von der Muhsal des Tages auszuruhen pflegte. In den Kammern des Schlosses aber standen Regale vom Boden bis hinauf an die Decke, und darin befanden sich alle Geruche, die Grenouille im Laufe seines Lebens gesammelt hatte, mehrere Millionen. Und in den Kellern des Schlosses, da ruhten in Fussern die besten Dufte seines Lebens. Sie wurden, wenn sie gereift waren, auf Flaschen gezogen und lagen dann in kilometerlangen feuchtkuhlen Gungen, geordnet nach Jahrgang und Herkunft, und es waren ihrer so viele, dass ein Leben nicht reichte, sie alle zu trinken. Und als der liebe Jean-Baptiste, endlich heimgekehrt in sein chez soi, im purpurnen Salon auf seinem simplen anheimelnden Sofa lag - die Stiefel, wenn man so will, endlich ausgezogen hatte -, klatschte er in die Hunde und rief seine Diener herbei, die unsichtbar, unfuhlbar, unhurbar und vor allem unriechbar, also vollstundig imaginure Diener waren, und befahl ihnen, in die Kammern zu gehen und aus der großen Bibliothek der Geruche diesen oder jenen Band zu besorgen und in den Keller zu steigen und ihm zu trinken zu holen. Es eilten die imaginuren Diener, und in peinigender Erwartung krampfte sich Grenouilles Magen zusammen. Es war ihm plutzlich zumute wie einem Trinker, den am Tresen die Angst befullt, man kunnte ihm aus irgendeinem Grund das bestellte Glas Schnaps verweigern. Was, wenn die Keller und Kammern mit einem Mal leer, was, wenn der Wein in den Fussern verdorben war? Warum ließ man ihn warten? Warum kam man nicht? Er brauchte das Zeug sofort, er brauchte es dringend, er war suchtig danach, er wurde auf dem Fleck sterben, wenn er es nicht bekume. Aber ruhig, Jean-Baptiste! Ruhig, Lieber! Man kommt ja, man bringt, was du begehrst. Schon fliegen die Diener herbei. Sie tragen auf unsichtbarem Tablett das Buch der Geruche, sie tragen in weißbehandschuhten unsichtbaren Hunden die kostbaren Flaschen, sie setzen sie ab, ganz behutsam, sie verneigen sich, und sie verschwinden. Und alleine gelassen, endlich - mal wieder! - allein, greift Jean-Baptiste nach den ersehnten Geruchen, uffnet die erste Flasche, schenkt sich ein Glas voll bis zum Rand, fuhrt es an die Lippen und trinkt. Trinkt das Glas kuhlen Geruchs in einem Zug leer, und es ist kustlich! Es ist so erlusend gut, dass dem lieben Jean-Baptiste vor Wonne das Wasser in die Augen schießt und er sich sofort das zweite Glas dieses Dufts einschenkt: eines Dufts aus dem Jahr 1752, aufgeschnappt im Fruhjahr, vor Sonnenaufgang auf dem Pont Royal, mit nach Westen gerichteter Nase, woher ein leichter Wind kam, in dem sich Meergeruch, Waldgeruch und ein wenig vom teerigen Geruch der Kuhne mischten, die am Ufer lagen. Es war der Duft der ersten zu Ende gehenden Nacht, die er, ohne Grimals Erlaubnis, in Paris herumstreunend verbracht hatte. Es war der frische Geruch des sich nuhernden Tages, des ersten Tagesanbruchs, den er in Freiheit erlebte. Dieser Geruch hatte ihm damals die Freiheit verheißen. Er hatte ihm ein anderes Leben verheißen. Der Geruch jenes Morgens war fur Grenouille ein Hoffnungsgeruch. Er verwahrte ihn sorgsam. Und er trank tuglich davon. Nachdem er das zweite Glas geleert hatte, fiel alle Nervositut, fielen Zweifel und Unsicherheit von ihm ab, und es erfullte ihn eine herrliche Ruhe. Er presste seinen Rucken gegen die weichen Kissen des Kanapees, schlug ein Buch auf und begann, in seinen Erinnerungen zu lesen. Er las von den Geruchen seiner Kindheit, von den Schulgeruchen, von den Geruchen der Straßen und Winkel der Stadt, von Menschengeruchen. Und angenehme Schauer durchrieselten ihn, denn es waren durchaus die verhassten Geruche, die exterminierten, die da