nguedoc und in den Cevennen durchaus nicht selten. Jedenfalls nahm sie der Burgermeister anstandslos zu Protokoll und erstattete uber den Vorfall Bericht an den Marquis de la Taillade-Espinasse, Lehensherrn der Stadt und Mitglied des Parlaments in Toulouse. Der Marquis hatte schon mit vierzig Jahren dem Versailler Hofleben den Rucken gekehrt, sich auf seine Guter zuruckgezogen und dort den Wissenschaften gelebt. Aus seiner Feder stammte ein bedeutendes Werk uber dynamische Nationalukonomie, in welchem er die Abschaffung aller Abgaben auf Grundbesitz und landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie die Einfuhrung einer umgekehrt progressiven Einkommenssteuer vorschlug, die den urmsten am hurtesten traf und ihn somit zur sturkeren Entfaltung seiner wirtschaftlichen Aktivituten zwang. Durch den Erfolg des Buchleins ermuntert, verfasste er ein Traktat uber die Erziehung von Knaben und Mudchen im Alter zwischen funf und zehn Jahren, wandte sich hierauf der experimentellen Landwirtschaft zu und versuchte, durch die ubertragung von Stiersamen auf verschiedene Grassorten ein animalovegetabiles Kreuzungsprodukt zur Milchgewinnung zu zuchten, eine Art Euterblume. Nach anfunglichen Erfolgen, die ihn sogar zur Herstellung eines Kuses aus Grasmilch befuhigten, der von der Wissenschaftlichen Akademie von Lyon als >von ziegenhaftem Geschmack, wenngleich ein wenig bitterer< bezeichnet wurde, musste er seine Versuche wegen der enormen Kosten des hektoliterweise uber die Felder verspruhten Stiersamens einstellen. Immerhin hatte die Beschuftigung mit agrarbiologischen Problemen sein Interesse nicht nur an der sogenannten Ackerscholle, sondern an der Erde uberhaupt und an ihrer Beziehung zur Biosphure geweckt. Kaum hatte er die praktischen Arbeiten an der Milcheuterblume beendet, sturzte er sich mit ungebrochenem Forscherelan auf einen großen Essay uber die Zusammenhunge zwischen Erdnuhe und Vitalkraft. Seine These war, dass sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln kunne, da die Erde selbst stundig ein Verwesungsgas verstrume, ein sogenanntes "fluidum letale", welches die Vitalkrufte lahme und uber kurz oder lang vollstundig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, wuchsen also von ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb trugen sie ihre wertvollsten Teile himmelwurts: das Korn die uhre, die Blume ihre Blute, der Mensch den Kopf; und deshalb mussten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur Erde hinkrumme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten. Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu Ohren kam, es habe sich in Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer Huhle - also vullig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe, war er außer sich vor Entzucken und ließ Grenouille sofort zu sich in sein Laboratorium bringen, wo er ihn einer grundlichen Untersuchung unterzog. Aufs Anschaulichste fand er seine Theorie bestutigt: Das fluidum letale hatte Grenouille schon dermaßen angegriffen, dass sein funfundzwanzigjuhriger Kurper deutlich greisenhafte Verfallserscheinungen aufwies. Einzig die Tatsache - so erklurte Taillade-Espinasse -, dass Grenouille wuhrend seiner Gefangenschaft Nahrung von erdfernen Pflanzen, vermutlich Brot und Fruchte, zugefuhrt worden seien, habe seinen Tod verhindert. Nun kunne der fruhere Gesundheitszustand nur wiederhergestellt werden durch die grundliche Austreibung des Fluidums vermittels eines von ihm, Taillade-Espinasse, ersonnenen Vitalluftventilations- Apparates. Einen solchen habe er im Speicher seines Stadtpalais in Montpellier stehen, und wenn Grenouille bereit wure, sich als wissenschaftliches Demonstrationsobjekt zur Verfugung zu stellen, wolle er ihn nicht nur von seiner hoffnungslosen Erdgasverseuchung befreien, sondern ihm auch noch ein gutes Stuck Geld zukommen lassen... Zwei Stunden sputer saßen sie im Wagen. Obwohl sich die Straßen in einem miserablen Zustand befanden, schafften sie die vierundsechzig Meilen nach Montpellier in knapp zwei Tagen, denn der Marquis ließ es sich trotz seines vorgeschrittenen Alters nicht nehmen, persunlich auf Kutscher und Pferde einzupeitschen und bei mehreren Deichsel- und Federbruchen selbst mit Hand anzulegen; so begeistert war er von seiner Trouvaille, so begierig, sie raschestens einer gebildeten uffentlichkeit zu prusentieren. Grenouille hingegen durfte die Kutsche kein einziges Mal verlassen. Er hatte in seinen Lumpen, von einer mit feuchter Erde und Lehm getrunkten Decke vollstundig umhullt, dazusitzen. Zu essen bekam er wuhrend der Reise rohes Wurzelgemuse. Auf diese Weise hoffte der Marquis, die Erdfluidumverseuchung noch eine Weile im Idealzustand zu konservieren. In Montpellier angekommen, ließ er Grenouille sofort in den Keller seines Palais verbringen, verschickte Einladungen an sumtliche Mitglieder der medizinischen Fakultut, des Botanikervereins, der Landwirtschaftsschule, der chemo-physikalischen Vereinigung, der Freimaurerloge und der ubrigen Gelehrtengesellschaften, deren die Stadt nicht weniger als ein Dutzend besaß. Und einige Tage sputer - genau eine Woche nachdem er die Bergeinsamkeit verlassen hatte - fand sich Grenouille auf einem Podest in der großen Aula der Universitut von Montpellier einer vielhundertkupfigen Menge als die wissenschaftliche Sensation des Jahres prusentiert. In seinem Vortrag bezeichnete ihn Taillade-Espinasse als den lebenden Beweis fur die Richtigkeit der letalen Erdfluidumtheorie. Wuhrend er ihm nach und nach die Lumpen vom Leibe riss, erklurte er den verheerenden Effekt, den das Verwesungsgas auf Grenouilles Kurper ausgeubt habe: Da sehe man Pusteln und Narben, hervorgerufen durch Gasverutzung; dort auf der Brust ein riesiges glunzendrotes Gaskarzinom; allenthalben eine Zersetzung der Haut; und sogar eine deutliche fluidale Verkruppelung des Skeletts, die als Klumpfuß und Buckel sichtbar hervortrete. Auch seien die inneren Organe Milz, Leber, Lunge, Galle und Verdauungstrakt schwer gasgeschudigt, wie die Analyse einer Stuhlprobe, die sich in einer Schussel zu Fußen des Demonstranten fur jedermann zugunglich befinde, zweifelsfrei erwiesen habe. Zusammenfassend kunne daher gesagt werden, dass die Luhmung der Vitalkrufte aufgrund siebenjuhriger Verseuchung durch >fluidum letale Taillade< schon so weit fortgeschritten sei, dass Demonstrant - dessen uußere Erscheinung im ubrigen bereits signifikant maulwurfhafte Zuge aufweise - mehr als ein dem Tode denn als ein dem Leben zugewandtes Wesen bezeichnet werden musse. Dennoch mache Referent sich anheischig, den an und fur sich Todgeweihten mittels einer Ventilationstherapie in Kombination mit Vitaldiut innerhalb von acht Tagen wieder soweit herzustellen, dass die Anzeichen fur eine vollstundige Heilung jedermann in die Augen springen werde, und fordere die Anwesenden auf, sich vom Erfolg dieser Prognose, der dann freilich als gultiger Beweis fur die Richtigkeit der letalen Erdfluidumstheorie angesehen werden musse, binnen Wochenfrist zu uberzeugen. Der Vortrag war ein Riesenerfolg. Heftig applaudierte das gelehrte Publikum dem Referenten und defilierte dann am Podest vorbei, auf dem Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten Narben und Verkruppelungen sah er tatsuchlich so beeindruckend furchterlich aus, dass ihn jedermann fur halb verwest und unrettbar verloren hielt, obwohl er selbst sich durchaus gesund und kruftig fuhlte. Manche der Herren beklopften ihn fachmunnisch, vermaßen ihn, schauten ihm in Mund und Auge. Einige richteten das Wort an ihn und erkundigten sich nach seinem Huhlenleben und nach seiner jetzigen Befindlichkeit. Er hielt sich jedoch streng an eine im voraus erteilte Anweisung des Marquis und antwortete auf solche Fragen nur mit einem gepressten Rucheln, wobei er mit beiden Hunden hilflose Gesten gegen seinen Kehlkopf machte, um damit kundzutun, dass auch dieser bereits vom >fluidum letale Taillade< zerfressen sei. Am Ende der Veranstaltung packte ihn Taillade-Espinasse wieder ein und verfrachtete ihn nach Hause auf den Speicher seines Palais. Dort schloss er ihn im Beisein einiger ausgewuhlter Doktoren der medizinischen Fakultut in den Vitalluftventilationsapparat, einen aus dichtverfugten Fichtenbrettern gefertigten Verschlag, der mittels eines weit uber das Dach hinausreichenden Ansaugekamins mit letalgasfreier Huhenluft durchflutet wurde, welche durch eine am Boden angebrachte Lederventilklappe wieder entweichen konnte. In Betrieb gehalten wurde die Anlage von einer Staffel von Bediensteten, die Tag und Nacht dafur sorgten, dass die im Kamin eingebauten Ventilatoren nicht zur Ruhe kamen. Und wuhrend Grenouille auf diese Weise von einem stundigen reinigenden Luftstrom umgeben war, wurden ihm in stundlichem Abstand durch ein seitlich eingearbeitetes doppelwandiges Luftschleusenturchen diutetische Speisen erdferner Provenienz dargeboten: Taubenbruhe, Lerchenpastete, Ragout von Flugenten, eingemachtes Baumobst, Brot von extra hochwachsenden Weizensorten, Pyrenuenwein, Gemsenmilch und Eischaumcreme von Huhnern, die im Dachboden des Palais gehalten wurden. Funf Tage lang dauerte diese kombinierte Entseuchungs- und Revitalisierungskur. Dann ließ der Marquis die Ventilatoren anhalten und verbrachte Grenouille in einen Waschraum, wo er in Budern von lauwarmem Regenwasser mehrere Stunden eingeweicht und schließlich mit Nussulseife aus der Andenstadt Potosi von Kopf bis Fuß gewaschen wurde. Man schnitt ihm die Finger- und Zehennugel, reinigte seine Zuhne mit feingeschlummtem Dolomitenkalk, rasierte ihn, kurzte und kummte seine Haare, coiffierte und puderte sie. Ein Schneider wurde bestellt, ein Schuster, und Grenouille bekam ein seidenes Hemd verpasst, mit weißem Jabot und weißen Ruschen an den Manschetten, seidene Strumpfe, Rock, Hose und Weste aus blauem Samt und schune Schnallenschuhe von schwarzem Leder, deren rechter geschickt den verkruppelten Fuß kaschierte. Huchsteigenhundig legte der Marquis weiße Talkumschminke auf Grenouilles narbiges Gesicht, tupfte ihm Karmesin auf Lippen und Wangen und verlieh den Augenbrauen mit Hilfe eines weichen Stifts von Lindenholzkohle eine wirklich edle Wulbung. Dann stuubte er ihn mit seinem persunlichen Parfum ein, einer ziemlich simplen Veilchennote, trat einige Schritte zuruck und brauchte lange Zeit, sein Entzucken in Worte zu fassen. "Monsieur", begann er endlich, "ich bin von mir begeistert. Ich bin erschuttert uber meine Genialitut. Ich habe an der Richtigkeit meiner fluidalen Theorie zwar nie gezweifelt; naturlich nicht; sie aber in praktizierter Therapie so herrlich bestutigt zu finden, erschuttert mich. Sie waren ein Tier, und ich habe einen Menschen aus Ihnen gemacht. Eine geradezu guttliche Tat. Erlauben Sie, dass ich geruhrt bin! - Treten Sie vor diesen Spiegel dort, und schauen Sie sich an! Sie werden zum ersten Mal in Ihrem Leben erkennen, dass Sie ein Mensch sind; kein besonders außergewuhnlicher oder irgendwie hervorragender, aber doch immerhin ein ganz passabler Mensch. Gehen Sie, Monsieur! Schauen Sie sich an, und bestaunen Sie das Wunder, das ich an Ihnen vollbracht habe!" Es war das erste Mal, dass jemand "Monsieur" zu Grenouille gesagt hatte. Er ging zum Spiegel und sah hinein. Bis dato hatte er auch noch nie in einen Spiegel gesehen. Er sah einen Herrn in feinem blauem Gewand vor sich, mit weißem Hemd und Seidenstrumpfen, und er duckte sich ganz instinktiv, wie er sich immer vor solch feinen Herren geduckt hatte. Der feine Herr aber duckte sich auch, und indem Grenouille sich wieder aufrichtete, tat der feine Herr dasselbe, und dann erstarrten beide und fixierten sich. Was Grenouille am meisten verbluffte, war die Tatsache, dass er so unglaublich normal aussah. Der Marquis hatte Recht: Er sah nicht besonders aus, nicht gut, aber auch nicht besonders hußlich. Er war ein wenig klein geraten, seine Haltung war ein wenig linkisch, das Gesicht ein wenig ausdruckslos, kurz, er sah aus wie Tausende von anderen Menschen auch. Wenn er jetzt hinunter auf die Straße ginge, wurde kein Mensch sich nach ihm umdrehen. Nicht einmal ihm selbst wurde ein solcher, wie er jetzt war, irgendwie auffallen, wenn er ihm begegnete. Es sei denn, er wurde riechen, dass dieser jemand, außer nach Veilchen, sowenig ruche wie der Herr im Spiegel und er selbst, der davorstand. Und doch waren vor zehn Tagen die Bauern noch schreiend auseinandergelaufen bei seinem Anblick. Er hatte sich damals nicht anders gefuhlt als jetzt, und jetzt, wenn er die Augen schloss, fuhlte er sich kein bisschen anders als damals. Er sog die Luft ein, die an seinem Kurper aufstieg und roch das schlechte Parfum und den Samt und das frischgeleimte Leder seiner Schuhe; er roch das Seidenzeug, den Puder, die Schminke, den schwachen Duft der Seife aus Potosi. Und plutzlich wusste er, dass es nicht die Taubenbruhe und der Ventilationshokuspokus gewesen waren, die einen normalen Menschen aus ihm gemacht hatten, sondern einzig und allein die paar Kleider, der Haarschnitt und das bisschen kosmetischer Maskerade. Er uffnete blinzelnd die Augen und sah, wie der Monsieur im Spiegel ihm zublinzelte und wie ein kleines Lucheln um seine karmesinroten Lippen strich, ganz so, als wolle er ihm signalisieren, dass er ihn nicht gunzlich unsympathisch finde. Und auch Grenouille fand, dass der Monsieur im Spiegel, diese als Mensch verkleidete, maskierte, geruchlose Gestalt, nicht so ganz ohne sei; zumindest schien ihm, als kunnte sie wurde man ihre Maske nur vervollkommnen - eine Wirkung auf die uußere Welt tun, wie er, Grenouille, sie sich selbst nie zugetraut hutte. Er nickte der Gestalt zu und sah, dass sie, wuhrend sie wieder nickte, verstohlen die Nustern bluhte... 31 Am folgenden Tag - der Marquis war gerade dabei, ihm die nutigsten Posen, Gesten und Tanzschritte fur den bevorstehenden gesellschaftlichen Auftritt beizubringen - fingierte Grenouille einen Schwindelanfall und sturzte scheinbar vollkommen entkruftet und wie von Erstickung bedroht auf einem Diwan nieder. Der Marquis war außer sich. Er schrie nach den Dienern, schrie nach Luftwedeln und tragbaren Ventilatoren, und wuhrend die Diener eilten, kniete er an Grenouilles Seite nieder, fuchelte ihm mit seinem veilchenduftgetrunkten Taschentuch Luft zu und beschwor, bebettelte ihn regelrecht, doch ja sich wieder aufzurichten, doch ja nicht jetzt die Seele auszuhauchen, sondern damit, wenn irgend muglich, noch bis ubermorgen hinzuwarten, da sonst das uberleben der letalen Fluidaltheorie aufs uußerste gefuhrdet sei. Grenouille wand und krummte sich, keuchte, uchzte, fuchtelte mit seinen Armen gegen das Taschentuch, ließ sich schließlich auf sehr dramatische Weise vom Diwan fallen und verkroch sich in die entlegenste Ecke des Zimmers. "Nicht dieses Parfum!" rief er wie mit allerletzter Kraft, "nicht dieses Parfum! Es tutet mich!" Und erst als Taillade-Espinasse das Taschentuch aus dem Fenster und seinen ebenfalls nach Veilchen riechenden Rock ins Nebenzimmer geworfen hatte, ließ Grenouille seinen Anfall abebben und erzuhlte mit ruhiger werdender Stimme, dass er als Parfumeur eine berufsbedingt empfindliche Nase besitze und immer schon, besonders aber jetzt in der Zeit der Genesung, auf gewisse Parfums sehr heftig reagiere. Dass ausgerechnet der Duft des Veilchens, einer an und fur sich lieblichen Blume, ihm so stark zusetze, kunne er sich nur dadurch erkluren, dass das Parfum des Marquis einen hohen Bestandteil an Veilchenwurzelextrakt enthalte, welcher wegen seiner unterirdischen Herkunft auf eine letal fluidal angegriffene Person wie ihn, Grenouille, verderblich wirke. Schon gestern, bei der ersten Applikation des Duftes, habe er sich ganz blumerant gefuhlt und heute, als er den Wurzelgeruch abermals wahrgenommen habe, sei ihm gar gewesen, als stoße man ihn zuruck in das entsetzliche stickige Erdloch, in dem er sieben Jahre vegetiert habe. Seine Natur habe sich dagegen empurt, anders kunne er nicht sagen, denn nachdem ihm einmal durch die Kunst des Herrn Marquis ein Leben als Mensch in fluidalfreier Luft geschenkt worden sei, sturbe er lieber sofort, als dass er sich noch einmal dem verhassten Fluidum ausliefere. Noch jetzt krampfe sich alles in ihm zusammen, wenn er bloß an das Wurzelparfum denke. Er glaube aber zuversichtlich, dass er augenblicklich wiederhergestellt sein wurde, wenn es ihm der Marquis gestatte, zur vollstundigen Austreibung des Veilchenduftes ein eigenes Parfum zu entwerfen. Er denke dabei an eine besonders leichte, aerierte Note, die hauptsuchlich aus erdfernen Ingredienzen wie Mandel- und Orangenblutenwasser, Eukalyptus, Fichtennadelul und Zypressenul bestehe. Einen Spritzer nur von einem solchen Duft auf seine Kleider, ein paar Tropfen nur an Hals und Wangen - und er wure ein fur allemal gefeit gegen eine Wiederholung des peinlichen Anfalls, der ihn soeben ubermannt habe... Was wir hier der Verstundlichkeit halber in ordentlicher indirekter Rede wiedergeben, war in Wirklichkeit ein halbstundiger, von vielen Hustern und Keuchern und Atemnuten unterbrochener blubbernder Wortausbruch, den Grenouille mit Gezittre und Gefuchtle und Augenrollen untermalte. Der Marquis war schwer beeindruckt. Mehr noch als die Leidenssymptomatik uberzeugte ihn die feine Argumentation seines Schutzlings, die ganz im Sinne der letal fluidalen Theorie vorgebracht war. Naturlich das Veilchenparfum! Ein widerlich erdnahes, ja sogar unterirdisches Produkt! Wahrscheinlich war er selbst, der es seit Jahren benutzte, schon infiziert davon. Hatte keine Ahnung, dass er sich Tag fur Tag durch diesen Duft dem Tode nuherbrachte. Die Gicht, die Steifheit seines Nackens, die Schlaffheit seines Glieds, das Humorrhoid, der Ohrendruck, der faule Zahn - all das kam zweifelsohne von dem Gestank der fluidaldurchseuchten Veilchenwurzel. Und dieser kleine dumme Mensch, das Huuflein Elend in der Zimmerecke dort, hatte ihn daraufgebracht. Er war geruhrt. Am liebsten wure er zu ihm gegangen, hutte ihn aufgehoben und an sein aufgeklurtes Herz gedruckt. Aber er furchtete, noch immer nach Veilchen zu duften, und so schrie er abermals nach den Dienern und befahl, alles Veilchenparfum aus