beschworen wurden. Mit angewidertem Interesse las Grenouille im Buch der ekligen Geruche, und wenn der Widerwille das Interesse uberwog, so klappte er es einfach zu, legte es weg und nahm ein anderes. Nebenher trank er ohne Pause von den edlen Duften. Nach der Flasche mit dem Hoffnungsduft entkorkte er eine aus dem Jahre 1744, die gefullt war mit dem warmen Holzgeruch vor dem Haus der Madame Gaillard. Und nach diesem trank er eine Flasche sommerabendlichen Dufts, parfumdurchweht und blutenschwer, aufgelesen am Rande eines Parks in Saint-Germain-des-Pres anno 1753. Er war nun muchtig angefullt von Duften. Die Glieder lagen immer schwerer in den Kissen. Sein Geist benebelte sich wunderbar. Und doch war er noch nicht am Ende des Gelages. Zwar konnten seine Augen nicht mehr lesen, war ihm das Buch lungst aus der Hand geglitten - aber er wollte den Abend nicht beschließen, ohne noch die letzte Flasche, die herrlichste, geleert zu haben: Es war der Duft des Mudchens aus der Rue des Marais... Er trank ihn andachtsvoll und setzte sich zu diesem Zweck aufrecht auf das Kanapee, obwohl ihm das schwerfiel, denn der purpurne Salon schwankte und kreiste um ihn bei jeder Bewegung. In schulerhafter Haltung, die Knie aneinandergepresst, die Fuße dicht an dicht gestellt, auf den linken Oberschenkel seine linke Hand gelegt - so trank der kleine Grenouille den kustlichsten Duft aus den Kellern seines Herzens, Glas um Glas, und wurde immer trauriger dabei. Er wusste, dass er zu viel trank. Er wusste, dass er so viel Gutes nicht vertrug. Und trank doch, bis die Flasche leer war: Er ging durch den dunklen Gang von der Straße in den Hinterhof. Er ging auf den Lichtschein zu. Das Mudchen saß und schnitt die Mirabellen auf. Von weit her krachten die Raketen und Petarden des Feuerwerks... Er stellte das Glas ab und blieb noch, von der Sentimentalitut und vom Suff wie versteinert, ein paar Minuten lang sitzen, so lange, bis auch der letzte Nachgeschmack von der Zunge verschwunden war. Er glotzte vor sich hin. In seinem Hirn war es plutzlich so leer wie in den Flaschen. Dann kippte er um, seitlich aufs purpurne Kanapee und versank von einem Moment zum anderen in einen betuubenden Schlaf. Zur gleichen Zeit schlief auch der uußere Grenouille auf seiner Pferdedecke ein. Und sein Schlaf war ebenso abgrundtief wie der des inneren Grenouille, denn die herkuleischen Taten und Exzesse von diesem hatten jenen nicht weniger erschupft - schließlich waren beide ja ein und dieselbe Person. Als er aufwachte allerdings, wachte er nicht auf im purpurnen Salon seines purpurnen Schlosses hinter den sieben Mauern und auch nicht in den fruhlingshaften Duftgefilden seiner Seele, sondern einzig und allein im Steinverlies am Ende des Tunnels auf dem harten Boden in der Finsternis. Und ihm war speiubel vor Hunger und Durst und frustelig und elend wie einem suchtigen Trinker nach durchzechter Nacht. Auf allen vieren kroch er aus dem Stollen. Draußen war irgendeine Tageszeit, meistens die beginnende oder die endende Nacht, aber selbst bei Mitternacht stach ihm die Helligkeit des Sternenlichts wie Nadeln in die Augen. Die Luft erschien ihm staubig, raß, lungenbrennend, die Landschaft hart, er stieß sich an den Steinen. Und selbst die zartesten Geruche wirkten streng und beizend auf seine weltentwuhnte Nase. Grenouille, der Zeck, war empfindlich geworden wie ein Krebs, der sein Muschelgehuuse verlassen hat und nackt durchs Meer wandert. Er ging zur Wasserstelle, leckte die Feuchtigkeit von der Wand, ein, zwei Stunden lang, es war eine Tortur, die Zeit nahm kein Ende, die Zeit, in der ihm die wirkliche Welt auf der Haut brannte. Er riss sich ein paar Fetzen Moos von den Steinen, wurgte sie in sich hinein, hockte sich hin, schiss wuhrend er fraß schnell, schnell, schnell musste alles gehen -, und wie gejagt, wie wenn er ein kleines weichfleischiges Tier wure und droben am Himmel kreisten schon die Habichte, lief er zuruck zu seiner Huhle bis ans Ende des Stollens, wo die Pferdedecke lag. Hier war er endlich wieder sicher. Er lehnte sich zuruck gegen die Schutte von Gerull, streckte die Beine aus und wartete. Er musste seinen Kurper jetzt ganz still halten, ganz still, wie ein Gefuß, das von zu viel Bewegung uberzuschwappen droht. Allmuhlich gelang es ihm, den Atem zu zugeln. Sein aufgeregtes Herz schlug ruhiger, der innere Wellenschlag ließ langsam nach. Und plutzlich fiel die Einsamkeit wie eine schwarze Spiegelfluche uber sein Gemut. Er schloss die Augen. Die dunkle Ture in sein Inneres tat sich auf, und er trat ein. Die nuchste Vorstellung des grenouillschen Seelentheaters begann. 28 So ging es Tag fur Tag, Woche fur Woche, Monat fur Monat. So ging es sieben ganze Jahre lang. Wuhrend dieser Zeit herrschte in der uußeren Welt Krieg, und zwar Weltkrieg. Man schlug sich in Schlesien und Sachsen, in Hannover und Belgien, in Buhmen und Pommern. Die Truppen des Kunigs starben in Hessen und Westfalen, auf den Balearen, in Indien, am Mississippi und in Kanada, sofern sie nicht schon auf der Fahrt dorthin dem Typhus erlagen. Der Krieg kostete einer Million Menschen das Leben, den Kunig von Frankreich sein Kolonialreich und alle beteiligten Staaten so viel Geld, dass sie sich schließlich schweren Herzens entschlossen, ihn zu beenden. Grenouille wure einmal in dieser Zeit, im Winter, fast erfroren, ohne es zu merken. Funf Tage lag er im purpurnen Salon, und als er im Stollen erwachte, konnte er sich vor Kulte nicht mehr bewegen. Er schloss sofort wieder die Augen, um sich zu Tode zu schlafen. Doch dann kam ein Wettersturz, taute ihn auf und rettete ihn. Einmal war der Schnee so hoch, dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich bis zu den Flechten durchzuwuhlen. Da ernuhrte er sich von steifgefrorenen Fledermuusen. Einmal lag ein toter Rabe vor der Huhle. Den aß er. Das waren die einzigen Vorkommnisse, die er von der uußeren Welt in den sieben Jahren zur Kenntnis nahm. Ansonsten lebte er nur in seinem Berg, nur im selbstgeschaffenen Reich seiner Seele. Und er wure bis zu seinem Tode dort geblieben (denn es mangelte ihm an nichts), wenn nicht eine Katastrophe eingetreten wure, die ihn aus dem Berg vertrieben und in die Welt zuruckgespieen hutte. 29 Die Katastrophe war kein Erdbeben, kein Waldbrand, kein Bergrutsch und kein Stolleneinsturz. Sie war uberhaupt keine uußere Katastrophe, sondern eine innere, und daher besonders peinlich, denn sie blockierte Grenouilles bevorzugten Fluchtweg. Sie geschah im Schlaf. Besser gesagt im Traum. Vielmehr im Traum im Schlaf im Herz in seiner Phantasie. Er lag auf dem Kanapee im purpurnen Salon und schlief. Um ihn standen die leeren Flaschen. Er hatte enorm viel getrunken, zum Abschluss gar zwei Flaschen vom Duft des rothaarigen Mudchens. Wahrscheinlich war das zu viel gewesen, denn sein Schlaf, wiewohl von todesuhnlicher Tiefe, war diesmal nicht traumlos, sondern von geisterhaften Traumschlieren durchzogen. Diese Schlieren waren deutlich erkennbare Fetzen eines Geruchs. Zuerst zogen sie nur in dunnen Bahnen an Grenouilles Nase vorbei, dann wurden sie dichter, wolkenhaft. Es war nun, als stunde er inmitten eines Moores, aus dem der Nebel stieg. Der Nebel stieg langsam immer huher. Bald war Grenouille vollkommen umhullt von Nebel, durchtrunkt von Nebel, und