dem Hause zu entfernen, das ganze Palais zu luften, seine Kleider im Vitalluftventilator zu entseuchen und Grenouille sofort in seiner Sunfte zum besten Parfumeur der Stadt zu bringen. Genau dies aber hatte Grenouille mit seinem Anfall bezweckt. Das Duftwesen hatte alte Tradition in Montpellier, und obwohl es in jungster Zeit im Vergleich zur Konkurrenzstadt Grasse etwas heruntergekommen war, lebten doch noch etliche gute Parfumeur- und Handschuhmachermeister in der Stadt. Der angesehenste unter ihnen, ein gewisser Runel, erklurte sich im Hinblick auf die Geschuftsbeziehungen mit dem Hause desMarquis de la Taillade-Espinasse, dessen Seifen-, ul- und Duftstofflieferant er war, zu dem außergewuhnlichen Schritt bereit, sein Atelier fur eine Stunde dem in der Sunfte herbeigeschafften sonderbaren Pariser Parfumeurgesellen abzutreten. Dieser ließ sich nichts erkluren, wollte gar nicht wissen, wo er was zu finden habe, er kenne sich schon aus, sagte er, finde sich schon zurecht; und schloss sich in der Werkstatt ein und blieb dort eine gute Stunde, wuhrend Runel mit dem Haushofmeister des Marquis auf ein paar Gluser Wein in eine Schenke ging und dort erfahren musste, weswegen man sein Veilchenwasser nicht mehr riechen kunne. Runels Werkstatt und Laden waren bei weitem nicht so uppig ausgestattet wie seinerzeit Baldinis Duftstoffhandlung in Paris. Mit den paar Blutenulen, Wussern und Gewurzen hutte ein durchschnittlicher Parfumeur keine großen Sprunge machen kunnen. Grenouille jedoch erkannte mit dem ersten schnuppernden Atemzug, dass die vorhandenen Stoffe fur seine Zwecke durchaus hinreichten. Er wollte keinen großen Duft kreieren; er wollte kein Prestigewusserchen zusammenmischen wie damals fur Baldini, so eines, das hervorstach aus dem Meer des Mittelmaßes und die Leute kirre machte. Nicht einmal ein einfaches Orangenblutenduftchen, wie dem Marquis versprochen, war sein eigentliches Ziel. Die gungigen Essenzen von Neroli, Eukalyptus und Zypressenblatt sollten den eigentlichen Duft, den er sich herzustellen vorgenommen hatte, nur kaschieren: dies aber war der Duft des Menschlichen. Er wollte sich, und wenn es vorluufig auch nur ein schlechtes Surrogat war, den Geruch der Menschen aneignen, den er selber nicht besaß. Freilich den Geruch der Menschen gab es nicht, genausowenig wie es das menschliche Antlitz gab. Jeder Mensch roch anders, niemand wusste das besser als Grenouille, der Tausende und Abertausende von Individualgeruchen kannte und Menschen schon von Geburt an witternd unterschied. Und doch - es gab ein parfumistisches Grundthema des Menschendufts, ein ziemlich simples ubrigens: ein schweißig-fettes, kusigsuuerliches, ein im ganzen reichlich ekelhaftes Grundthema, das allen Menschen gleichermaßen anhaftete und uber welchem erst in feinerer Vereinzelung die Wulkchen einer individuellen Aura schwebten. Diese Aura aber, die huchst komplizierte, unverwechselbare Chiffre des persunlichen Geruchs, war fur die meisten Menschen ohnehin nicht wahrnehmbar. Die meisten Menschen wussten nicht, dass sie sie uberhaupt besaßen, und taten uberdies alles, um sie unter Kleidern oder unter modischen Kunstgeruchen zu verstecken. Nur jener Grundduft, jene primitive Menschendunstelei, war ihnen wohlvertraut, in ihr nur lebten sie und fuhlten sich geborgen, und wer nur den eklen allgemeinen Brodem von sich gab, wurde von ihnen schon als ihresgleichen angesehen. Es war ein seltsames Parfum, das Grenouille an diesem Tag kreierte. Ein seltsameres hatte es bis dahin auf der Welt noch nicht gegeben. Es roch nicht wie ein Duft, sondern wie ein Mensch, der duftet. Wenn man dieses Parfum in einem dunklen Raum gerochen hutte, so hutte man geglaubt, es stehe da ein zweiter Mensch. Und wenn ein Mensch, der selber wie ein Mensch roch, es verwendet hutte, so wure dieser uns geruchlich vorgekommen wie zwei Menschen oder, schlimmer noch, wie ein monstruses Doppelwesen, wie eine Gestalt, die man nicht mehr eindeutig fixieren kann, weil sie sich verschwimmend unscharf darstellt wie ein Bild vom Grunde eines Sees, auf dem die Wellen zittern. Um diesen Menschenduft zu imitieren - recht ungenugend, wie er selber wusste, aber doch geschickt genug, um andere zu tuuschen -, suchte sich Grenouille die ausgefallensten Ingredienzen in Runels Werkstatt zusammen. Da war ein Huufchen Katzendreck hinter der Schwelle der Tur, die zum Hof fuhrte, noch ziemlich frisch. Davon nahm er ein halbes Luffelchen und gab es zusammen mit einigen Tropfen Essig und zerstoßenem Salz in die Mischflasche. Unter dem Werktisch fand er ein daumennagelgroßes Stuckchen Kuse, das offenbar von einer Mahlzeit Runels stammte. Es war schon ziemlich alt, begann, sich zu zersetzen und strumte einen beißend scharfen Duft aus. Vom Deckel der Sardinentonne, die im hinteren Teil des Ladens stand, kratzte er ein fischig-ranzig-riechendes Etwas ab, vermischte es mit faulem Ei und Castoreum, Ammoniak, Muskat, gefeiltem Hurn und angesengter Schweineschwarte, fein gebruselt. Dazu gab er ein relativ hohes Quantum Zibet, mischte diese entsetzlichen Zutaten mit Alkohol, ließ digerieren und filtrierte ab in eine zweite Flasche. Die Bruhe roch verheerend. Sie stank kloakenhaft, verwesend, und wenn man ihre Ausdunstung mit einem Fucherschlag von reiner Luft vermischte, so war's, als stunde man an einem heißen Sommertag in der Rue aux Fers in Paris, Ecke Rue de la Lingerie, wo sich die Dufte von den Hallen, vom Cimetiere des Innocents und von den uberfullten Huusern trafen. uber diese grauenvolle Basis, die an und fur sich eher kadaverhaft als menschenuhnlich roch, legte Grenouille nun eine Schicht von ulig-frischen Duften: Pfefferminz, Lavendel, Terpentin, Limone, Eukalyptus, die er durch ein Bouquet von feinen Blutenulen wie Geranium, Rose, Orangenblute und Jasmin zugleich zugelte und angenehm kaschierte. Nach weiterer Verdunnung mit Alkohol und etwas Essig war von dem Fundament, auf dem die ganze Mischung ruhte, nichts Ekelhaftes mehr zu riechen. Der latente Gestank hatte sich durch die frischen Ingredienzen bis ins Unmerkliche verloren, das Ekelhafte war vom Duft der Blumen geschunt, ja beinahe interessant geworden, und, sonderbar, von Verwesung war nichts mehr zu riechen, nicht das geringste mehr. Es schien im Gegenteil ein heftiger beschwingter Duft von Leben von dem Parfum auszugehen. Grenouille fullte es auf zwei Flakons, die er verstupselte und zu sich steckte. Dann wusch er die Flaschen, Murser, Trichter und Luffel sorgfultig mit Wasser, rieb sie mit Bittermandelul ab, um alle geruchlichen Spuren zu verwischen, und nahm eine zweite Mischflasche. In ihr komponierte er rasch ein anderes Parfum, eine Art Kopie des ersten, das ebenfalls aus frischen und aus blumigen Elementen bestand, bei dem jedoch die Basis nichts mehr von dem Hexensud enthielt, sondern ganz konventionell etwas Moschus, Amber, ein klein wenig Zibet und ul von Zedernholz. Fur sich genommen roch es vullig anders als das erste flacher, unbescholtener, unvirulenter - denn es fehlte ihm die Komponente des imitierten Menschendufts. Doch wenn ein gewuhnlicher Mensch es applizierte und es sich mit seinem eigenen Geruch vermuhlte, so wurde es von dem, das Grenouille ausschließlich fur sich geschaffen hatte, nicht mehr zu unterscheiden sein. Nachdem er auch das zweite Parfum auf Flakons gefullt hatte, zog er sich nackt aus und besprengte seine Kleider mit jenem ersten. Dann betupfte er sich selbst damit unter den Achseln, zwischen den Zehen, am Geschlecht, auf der Brust, an Hals, Ohren und Haaren, zog sich wieder an und verließ die Werkstatt. 32 Als er die Straße betrat, bekam er plutzlich Angst, denn er wusste, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen menschlichen Geruch verbreitete. Er selbst aber fand, dass er stinke, ganz widerwurtig stinke. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass andere Menschen seinen Duft nicht ebenfalls als stinkend empfunden, und wagte es nicht, direkt in die Schenke zu gehen, wo Runel und der Haushofmeister des Marquis auf ihn warteten. Es schien ihm weniger riskant, die neue Aura erst in anonymer Umgebung zu erproben. Durch die engsten und dunkelsten Gassen schlich er zum Fluss hinunter, wo die Gerber und die Stoffurber ihre Ateliers besaßen und ihr stinkendes Geschuft betrieben. Wenn ihm jemand begegnete, oder wenn er an einem Hauseingang voruberkam, wo Kinder spielten oder alte Frauen saßen, zwang er sich, langsamer zu gehen und seinen Duft in einer großen geschlossenen Wolke um sich her zu tragen. Er war von Jugend an gewohnt, dass Menschen, die an ihm vorubergingen, keinerlei Notiz von ihm nahmen, nicht aus Verachtung - wie er einmal geglaubt hatte -, sondern weil sie nichts von seiner Existenz bemerkten. Es war kein Raum um ihn gewesen, kein Wellenschlag, den er, wie andre Leute, in der Atmosphure schlug, kein Schatten, sozusagen, den er uber das Gesicht der andern Menschen hutte werfen kunnen. Nur wenn er direkt mit jemandem zusammengestoßen war, im Gedrunge oder urplutzlich an einer Straßenecke, dann hatte es einen kurzen Augenblick der Wahrnehmung gegeben; und mit Entsetzen meistens prallte der Getroffene zuruck, starrte ihn, Grenouille, fur ein paar Sekunden an, als sehe er ein Wesen, das es eigentlich nicht geben durfte, ein Wesen, das, wiewohl unleugbar da, auf irgendeine Weise nicht prusent war - und suchte dann das Weite und hatte seiner augenblicks wieder vergessen... Jetzt aber, in den Gassen Montpelliers, spurte und sah Grenouille deutlich - und jedesmal, wenn er es wieder sah, durchrieselte ihn ein heftiges Gefuhl von Stolz -, dass er eine Wirkung auf die Menschen ausubte. Als er an einer Frau voruberging, die uber einen Brunnenrand gebeugt stand, bemerkte er, wie sie fur einen Augenblick den Kopf hob, um zu sehen, wer da sei, und sich dann, offenbar beruhigt, wieder ihrem Eimer zuwandte. Ein Mann, der mit dem Rucken zu ihm stand, drehte sich um und schaute ihm eine ganze Weile lang neugierig nach. Kinder, denen er begegnete, wichen aus - nicht ungstlich, sondern um ihm Platz zu machen; und selbst wenn sie seitlich aus den Hauseingungen gelaufen kamen und unvermittelt auf ihn stießen, erschraken sie nicht, sondern schlupften wie selbstverstundlich an ihm vorbei, als hutten sie eine Vorahnung von seiner sich nuhernden Person gehabt. Durch mehrere solche Begegnungen lernte er, die Kraft und Wirkungsart seiner neuen Aura pruziser einzuschutzen, und wurde selbstsicherer und kecker. Er ging rascher auf die Menschen zu, strich dichter an ihnen vorbei, spreizte gar einen Arm ein wenig weiter ab und streifte wie zufullig den Arm eines Passanten. Einmal rempelte er, scheinbar aus Versehen, einen Mann an, den er uberholen wollte. Er blieb stehen, entschuldigte sich, und der Mann, der noch gestern von Grenouilles plutzlicher Erscheinung wie vom Donner geruhrt gewesen wure, tat, als sei nichts geschehen, nahm die Entschuldigung an, luchelte sogar kurz und klopfte Grenouille auf die Schulter. Er verließ die Gassen und trat auf den Platz vor dem Dom Saint-Pierre. Die Glocken luuteten. Zu beiden Seiten des Portals drungten sich Menschen. Eine Trauung war eben zu Ende. Man wollte die Braut sehen. Grenouille lief hin und mischte sich unter die Menge. Er drungte, bohrte sich in sie hinein, dorthin wollte er, wo die Menschen am dichtesten standen, hautnah sollten sie um ihn sein, direkt unter die Nasen wollte er ihnen seinen eigenen Duft reiben. Und er spreizte die Arme mitten in der drangvollen Enge und spreizte die Beine und riss sich den Kragen auf, damit der Duft ungehindert von seinem Kurper abstrumen kunne... und seine Freude war grenzenlos, als er merkte, dass die andern nichts merkten, rein gar nichts, dass all diese Munner und Frauen und Kinder, die ringsum an ihn gepresst standen, sich so leicht betrugen ließen und seinen aus Katzenscheiße, Kuse und Essig zusammengepantschten Gestank als den Geruch von ihresgleichen inhalierten und ihn, Grenouille, die Kuckucksbrut in ihrer Mitte, als einen Menschen unter Menschen akzeptierten. An seinen Knien spurte er ein Kind, ein kleines Mudchen, das zwischen den Erwachsenen verkeilt stand. Er hob es hoch, in heuchlerischer Fursorge, und nahm es auf den Arm, damit es besser sehen kunne. Die Mutter duldete es nicht nur, sie dankte es ihm, und die Kleine jauchzte vor Vergnugen. So stand Grenouille wohl eine Viertelstunde im Schoß der Menge, ein fremdes Kind gegen die scheinheilige Brust gedruckt. Und wuhrend die Hochzeitsgesellschaft vorbeizog, begleitet vom druhnenden Glockengeluut und vom Jubel der Menschen, uber die ein Regen von Munzen herabprasselte, brach in Grenouille ein anderer Jubel los, ein schwarzer Jubel, ein buses Triumphgefuhl, das ihn zittern machte und berauschte wie ein Anfall von Geilheit, und er hatte Muhe, es nicht wie Gift und Galle uber all diese Menschen herspritzen zu lassen und ihnen jubelnd ins Gesicht zu schreien: dass er keine Angst vor ihnen habe; ja kaum noch sie hasse; sondern dass er sie mit ganzer Inbrunst verachte, weil sie stinkend dumm waren; weil sie sich von ihm belugen und betrugen ließen; weil sie nichts waren, und er war alles! Und wie zum Hohn presste er das Kind enger an sich, machte sich Luft und schrie mit den undern im Chor: "Hoch die Braut! Es lebe die Braut! Es lebe das herrliche Paar!" Als die Hochzeitsgesellschaft sich entfernt hatte und die Menge sich aufzulusen begann, gab er das Kind seiner Mutter zuruck und ging in die Kirche, um sich von seiner Erregung zu erholen und auszuruhen. Im Innern des Domes stand die Luft voll Weihrauch, der in kalten Schwaden aus zwei Ruucherpfannen zu beiden Seiten des Altars hervorquoll und sich wie eine erstickende Decke uber die zarteren Geruche der Menschen legte, die eben noch hier gesessen hatten. Grenouille hockte sich auf eine Bank unter dem Chor. Mit einem Mal kam eine große Zufriedenheit uber ihn. Keine trunkene, wie er sie damals im Schuße des Berges bei seinen einsamen Orgien empfunden hatte, sondern eine sehr kalte und nuchterne Zufriedenheit, wie sie das Bewusstsein der eigenen Macht gebiert. Er wusste jetzt, wozu er fuhig war. Mit geringsten Hilfsmitteln hatte er, dank seinem eigenen Genie, den Duft des Menschen nachgeschaffen und ihn auf Anhieb gleich so gut getroffen, dass selbst ein Kind sich von ihm hatte tuuschen lassen. Er wusste jetzt, dass er noch mehr vermochte. Er wusste, dass er diesen Duft verbessern konnte. Er wurde einen Duft kreieren kunnen, der nicht nur menschlich, sondern ubermenschlich war, einen Engelsduft, so unbeschreiblich gut und lebenskruftig, dass, wer ihn roch, bezaubert war und ihn, Grenouille, den Truger dieses Dufts, von ganzem Herzen lieben musste. Ja, lieben sollten sie ihn, wenn sie im Banne seines Duftes standen, nicht nur ihn als ihresgleichen akzeptieren, ihn lieben bis zum Wahnsinn, bis zur Selbstaufgabe, zittern vor Entzucken sollten sie, schreien, weinen vor Wonne, ohne zu wissen, warum, auf die Knie sollten sie sinken wie unter Gottes kaltem Weihrauch, wenn sie nur ihn, Grenouille, zu riechen bekamen! Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und uber wirkliche Menschen. Und er wusste, dass dies in seiner Macht stand. Denn die Menschen konnten die Augen zumachen vor der Gruße, vor dem Schrecklichen, vor der Schunheit und die Ohren verschließen vor Melodien oder beturenden Worten. Aber sie konnten sich nicht dem Duft entziehen. Denn der Duft war ein Bruder des Atems. Mit ihm ging er in die Menschen ein, sie konnten sich seiner nicht erwehren, wenn sie leben wollten. Und mitten in sie hinein ging der Duft, direkt ans Herz, und unterschied dort kategorisch uber Zuneigung und Verachtung, Ekel und Lust, Liebe und Hass. Wer die Geruche beherrschte, der beherrschte die Herzen der Menschen. Ganz gelust saß Grenouille auf der Bank im Dom von Saint-Pierre und luchelte. Er war nicht euphorischer Stimmung, als er den Plan fasste, Menschen zu beherrschen. Es war kein wahnsinniges Flackern in seinen Augen, und keine verruckte Grimasse uberzog sein Gesicht. Er war nicht von Sinnen. So klaren und heiteren Geistes war er, dass er sich fragte, warum uberhaupt er es wollte. Und er sagte sich, dass er es wolle, weil er durch und durch buse sei. Und er luchelte dabei und war sehr zufrieden. Er sah ganz unschuldig aus, wie irgendein Mensch, der glucklich ist. Eine Weile lang blieb er so sitzen, in anduchtiger Ruhe, und atmete die weihrauchsatte Luft in tiefen Zugen ein. Und wieder ging ein heiteres Schmunzeln uber sein Gesicht: Wie miserabel dieser Gott doch roch! Wie lucherlich schlecht doch der Duft gemacht war, den dieser Gott von sich verstrumen ließ. Nicht einmal echter Weihrauchduft war es, was aus den Pfannen qualmte. Schlechtes Surrogat war es, verfulscht mit Lindenholz und Zimtstaub und Salpeter. Gott stank. Gott war ein kleiner armer Stinker. Er war betrogen, dieser Gott, oder er war selbst ein Betruger, nicht anders als Grenouille - nur ein um so viel schlechterer! 