zwischen den Nebelschwaden war kein bisschen freie Luft mehr. Er musste, wenn er nicht ersticken wollte, diesen Nebel einatmen. Und der Nebel war, wie gesagt, ein Geruch. Und Grenouille wusste auch, was fur ein Geruch. Der Nebel war sein eigener Geruch. Sein, Grenouilles, Eigengeruch war der Nebel. Und nun war das Entsetzliche, dass Grenouille, obwohl er wusste, dass dieser Geruch sein Geruch war, ihn nicht riechen konnte. Er konnte sich, vollstundig in sich selbst ertrinkend, um alles in der Welt nicht riechen! Als ihm das klargeworden war, schrie er so furchterlich laut, als wurde er bei lebendigem Leibe verbrannt. Der Schrei zerschlug die Wunde des Purpursalons, die Mauern des Schlosses, er fuhr aus dem Herzen uber die Gruben und Sumpfe und Wusten hinweg, raste uber die nuchtliche Landschaft seiner Seele wie ein Feuersturm, gellte aus seinem Mund hervor, durch den gewundenen Stollen, hinaus in die Welt, weithin uber die Hochebene von Saint-Flour es war, als schriee der Berg. Und Grenouille erwachte von seinem eigenen Schrei. Im Erwachen schlug er um sich, als musse er den unriechbaren Nebel vertreiben, der ihn ersticken wollte. Er war zutode geungstigt, schlotterte am ganzen Kurper vor schierem Todesschrecken. Hutte der Schrei nicht den Nebel zerrissen, dann wure er an sich selber ertrunken - ein grauenvoller Tod. Ihn schauderte, wenn er daran zuruckdachte. Und wuhrend er noch schlotternd saß und versuchte, seine konfusen verungstigten Gedanken zusammenzufangen, wusste er schon eines ganz sicher: Er wurde sein Leben undern, und sei es nur deshalb, weil er einen so furchtbaren Traum kein zweites Mal truumen wollte. Er wurde das zweite Mal nicht uberstehen. Er warf sich die Pferdedecke uber die Schultern und kroch hinaus ins Freie. Draußen war gerade Vormittag, ein Vormittag Ende Februar. Die Sonne schien. Das Land roch nach feuchtem Stein, Moos und Wasser. Im Wind lag schon ein wenig Duft von Anemonen. Er hockte sich vor der Huhle auf den Boden. Das Sonnenlicht wurmte ihn. Er atmete die frische Luft ein. Es schauderte ihn immer noch, wenn er an den Nebel zuruckdachte, dem er entronnen war, und es schauderte ihn vor Wohligkeit, als er die Wurme auf dem Rucken spurte. Es war doch gut, dass diese uußere Welt noch bestand, und sei's nur als ein Fluchtpunkt. Nicht auszudenken das Grauen, wenn er am Ausgang des Tunnels keine Welt mehr vorgefunden hutte! Kein Licht, keinen Geruch, kein Garnichts - nur noch diesen entsetzlichen Nebel, innen, außen, uberall... Allmuhlich wich der Schock. Allmuhlich lockerte sich der Griff der Angst, und Grenouille begann sich sicherer zu fuhlen. Gegen Mittag hatte er seine Kaltblutigkeit wiedergewonnen. Er legte Zeige- und Mittelfinger der linken Hand unter die Nase und atmete zwischen den Fingerrucken hindurch. Er roch die feuchte, anemonenwurzige Fruhlingsluft. Von seinen Fingern roch er nichts. Er drehte die Hand um und schnupperte an ihrer Innenseite. Er spurte die Wurme der Hand, aber er roch nichts. Nun krempelte er den zerschlissenen urmel seines Hemdes hoch, vergrub die Nase in der Ellbogenbeuge. Er wusste, dass dies die Stelle war, wo alle Menschen nach sich selber riechen. Er jedoch roch nichts. Er roch auch nichts unter seiner Achsel, nichts an den Fußen, nichts am Geschlecht, zu dem er sich, so weit es ging, hinunterbeugte. Es war grotesk: Er, Grenouille, der jeden anderen Menschen meilenweit erschnuppern konnte, war nicht imstande, sein weniger als eine Handspanne entferntes eigenes Geschlecht zu riechen! Trotzdem geriet er nicht in Panik, sondern sagte sich, kuhl uberlegend, das folgende: "Es ist nicht so, dass ich nicht rieche, denn alles riecht. Es ist vielmehr so, dass ich nicht rieche, dass ich rieche, weil ich mich seit meiner Geburt tagaus tagein gerochen habe und meine Nase daher gegen meinen eigenen Geruch abgestumpft ist. Kunnte ich meinen Geruch, oder wenigstens einen Teil davon, von mir trennen und nach einer gewissen Zeit der Entwuhnung zu ihm zuruckkehren, so wurde ich ihn - und also mich - sehr wohl riechen kunnen." Er legte die Pferdedecke ab und zog seine Kleider aus der das, was von seinen Kleidern noch ubriggeblieben war, die Fetzen, die Lumpen zog er aus. Sieben Jahre lang hatte er sie nicht vom Leib genommen. Sie mussten durch und durch getrunkt sein von seinem Geruch. Er warf sie auf einen Haufen vor den Eingang der Huhle und entfernte sich. Dann stieg er, zum ersten Mal seit sieben Jahren, wieder auf den Gipfel des Berges hinauf. Dort stellte er sich an dieselbe Stelle, an der er damals bei seiner Ankunft gestanden war, hielt die Nase nach Westen und ließ sich den Wind um den nackten Kurper pfeifen. Seine Absicht war, sich vollkommen auszuluften, sich so sehr mit Westwind - und das hieß mit dem Geruch von Meer und feuchten Wiesen - vollzupumpen, dass dieser den Geruch seines eigenen Kurpers uberwog und sich somit ein Duftgefulle zwischen ihm, Grenouille, und seinen Kleidern herstellen muge, welches er dann deutlich wahrzunehmen in der Lage wure. Und um muglichst wenig Eigengeruch in die Nase zu bekommen, beugte er den Oberkurper nach vorn, machte den Hals so lang es ging gegen den Wind und streckte die Arme nach hinten. Er sah aus wie ein Schwimmer, kurz bevor er ins Wasser springt. In dieser uußerst lucherlichen Haltung verharrte er mehrere Stunden lang, wobei sich seine lichtentwuhnte madenweiße Haut trotz der noch schwachen Sonne langustenrot furbte. Gegen Abend stieg er wieder zur Huhle hinab. Schon von weitem sah er den Kleiderhaufen liegen. Auf den letzten Metern hielt er sich die Nase zu und uffnete sie erst wieder, als er sie dicht uber den Haufen gesenkt hatte. Er machte die Schnuffelprobe, wie er sie bei Baldini gelernt hatte, riss die Luft ein und ließ sie etappenweise wieder ausstrumen. Um den Geruch zu fangen, bildete er mit seinen beiden Hunden eine Glocke uber den Kleidern, in die er wie einen Kluppel seine Nase steckte. Er stellte alles mugliche an, um seinen eigenen Geruch aus den Kleidern herauszuriechen. Aber der Geruch war nicht darin. Er war entschieden nicht darin. Tausend andre Geruche waren darin. Der Geruch von Stein, Sand, Moos, Harz, Rabenblut - sogar der Geruch der Wurst, die er vor Jahren in der Nuhe von Sully gekauft hatte, war noch deutlich wahrnehmbar. Die Kleider enthielten ein olfaktorisches Tagebuch der letzten sieben, acht Jahre. Nur seinen eigenen Geruch, den Geruch dessen, der sie in dieser Zeit ohne Unterlass getragen hatte, enthielten sie nicht. Nun wurde ihm doch etwas bang. Die Sonne war untergegangen. Er stand nackt am Eingang des Stollens, an dessen dunklem Ende er sieben Jahre lang gelebt hatte. Der Wind blies kalt, und er fror, aber er merkte nicht, dass er fror, denn in ihm war eine Gegenkulte, numlich Angst. Es war nicht dieselbe Angst, die er im Traum empfunden hatte, diese grußliche Angst des Ansich-selbst-Erstickens, die es um jeden Preis abzuschutteln galt und der er hatte entfliehen kunnen. Was er jetzt empfand, war die Angst, uber sich selbst nicht Bescheid zu wissen. Sie war jener Angst entgegengesetzt. Ihr konnte er nicht entfliehen, sondern er musste ihr entgegengehen. Er musste - und wenn auch die Erkenntnis furchtbar war - ohne Zweifel wissen, ob er einen Geruch besaß oder nicht. Und zwar jetzt gleich. Sofort. Er