33 Der Marquis de la Taillade-Espinasse war entzuckt von dem neuen Parfum. Es sei, so sagte er, selbst fur ihn als Entdecker des letalen Fluidums, verbluffend zu sehen, welch eklatanten Einfluss ein so nebensuchliches und fluchtiges Ding wie ein Parfum, je nachdem, ob es aus erdverbundnen oder erdentruckten Provenienzen stamme, auf den allgemeinen Zustand eines Individuums nehme. Grenouille, der noch vor wenigen Stunden blass und einer Ohnmacht nahe hier gelegen, sehe so frisch und bluhend aus wie nur irgendein gesunder Mensch seines Alters, ja, man kunne sagen, dass er - mit allen Einschrunkungen, die bei einem Manne seines Standes und seiner geringen Bildung angebracht seien - fast so etwas wie Persunlichkeit gewonnen habe. Auf jeden Fall werde er, Taillade-Espinasse, im Kapitel uber vitale Diutetik seiner demnuchst erscheinenden Abhandlung zur fluidalen Letaltheorie von dem Vorfall Mitteilung machen. Zunuchst wolle er sich nun aber selbst mit dem neuen Duft parfumieren. Grenouille hundigte ihm die beiden Flakons mit dem konventionellen Blutenduft aus, und der Marquis besprengte sich damit. Er zeigte sich hochbefriedigt von der Wirkung. Ein wenig sei ihm, so gestand er, nachdem er jahrelang von dem entsetzlichen Veilchenduft wie von Blei belastet gewesen, als wuchsen ihm blutene Flugel; und wenn er nicht irre, so lasse der grußliche Schmerz seines Knies ebenso nach wie das Sausen der Ohren; alles in allem fuhle er sich beschwingt, ionisiert und um etliche Jahre verjungt. Er ging auf Grenouille zu, umarmte ihn und nannte ihn "mein fluidaler Bruder", hinzufugend, es handle sich dabei keineswegs um eine gesellschaftliche, sondern um eine rein spirituelle Anrede in conspectu universalitatis fluidi letalis, vor welchem - und vor welchem allein! - alle Menschen gleich seien; auch plane er - und dies sagte er, indem er sich von Grenouille luste, und zwar sehr freundschaftlich, nicht im geringsten angewidert, fast wie von seinesgleichen luste - , in Bulde eine internationale suprastundische Loge zu grunden, deren Ziel es sei, das fluidum letale vollstundig zu uberwinden, um es in kurzester Zeit durch reines fluidum vitale zu ersetzen, und als deren ersten Proselyten Grenouille zu gewinnen er schon jetzt verspreche. Dann ließ er sich die Rezeptur fur das Blutenparfum auf einen Zettel schreiben, steckte diesen zu sich und schenkte Grenouille funfzig Louisdor. Punktlich eine Woche nach seinem ersten Vortrag prusentierte der Marquis de la Taillade-Espinasse seinen Schutzling abermals in der Aula der Universitut. Der Andrang war ungeheuer. Ganz Montpellier war gekommen, nicht allein das wissenschaftliche, auch und gerade das gesellschaftliche Montpellier, darunter viele Damen, die den sagenhaften Huhlenmenschen sehen wollten. Und obwohl die Gegner Taillades, hauptsuchlich Vertreter des >Freundeskreises der botanischen Universitutsgurten< und Mitglieder des >Vereins zur Furderung der Agrikultur<, all ihre Anhunger mobilisiert hatten, wurde die Veranstaltung ein fulminanter Erfolg. Um dem Publikum Grenouilles Zustand vor Wochenfrist ins Geduchtnis zu rufen, ließ Taillade-Espinasse zunuchst Zeichnungen kursieren, die den Huhlenmenschen in seiner ganzen Hußlichkeit und Verkommenheit zeigten. ann ließ er den neuen Grenouille hereinfuhren, im schunen samtblauen Rock und seidenen Hemd, geschminkt, gepudert und frisiert; und schon die Art, wie er ging, aufrecht numlich und mit zierlichen Schritten und elegantem Huftschwung, wie er ganz ohne fremde Hilfe das Podest erklomm, sich tief verbeugte, bald hier-, bald dorthin luchelnd nickte, ließ alle Zweifler und Kritiker verstummen. Selbst die Freunde der botanischen Universitutsgurten schwiegen betreten. Zu eklatant war die Verunderung, zu uberwultigend das Wunder, das hier offenbar geschehen war: Wo vor Wochenfrist ein geschundenes, verrohtes Tier gekauert hatte, da stand jetzt wahrhaftig ein zivilisierter, wohlgestalter Mensch. Es breitete sich eine fast anduchtige Stimmung im Saale aus, und als Taillade-Espinasse zum Vortrag anhob, herrschte vollkommene Stille. Er entwickelte abermals seine sattsam bekannte Theorie des letalen Erdfluidums, erluuterte dann, mit welchen mechanischen und diutetischen Mitteln er es aus dem Kurper des Demonstranten vertrieben und durch Vitalfluidum ersetzt habe, und forderte schließlich alle Anwesenden auf, Freunde wie Gegner, angesichts solch uberwultigender Evidenz den Widerstand gegen die neue Lehre aufzugeben und gemeinsam mit ihm, Taillade-Espinasse, das buse Fluidum zu bekumpfen und sich dem guten vitalen Fluidum zu uffnen. Hierbei breitete er die Arme aus und schlug die Augen gen Himmel, und viele der gelehrten Munner taten es ihm gleich, und die Frauen weinten. Grenouille stand auf dem Podest und hurte nicht zu. Er beobachtete mit grußter Genugtuung die Wirkung eines ganz anderen Fluidums, eines viel realeren: seines eignen. Er hatte sich, den ruumlichen Erfordernissen der Aula entsprechend, sehr stark parfumiert, und die Aura seines Duftes strahlte, kaum dass er das Podium bestiegen hatte, muchtig von ihm ab. Er sah sie - in der Tat sah er sie sogar mit Augen! - die zuvorderst sitzenden Zuschauer erfassen, sich weiter nach hinten fortpflanzen und endlich die letzten Reihen und die Galerie erreichen. Und wen sie erfasste - das Herz im Leibe sprang Grenouille vor Freude -, den verunderte sie sichtbar. Im Banne seines Duftes, aber ohne sich dessen bewusst zu sein, wechselten die Menschen ihren Gesichtsausdruck, ihr Gehabe, ihr Gefuhl. Wer ihn zunuchst nur mit bassem Erstaunen beglotzt hatte, der sah ihn nun mit milderem Auge an; wer zuruckgelehnt in seinem Stuhl verharrt hatte, mit kritisch gefurchter Stirn und bedeutend herabgezogenen Mundwinkeln, der lehnte sich jetzt lockerer nach vorn und bekam ein kindlich gelustes Gesicht; und selbst in den Gesichtern der ungstlichen, der Verschreckten, der Allersensibelsten, die seinen ehemaligen Anblick nur mit Entsetzen und seinen jetzigen immerhin noch mit gehuriger Skepsis ertragen konnten, zeigten sich Anfluge von Freundlichkeit, ja Sympathie, als sein Duft sie erreichte. Am Ende des Vertrags erhob sich die ganze Versammlung und brach in frenetischen Jubel aus. "Es lebe das vitale Fluidum! Es lebe Taillade-Espinasse! Hoch die fluidale Theorie! Nieder mit der orthodoxen Medizin!" - so schrie das gelehrte Volk von Montpellier, der bedeutendsten Universitutsstadt des franzusischen Sudens, und der Marquis de la Taillade-Espinasse hatte die grußte Stunde seines Lebens. Grenouille aber, der nun von seinem Podest herunterstieg und sich unter die Menge mischte, wusste, dass die Ovationen eigentlich ihm galten, ihm Jean-Baptiste Grenouille allein, auch wenn keiner der Jubler im Saal davon etwas ahnte. 34 Er blieb noch einige Wochen in Montpellier. Er hatte eine ziemliche Beruhmtheit erlangt und wurde in die Salons eingeladen, wo man ihn nach seinem Huhlenleben und nach seiner Heilung durch den Marquis befragte. Immer wieder musste er die Geschichte von den Ruubern erzuhlen, die ihn verschleppt hatten, und von dem Korb, der herabgelassen wurde, und von der Leiter. Und jedesmal schmuckte er sie pruchtiger aus und erfand neue Details hinzu. So bekam er wieder eine gewisse ubung im Sprechen - freilich eine sehr beschrunkte, denn mit der Sprache hatte er es zeitlebens nicht - und, was ihm wichtiger war, einen routinierteren Umgang mit der Luge. Im Grunde, so stellte er fest, konnte er den Leuten erzuhlen, was er wollte. Wenn sie einmal Vertrauen gefasst hatten - und sie fassten Vertrauen zu ihm mit dem ersten Atemzug, den sie von seinem kunstlichen Geruch inhalierten -, dann glaubten sie alles. Er bekam des weiteren eine gewisse Sicherheit im gesellschaftlichen Umgang, wie er sie niemals besessen hatte. Sie druckte sich sogar kurperlich aus. Es war, als sei er gewachsen. Sein Buckel schien zu schwinden. Er ging beinahe vollkommen aufrecht. Und wenn er angesprochen wurde, so zuckte er nicht mehr zusammen, sondern blieb aufrecht stehen und hielt den auf ihn gerichteten Blicken stand. Freilich, es wurde in dieser Zeit kein Mann von Welt aus ihm, kein Salonluwe oder souveruner Gesellschafter. Aber es fiel doch zusehends das Verdruckte, Linkische von ihm ab und machte einer Haltung Platz, die als naturliche Bescheidenheit oder allenfalls als eine leichte angeborene Schuchternheit gedeutet wurde und die auf manchen Herrn und manche Dame einen anruhrenden Eindruck machte - man hatte damals in mondunen Kreisen ein Faible furs Naturliche und fur eine Art ungehobelten Charmes. Anfang Murz packte er seine Sachen und zog davon, heimlich, eines Tags in aller Fruh, kaum dass die Tore geuffnet waren, bekleidet mit einem unscheinbaren braunen Rock, den er am Vortag auf dem Altkleidermarkt erworben hatte, und einem schubigen Hut, der sein Gesicht halb verdeckte. Niemand erkannte ihn, niemand sah oder bemerkte ihn, denn er hatte an diesem Tag mit Vorbedacht auf sein Parfum verzichtet. Und als der Marquis gegen Mittag Nachforschungen anstellen ließ, schworen die Wachen Stein und Bein, sie hutten zwar alle muglichen Leute die Stadt verlassen gesehen, nicht aber jenen bekannten Huhlenmenschen, der ihnen ganz bestimmt aufgefallen wure. Der Marquis ließ daraufhin verbreiten, Grenouille habe Montpellier mit seinem Einverstundnis verlassen, um in Familienangelegenheiten nach Paris zu reisen. Insgeheim urgerte er sich allerdings furchterlich, denn er hatte vorgehabt, mit Grenouille eine Tournee durch das ganze Kunigreich zu unternehmen, um Anhunger fur seine Fluidaltheorie zu werben. Nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder, denn sein Ruhm verbreitete sich auch ohne Tournee, fast ohne sein Zutun. Es erschienen lange Artikel uber das fluidum letale Taillade im >Journal des Suavans< und sogar im >Courier de l'Europe<, und von weit her kamen letalverseuchte Patienten, um sich von ihm heilen zu lassen. Im Sommer 1764 grundete er die erste >Loge des vitalen Fluidums<, die in Montpellier 120 Mitglieder zuhlte und Zweigstellen in Marseille und Lyon einrichtete. Dann beschloss er, den Sprung nach Paris zu wagen, um von dort die ganze zivilisierte Welt fur seine Lehre zu erobern, wollte vorher aber noch zur propagandistischen Unterstutzung seines Feldzugs eine fluidale Großtat vollbringen, welche die Heilung des