ging zuruck in den Stollen. Nach ein paar Metern schon umgab ihn vullige Dunkelheit, doch er fand sich zurecht wie im hellsten Licht. Viele tausend Male war er den Weg gegangen, kannte jeden Tritt und jede Windung, roch jede niederhungende Felsnase und jeden kleinsten vorspringenden Stein. Den Weg zu finden war nicht schwierig. Schwierig war, gegen die Erinnerung an den klaustrophobischen Traum anzukumpfen, die wie eine Flutwelle in ihm hoch und huher schwappte, je weiter er voranschritt. Aber er war mutig. Das heißt, er bekumpfte mit der Angst, nicht zu wissen, die Angst vor dem Wissen, und es gelang ihm, weil er wusste, dass er keine Wahl hatte. Als er am Ende des Stollens angekommen war, dort wo die Gerullverschuttung anstieg, fielen beide ungste von ihm ab. Er fuhlte sich ruhig, sein Kopf war ganz klar und seine Nase geschurft wie ein Skalpell. Er hockte sich nieder, legte die Hunde uber die Augen und roch. An diesem Ort, in diesem weltfernen steinernen Grab, hatte er sieben Jahre lang gelegen. Wenn irgendwo auf der Welt, so musste es hier nach ihm riechen. Er atmete langsam. Er prufte genau. Er ließ sich Zeit mit dem Urteil. Eine Viertelstunde lang blieb er hocken. Er hatte ein untrugliches Geduchtnis und wusste genau, wie es vor sieben Jahren an dieser Stelle gerochen hatte: steinig und nach feuchter, salziger Kuhle und so rein, dass kein lebendes Wesen, Mensch oder Tier, den Platz jemals betreten haben konnte... Genau so aber roch es auch jetzt. Er blieb noch eine Weile hocken, ganz ruhig, nur leise mit dem Kopfe nickend. Dann drehte er sich um und ging, zunuchst gebuckt, und als die Huhe des Stollens es zuließ, in aufrechter Haltung, hinaus ins Freie. Draußen zog er seine Lumpen an (die Schuhe waren ihm schon vor Jahren vermodert), legte sich die Pferdedecke uber die Schultern und verließ noch in derselben Nacht den Plomb du Cantal in sudlicher Richtung. 30 Er sah furchterlich aus. Die Haare reichten ihm bis zu den Kniekehlen, der dunne Bart bis zum Nabel. Seine Nugel waren wie Vogelkrallen, und an Armen und Beinen, wo die Lumpen nicht mehr hinreichten, den Kurper zu bedecken, fiel ihm die Haut in Fetzen ab. Die ersten Menschen, denen er begegnete, Bauern auf einem Feld nahe der Stadt Pierrefort, rannten schreiend davon, als sie ihn sahen. In der Stadt selbst dagegen machte er Sensation. Die Leute liefen zu Hunderten zusammen, um ihn zu begaffen. Manche hielten ihn fur einen entkommenen Galeerenstrufling. Manche sagten, er sei gar kein richtiger Mensch, sondern eine Mischung aus einem Menschen und einem Buren, eine Art Waldwesen. Einer, der fruher zur See gefahren war, behauptete, er sehe aus wie der Angehurige eines wilden Indianerstammes in Cayenne, welches jenseits des großen Ozeans liege. Man fuhrte ihn dem Burgermeister vor. Dort wies er zum Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund auf und erzuhlte in ein wenig kollernden Worten - denn es waren die ersten Worte, die er nach siebenjuhriger Pause von sich gab -, aber gut verstundlich, dass er auf seiner Wanderschaft von Ruubern uberfallen, verschleppt und sieben Jahre lang in einer Huhle gefangengehalten worden sei. Er habe in dieser Zeit weder das Sonnenlicht noch einen Menschen gesehen, sei mittels eines von unsichtbarer Hand ins Dunkle herabgelassenen Korbes ernuhrt und schließlich mit einer Leiter befreit worden, ohne zu wissen, warum, und ohne seine Entfuhrer oder Retter je gesehen zu haben. Diese Geschichte hatte er sich ausgedacht, denn sie schien ihm glaubhafter als die Wahrheit, und sie war es auch, denn dergleichen ruuberische uberfulle geschahen in den Bergen der Auvergne, des La