Huhlenmenschen sowie alle anderen Experimente in den Schatten stellte, und ließ sich Anfang Dezember von einer Gruppe unerschrockener Adepten zu einer Expedition auf den Pic du Canigou begleiten, der auf demselben Meridian wie Paris lag und fur den huchsten Berg der Pyrenuen galt. Der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Mann wollte sich auf den 2800 Meter hohen Gipfel tragen lassen und sich dort drei Wochen lang der schiersten, frischesten Vitalluft aussetzen, um, wie er verkundigte, punktlich am Heiligen Abend als kregler Jungling von zwanzig Jahren wieder herabzusteigen. Die Adepten gaben schon kurz hinter Vernet, der letzten menschlichen Siedlung am Fuße des furchterlichen Gebirges, auf. Den Marquis jedoch focht nichts an. In der Eiseskulte seine Kleider von sich werfend und laute Jauchzer ausstoßend, begann er den Aufstieg allein. Das letzte, was von ihm gesehen wurde, war seine Silhouette, die mit ekstatisch zum Himmel erhobenen Hunden und singend im Schneesturm verschwand. Am Heiligen Abend warteten die Junger vergebens auf die Wiederkunft des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er kam weder als Greis noch als Jungling. Auch im Fruhsommer des nuchsten Jahres, als sich die Wagemutigsten auf die Suche machten und den noch immer verschneiten Gipfel des Pic du Canigou erklommen, fand sich nichts mehr von ihm, kein Kleidungsstuck, kein Kurperteil, kein Knuchelchen. Seiner Lehre tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ging bald die Sage, er habe sich auf der Spitze des Berges mit dem ewigen Vitalfluidum vermuhlt, sich in es und es in sich aufgelust und schwebe fortan unsichtbar, aber in ewiger Jugend uber den Gipfeln der Pyrenuen, und wer hinaufsteige zu ihm, der werde seiner teilhaftig und bliebe ein Jahr lang von Krankheit und vom Prozess des Alterns verschont. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurde Taillades Fluidaltheorie an manchem medizinischen Lehrstuhl verfochten und in vielen okkulten Vereinen therapeutisch angewendet. Und noch heute gibt es zu beiden Seiten der Pyrenuen, namentlich in Perpignan und Figueras, geheime Tailladistenlogen, die sich einmal im Jahr treffen, um den Pic du Camgou zu besteigen. Dort zunden sie ein großes Feuer an, vorgeblich aus Anlass der Sonnenwende und zu Ehren des heiligen Johannes - in Wirklichkeit aber, um ihrem Meister Taillade-Espinasse und seinem großen Fluidum zu huldigen und um das ewige Leben zu erlangen. DRITTER TEIL 35 Wuhrend Grenouille fur die erste Etappe seiner Reise durch Frankreich sieben Jahre gebraucht hatte, brachte er die zweite in weniger als sieben Tagen hinter sich. Er mied die belebten Straßen und die Studte nicht mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte Selbstvertrauen, und er hatte es eilig. Schon am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt sudwestlich von Aigues-Mortes, wo er sich auf einen Lastensegler nach Marseille einschiffte. In Marseille verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff, das ihn weiter die Kuste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage sputer war er in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu Fuß. Er folgte einem Pfad, der landeinwurts nach Norden fuhrte, die Hugel hinauf. Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein mehrere Meilen umfassendes Becken aus, eine Art riesiger landschaftlicher Schussel, deren Umgrenzung ringsum aus sanft ansteigenden Hugeln und schroffen Bergketten bestand und deren weite Mulde mit frischbestellten Feldern, Gurten und Olivenhainen uberzogen war. Es lag ein vullig eignes, sonderbar intimes Klima uber dieser Schussel. Obwohl das Meer so nah war, dass man es von den Hugelkuppen aus sehen konnte, herrschte hier nichts Maritimes, nichts Salzig-Sandiges, nichts Offenes, sondern stille Abgeschiedenheit, ganz so, als wure man viele Tagesreisen von der Kuste entfernt. Und obwohl nach Norden zu die großen Gebirge standen, auf denen noch der Schnee lag und noch lange liegen wurde, war hier nichts Rauhes oder Karges zu spuren und kein kalter Wind. Der Fruhling war weiter vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder Dunst deckte die Felder wie eine gluserne Glocke. Aprikosen- und Mandelbuume bluhten, und die warme Luft durchzog der Duft von Narzissen. Am anderen Ende der großen Schussel, vielleicht zwei Meilen entfernt, lag, oder besser gesagt, klebte an den ansteigenden Bergen eine Stadt. Sie machte aus der Entfernung gesehen keinen besonders pompusen Eindruck. Da war kein muchtiger Dom, der die Huuser uberragte, bloß ein kleiner Stumpen von Kirchturm, keine dominierende Feste, kein auffallend pruchtiges Gebuude. Die Mauern schienen alles andere als trutzig, da und dort quollen die Huuser uber ihre Begrenzung hinaus, vor allem nach unten zur Ebene hin, und verliehen dem Weichbild ein etwas zerfleddertes Aussehen. Es war, als sei dieser Ort schon zu oft erobert und wieder entsetzt worden, als sei er es mude, kunftigen Eindringlingen noch ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen - aber nicht aus Schwuche, sondern aus Lussigkeit oder sogar aus einem Gefuhl von Sturke. Er sah aus, als habe er es nicht nutig zu prunken. Er beherrschte die große duftende Schussel zu seinen Fußen, und das schien ihm zu genugen. Dieser zugleich unansehnliche und selbstbewusste Ort war die Stadt Grasse, seit einigen Jahrzehnten unumstrittene Produktions- und Handelsmetropole fur Duftstoffe, Parfumeriewaren, Seifen und ule. Giuseppe Baldini hatte ihren Namen immer mit schwurmerischer Verzuckung ausgesprochen. Ein Rom der Dufte sei die Stadt, das gelobte Land der Parfumeure, und wer nicht seine Sporen hier verdient habe, der trage nicht zu Recht den Namen Parfumeur. Grenouille sah mit sehr nuchternem Blick auf die Stadt Grasse. Er suchte kein gelobtes Land der Parfumerie, und ihm ging das Herz nicht auf im Angesicht des Nestes, das da druben an den Hungen klebte. Er war gekommen, weil er wusste, dass es dort einige Techniken der Duftgewinnung besser zu lernen gab als anderswo. Und diese wollte er sich aneignen, denn er brauchte sie fur seine Zwecke. Er zog den Flakon mit seinem Parfum aus der Tasche, betupfte sich sparsam und machte sich auf den Weg. Anderthalb Stunden sputer, gegen Mittag, war er in Grasse. Er aß in einem Gasthof am oberen Ende der Stadt, an der Place aux Aires. Der Platz war der Lunge nach von einem Bach durchschnitten, an dem die Gerber ihre Huute wuschen, um sie anschließend zum Trocknen auszubreiten. Der Geruch war so stechend, dass manchem der Guste der Geschmack am Essen verging. Ihm, Grenouille, nicht. Ihm war der Geruch vertraut, ihm gab er ein Gefuhl von Sicherheit. In allen Studten suchte er immer zuerst die Viertel der Gerber auf. Es war ihm dann, als sei er, aus der Sphure des Gestankes kommend und von dort aus die anderen Regionen des Orts erkundend, kein Fremdling mehr. Den ganzen Nachmittag uber durchstreifte er die Stadt. Sie war unglaublich schmutzig, trotz oder vielmehr gerade wegen des vielen Wassers, das aus Dutzenden von Quellen und Brunnen sprudelte, in ungeregelten Buchen und Rinnsalen stadtabwurts gurgelte und die Gassen unterminierte oder mit Schlamm uberschwemmte. Die Huuser standen in manchen Vierteln so dicht, dass fur die Durchlusse und Treppchen nur noch eine Elle weit Platz blieb und sich die im Schlamm watenden Passanten aneinander vorbeipressen mussten. Und selbst auf den Plutzen und den wenigen breiteren Straßen konnten die Fuhrwerke einander kaum ausweichen. Dennoch, bei allem Schmutz, bei aller Schmuddligkeit und Enge, barst die Stadt vor gewerblicher Betriebsamkeit. Nicht weniger als sieben Seifenkochereien machte Grenouille bei seinem Rundgang aus, ein Dutzend Parfumerie- und Handschuhmachermeister, unzuhlige kleinere Destillen, Pomadeateliers und Spezereien und schließlich einige sieben Hundler, die Dufte en gros vertrieben. Dies waren nun allerdings Kaufleute, die uber wahre Duftstoffgroßkontore verfugten. Anzusehen war es ihren Huusern oftmals kaum. Die zur Straße hin gelegenen Fassaden sahen burgerlich bescheiden aus. Doch was dahinter lagerte, auf Speichern und in riesenhaften Kellern, an Fussern von ul, an Stapeln von feinster Lavendelseife, an Ballons von Blutenwussern, Weinen, Alkoholen, an Ballen von Duftleder, an Sucken und Truhen und Kisten, vollgestopft mit Gewurzen... - Grenouille roch es in allen Einzelheiten durch die dicksten Mauern -, das waren Reichtumer, wie sie Fursten nicht besaßen. Und wenn er schurfer hinroch, durch die zur Straße gelegenen prosaischen Geschufts- und Lagerruume hindurch, dann entdeckte er, dass auf der Ruckseite dieser kleinkarierten Burgerhuuser sich Gebuulichkeiten der luxuriusesten Art befanden. Um kleine, aber reizende Gurten, in denen Oleander und Palmen gediehen und zierliche von Rabatten umfasste Springbrunnen gur gelten, dehnten sich, meist U-furmig nach Suden gebaut, die eigentlichen Flugel der Anwesen aus: sonnendurchflutete, seidentapetenbespannte Schlafgemucher in den Obergeschossen, pruchtige mit exotischem Holz getufelte Salons zu ebener Erde und Speisesule, bisweilen terrassenhaft ins Freie vorgebaut, in denen tatsuchlich, wie Baldini erzuhlt hatte, mit goldenem Besteck von porzellanenen Tellern gegessen wurde. Die Herren, die hinter diesen bescheidenen Kulissen wohnten, rochen nach Gold und nach Macht, nach schwerem gesichertem Reichtum, und sie rochen sturker danach als alles, was Grenouille bisher auf seiner Reise durch die Provinz in dieser Hinsicht gerochen hatte. Vor einem der camouflierten Palazzi blieb er lungere Zeit stehen. Das Haus befand sich am Anfang der Rue Droite, einer Hauptstraße, die die Stadt in ihrer ganzen Lunge von Westen nach Osten durchzog. Es war nicht außergewuhnlich anzusehen, wohl etwas breiter und behubiger an der Front als die Nachbargebuude, aber durchaus nicht imposant. Vor der Toreinfahrt stand ein Wagen mit Fussern, die uber eine Pritsche entladen wurden. Ein zweites Fuhrwerk wartete. Ein Mann ging mit Papieren ins Kontor, kam mit einem anderen Mann wieder heraus, beide verschwanden in der Toreinfahrt. Grenouille stand an der gegenuberliegenden Straßenseite und sah dem Treiben zu. Was da vor sich ging, interessierte ihn nicht. Trotzdem blieb er stehen. Irgendetwas hielt ihn fest. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geruche, die ihm von dem Gebuude gegenuber zuflogen. Da waren die Geruche der Fusser, Essig und Wein, dann die hundertfultigen schweren Geruche des Lagers, dann die Geruche des Reichtums, die aus den Mauern transpirierten wie feiner goldener Schweiß, und schließlich die Geruche eines Gartens, der auf der anderen Seite des Hauses liegen musste. Es war nicht leicht, diese zarteren Dufte des Gartens aufzufangen, denn sie zogen nur in dunnen Streifen uber den Giebel des Hauses hinweg herab auf die Straße. Grenouille machte Magnolien aus, Hyazinthen, Seidelbast und Rhododendron... - aber da schien noch etwas anderes zu sein, etwas murderisch Gutes, was in diesem Garten duftete, ein Geruch so exquisit, wie er ihn in seinem Leben noch nicht - oder doch nur ein einziges Mal - in die Nase bekommen hatte... Er musste nuher an diesen Duft heran. Er uberlegte, ob er einfach durch die Toreinfahrt in das Anwesen eindringen sollte. Aber da waren unterdessen so viele Leute mit dem Abladen und dem Kontrollieren der Fusser beschuftigt, dass er sicher aufgefallen wure. Er entschloss sich, die Straße zuruckzugehen, um eine Gasse oder einen Durchlaß zu finden, der vielleicht an der Querseite des Hauses entlangfuhrte. Nach wenigen Metern hatte er das Stadttor am Beginn der Rue Droite erreicht. Er durchschritt es, hielt sich scharf links und folgte dem Verlauf der Stadtmauer bergabwurts. Nicht weit, und er roch den Garten, erst schwach, noch mit der Luft der Felder vermischt, dann immer sturker. Schließlich wusste er, dass er ihm ganz nahe war. Der Garten grenzte an die Stadtmauer. Er war direkt neben ihm. Wenn er ein wenig zurucktrat, konnte er uber die Mauer hinweg die obersten Zweige der Orangenbuume sehen. Wieder schloss er die Augen. Die Dufte des Gartens fielen uber ihn her, deutlich und klar konturiert wie die farbigen Bunder eines Regenbogens. Und der eine, der kostbare, der, auf den es ihm ankam, war darunter. Grenouille wurde es heiß vor Wonne und kalt vor Schrecken. Das Blut stieg ihm zu Kopfe wie einem ertappten Buben, und es wich zuruck in die Mitte des Kurpers, und es stieg wieder und wich wieder, und er konnte nichts dagegen tun. Zu plutzlich war diese Geruchsattacke gekommen. Fur einen Augenblick, fur einen Atemzug lang, fur die Ewigkeit schien ihm, als sei die Zeit verdoppelt oder radikal verschwunden, denn er wusste nicht mehr, war jetzt jetzt und war hier hier, oder war nicht vielmehr jetzt damals und hier dort, numlich Rue des Marais in Paris, September 1753: Der Duft, der aus dem Garten heruberwehte, war der Duft des rothaarigen Mudchens, das er damals ermordet hatte. Dass er diesen Duft in der Welt wiedergefunden hatte, trieb ihm Trunen der Gluckseligkeit in die Augen - und dass es nicht wahr sein konnte, ließ ihn zu Tode erschrecken. Ihm schwindelte, und er taumelte ein wenig und musste sich gegen die Mauer stutzen und langsam an ihr herab in die Hocke gleiten lassen. Sich dort versammelnd und seinen Geist bezuhmend, begann er, den fatalen Duft in kurzeren, weniger riskanten Atemzugen einzuziehen. Und er stellte fest, dass der Duft hinter der Mauer dem Duft des rothaarigen Mudchens zwar extrem uhnlich, aber nicht vollkommen gleich war. Freilich stammte er ebenfalls von einem rothaarigen Mudchen, daran war kein Zweifel muglich. Grenouille sah dieses Mudchen in seiner olfaktorischen Vorstellung wie auf einem Bilde vor sich: Es saß nicht still, sondern es sprang hin und her, es erhitzte sich und kuhlte sich wieder ab, offenbar spielte es ein Spiel, bei dem man sich rasch bewegen und rasch wieder stillstehen musste - mit einer zweiten Person ubrigens von vullig unsignifikantem Geruch. Es hatte blendendweiße Haut. Es hatte grunliche Augen. Es hatte Sommersprossen im Gesicht, am Hals und an den Brusten... das heisst - Grenouille stockte fur einen Moment der Atem, dann schnupperte er heftiger und versuchte, die Geruchserinnerung an das Mudchen aus der Rue des Marais zuruckzudrungen -... das heißt, dieses Mudchen hatte noch gar keine Bruste im wahren Sinne des Wortes! Es hatte kaum beginnende Ansutze von Brusten. Es hatte unendlich zart und gering duftende, von Sommersprossen umsprenkelte, sich vielleicht erst seit wenigen Tagen, vielleicht erst seit wenigen Stunden,... seit diesem Augenblick eigentlich erst, sich zu dehnen beginnende Huubchen von Brustchen. Mit einem Wort: Das Mudchen war noch ein Kind. Aber was fur ein Kind! Grenouille stand der Schweiß auf der Stirn. Er wusste, dass Kinder nicht sonderlich rochen, ebensowenig wie die grun aufschießenden Blumen vor ihrer Blute. Diese aber, diese fast noch geschlossene Blute hinter der Mauer, die gerade eben erst, und noch von niemandem als ihm, Grenouille, bemerkt, die ersten duftenden Spitzen hervortrieb, duftete schon jetzt so haarstruubend himmlisch, dass, wenn sie sich erst zu ganzer Pracht entfaltet haben wurde, sie ein Parfum verstrumen wurde, wie es die Welt noch nicht gerochen hatte. Sie riecht schon jetzt besser, dachte Grenouille, als damals das Mudchen aus der Rue des Marais - nicht so kruftig, nicht so voluminus, aber feiner, facettenreicher und zugleich naturlicher. In ein bis zwei Jahren aber wurde dieser Geruch gereift sein und eine Wucht bekommen, der sich kein Mensch, weder Mann noch Frau, wurde entziehen kunnen. Und die Leute wurden uberwultigt sein, entwaffnet, hilflos vor dem Zauber dieses Mudchens, und sie wurden nicht wissen, warum. Und weil sie dumm sind und ihre Nasen nur zum Schnaufen gebrauchen kunnen, alles und jedes aber mit ihren Augen zu erkennen glauben, wurden sie sagen, es sei, weil dieses Mudchen Schunheit besitze und Grazie und Anmut. Sie wurden in ihrer Beschrunktheit seine ebenmußigen Zuge ruhmen, die schlanke Figur, den tadellosen Busen. Und ihre Augen, wurden sie sagen, seien wie Smaragde und die Zuhne wie Perlen und ihre Glieder elfenbeinglatt - und was der idiotischen Vergleiche noch mehr sind. Und sie wurden sie zur Jasminkunigin kuren, und sie wurde gemalt werden von bluden Portrutisten, ihr Bild wurde begafft werden, man wurde sagen, sie sei die schunste Frau Frankreichs. Und Junglinge werden nuchtelang zu Mandolinenklungen heulend unter ihrem Fenster sitzen... dicke reiche alte Munner auf den Knien rutschend ihren Vater um ihre Hand anbetteln... und Frauen jeden Alters werden bei ihrem Anblick seufzen und im Schlaf davon truumen, nur einen Tag lang so verfuhrerisch auszusehen wie sie. Und sie werden alle nicht wissen, dass es nicht ihr Aussehen ist, dem sie in Wahrheit verfallen sind, nicht ihre angeblich makellose uußere Schunheit, sondern einzig ihr unvergleichlicher, herrlicher Duft! Nur er wurde es wissen, er Grenouille, er allein. Er wusste es ja jetzt schon. Ach! Er wollte diesen Duft haben! Nicht auf so vergebliche, tuppische Weise haben wie damals den Duft des Mudchens aus der Rue des Marais. Den hatte er ja nur in sich hineingesoffen und damit zersturt. Nein, den Duft des Mudchens hinter der Mauer wollte er sich wahrhaftig aneignen; ihn wie eine Haut von ihr abziehen und zu seinem eigenen Duft machen. Wie das geschehen sollte, wusste er noch nicht. Aber er hatte ja zwei Jahre Zeit, es zu lernen. Es konnte im Grunde nicht schwieriger sein, als den Duft einer seltenen Blume zu rauben. Er stand auf. Anduchtig fast, als verließe er etwas Heiliges oder eine Schluferin, entfernte er sich, geduckt, leise, dass niemand ihn sehe, niemand ihn hure, niemand auf seinen kustlichen Fund aufmerksam werde. So floh er an der Mauer entlang bis ans entgegengesetzte Ende der Stadt, wo sich das Mudchenparfum endlich verlor und er an der Porte des Feneants wieder Einlass fand. Im Schatten der Huuser blieb er stehen. Der stinkende Dunst der Gassen gab ihm Sicherheit und half ihm, die Leidenschaft, die ihn uberfallen hatte, zu bundigen. Nach einer Viertelstunde war er wieder vollkommen ruhig geworden. Furs erste, dachte er, wurde er nicht mehr in die Nuhe des Gartens hinter der Mauer gehen. Es war nicht nutig. Es erregte ihn zu sehr. Die Blume dort gedieh ohne sein Zutun, und auf welche Weise sie gedeihen wurde, wusste er ohnehin. Er durfte sich nicht zur Unzeit an ihrem Duft berauschen. Er musste sich in Arbeit sturzen. Er musste seine Kenntnisse erweitern und seine handwerklichen Fuhigkeiten vervollkommnen, um fur die Zeit der Ernte gerustet zu sein. Er hatte noch zwei Jahre Zeit. 36 Nicht weit von der Porte des Feneants, in der Rue de la Louve, entdeckte Grenouille ein kleines Parfumeuratelier und fragte nach Arbeit. Es erwies sich, dass der Patron, Maitre Parfumeur Honore Arnulfi, im vergangenen Winter verstorben war und dass seine Witwe, eine lebhafte schwarzhaarige Frau von vielleicht dreißig Jahren, das Geschuft allein mit Hilfe eines Gesellen fuhrte. Madame Arnulfi, nachdem sie lange uber die schlechten Zeiten und uber ihre prekure wirtschaftliche Lage geklagt hatte, erklurte, dass sie sich zwar eigentlich keinen zweiten Gesellen leisten kunne, andrerseits aber wegen der vielen anfallenden Arbeit dringend einen brauche; dass sie außerdem einen zweiten Gesellen hier bei sich im Hause gar nicht wurde beherbergen kunnen, andrerseits aber uber eine kleine Kabane auf ihrem Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster - keine zehn Minuten von hier - verfuge, in welcher ein anspruchsloser junger Mensch zur Not wurde nuchtigen kunnen; dass sie ferner zwar als ehrliche Meisterin um ihre Verantwortung fur das leibliche Wohl ihrer Gesellen wisse, sich aber andrerseits ganz außerstande sehe, zwei warme Mahlzeiten am Tag zu gewuhren - mit einem Wort: Madame Arnulfi war - was Grenouille freilich schon lungst gerochen hatte - eine Frau von gesundem Wohlstand und gesundem Geschuftssinn. Und da es ihm selber auf Geld nicht ankam und er sich mit zwei Franc Lohn pro Woche und den ubrigen durftigen Bedingungen zufrieden erklurte, wurden sie schnell einig. Der erste Geselle wurde gerufen, ein riesenhafter Mann namens Druot, von dem Grenouille sofort erriet, dass er gewohnt war, Madames Bett zu teilen, und ohne dessen Konsultation sie offenbar gewisse Entscheidungen nicht traf. Er stellte sich vor Grenouille hin, der in Gegenwart dieses Hunen geradezu lucherlich windig aussah, breitbeinig, eine Wolke von Spermiengeruch verbreitend, musterte ihn, fasste ihn scharf ins Auge, als wolle er auf diese Weise irgendwelche unlauteren Absichten oder einen muglichen Nebenbuhler erkennen, grinste schließlich herablassend und gab mit einem Nicken sein Einverstundnis. Damit war alles geregelt. Grenouille erhielt einen Hundedruck, ein kaltes Abendbrot, eine Decke und den Schlussel fur die Kabane, einen fensterlosen Verschlag, der angenehm nach altem Schafmist und Heu roch und in dem er sich, so gut es ging, einrichtete. Am nuchsten Tag trat er seine Arbeit bei Madame Arnulfi an. Es war die Zeit der Narzissen. Madame Arnulfi ließ die Blumen auf eigenen kleinen Parzellen Landes ziehen, die sie unterhalb der Stadt in der großen Schussel besaß, oder sie kaufte sie von den Bauern, mit denen sie um jedes Lot erbittert feilschte. Die Bluten wurden schon in aller Fruh geliefert, kurbeweise in das Atelier geschuttet, zehntausendfach, in voluminusen, aber federleichten duftenden Haufen. Druot unterdessen verflussigte in einem großen Kessel Schweine- und Rindertalg zu einer cremigen Suppe, in die er, wuhrend Grenouille unaufhurlich mit einem besenlangen Spatel ruhren musste, scheffelweise die frischen Bluten schuttete. Wie zu Tode erschreckte Augen lagen sie fur eine Sekunde auf der Oberfluche und erbleichten in dem Moment, da der Spatel sie unterruhrte und das warme Fett sie umschloss. Und fast im selben Moment waren sie auch schon erschlafft und verwelkt, und offenbar kam der Tod so rasch uber sie, dass ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb, als ihren letzten duftenden Seufzer eben jenem Medium einzuhauchen, das sie ertrunkte; denn - Grenouille gewahrte es zu seinem unbeschreiblichen Entzucken - je mehr Bluten er in seinem Kessel unterruhrte, desto sturker duftete das Fett. Und zwar waren es nicht etwa die toten Bluten, die im Fett weiterdufteten, nein, es war das Fett selbst, das sich den Duft der Bluten angeeignet hatte. Mitunter wurde die Suppe zu dick, und sie mussten sie rasch durch große Siebe gießen, um sie von den ausgelaugten Leichen zu befreien und fur frische Blutenbereit zu machen. Dann scheffelten und ruhrten und seihten sie weiter, den ganzen Tag uber ohne Pause, denn das Geschuft duldete keine Verzugerung, bis gegen Abend der ganze Blutenhaufen durch den Fettkessel gewandert war. Die Abfulle wurden - damit auch nichts verloren ginge - mit kochendem Wasser uberbruht und in einer Spindelpresse bis zum letzten Tropfen ausgewrungen, was immerhin noch ein zart duftendes ul abgab. Das Gros des Duftes aber, die Seele eines Meeres von Bluten, war im Kessel verblieben, eingeschlossen und bewahrt im unansehnlich grauweißen, nun langsam erstarrenden Fett. Am kommenden Tag wurde die Mazeration, wie man diese Prozedur nannte, fortgesetzt, der Kessel wieder angeheizt, das Fett verflussigt und mit neuen Bluten beschickt. So ging es mehrere Tage lang von fruh bis sput. Die Arbeit war anstrengend. Grenouille hatte bleierne Arme, Schwielen an den Hunden und Schmerzen im Rucken, wenn er abends in seine Kabane wankte. Druot, der wohl dreimal so kruftig wie er war, luste ihn kein einziges Mal beim Ruhren ab, sondern begnugte sich, die federleichten Bluten nachzuschutten, auf das Feuer aufzupassen und gelegentlich, der Hitze wegen, einen Schluck trinken zu gehen. Aber Grenouille muckte nicht auf. Klaglos ruhrte er die Bluten ins Fett, von morgens bis abends, und spurte wuhrend des Ruhrens die Anstrengung kaum, denn er war immer aufs neue fasziniert von dem Prozess, der sich unter seinen Augen und unter seiner Nase abspielte: dem raschen Welken der Bluten und der Absorption ihres Duftes. Nach einiger Zeit entschied Druot, dass das Fett nun gesuttigt sei und keinen weiteren Duft mehr absorbieren kunne. Sie luschten das Feuer, seihten die schwere Suppe zum letzten Mal ab und fullten sie in Tiegel aus Steingut, wo sie sich alsbald zu einer herrlich duftenden Pomade verfestigte. Dies war die Stunde von Madame Arnulfi, die kam, um das kostbare Produkt zu prufen, zu beschriften und die Ausbeute genauestens nach Qualitut und Quantitut in ihren Buchern zu verzeichnen. Nachdem sie die Tiegel huchstpersunlich verschlossen, versiegelt und in die kuhlen Tiefen ihres Kellers getragen hatte, zog sie ihr schwarzes Kleid an, nahm ihren Witwenschleier und machte die Runde bei den Kaufleuten und Parfumhandelshuusern der Stadt. Mit bewegenden Worten schilderte sie den Herren ihre Situation als alleinstehende Frau, ließ sich Angebote machen, verglich die Preise, seufzte und verkaufte endlich - oder verkaufte nicht. Parfumierte Pomade, kuhl gelagert, hielt sich lange. Und wenn die Preise jetzt zu wunschen ubrigließen, wer weiß, vielleicht kletterten sie im Winter oder nuchsten Fruhjahr in die Huhe. Auch war zu uberlegen, ob man nicht, statt diesen Pfeffersucken zu verkaufen, mit andern kleinen Produzenten gemeinsam eine Ladung Pomade nach Genua verschiffen oder sich an einem Konvoi zur Herbstmesse in Beaucaire beteiligen sollte - riskante Unternehmungen, gewiss, doch im Erfolgsfall uußerst eintruglich. Diese verschiedenen Muglichkeiten wog Madame Arnulfi sorgsam gegeneinander ab, und manchmal verband sie sie auch und verkaufte einen Teil ihrer Schutze, hob einen anderen auf und handelte mit einem dritten auf eigenes Risiko. Hatte sie allerdings bei ihren Erkundigungen den Eindruck gewonnen, der Pomademarkt sei ubersuttigt und werde sich in absehbarer Zeit nicht zu ihren Gunsten verknappen, so eilte sie wehenden Schleiers nach Hause und gab Druot den Auftrag, die ganze Produktion einer Lavage zu unterziehen und sie in Essence Absolue zu verwandeln. Und dann wurde die Pomade wieder aus dem Keller geholt, in verschlossenen Tupfen aufs Vorsichtigste erwurmt, mit feinstem Weingeist versetzt und vermittels eines eingebauten Ruhrwerks, welches Grenouille bediente, grundlich durchgemischt und ausgewaschen. Zuruck in den Keller verbracht, kuhlte diese Mischung rasch aus, der Alkohol schied sich vom erstarrenden Fett der Pomade und konnte in eine Flasche abgelassen werden. Er stellte nun quasi ein Parfum dar, allerdings von enormer Intensitut, wuhrend die zuruckbleibende Pomade den grußten Teil ihres Duftes verloren hatte. Abermals also war der Blutenduft auf ein anderes Medium ubergegangen. Doch damit war die Operation noch nicht zu Ende. Nach grundlicher Filtrage durch Gazetucher, in denen auch die kleinsten Klumpchen Fett zuruckgehalten wurden, fullte Druot den parfumierten Alkohol in einen kleinen Alambic und destillierte ihn uber dezentestem Feuer langsam ab. Was nach der Verfluchtigung des Alkohols in der Blase zuruckblieb, war eine winzige Menge blass gefurbter Flussigkeit, die Grenouille wohlbekannt war, die er aber in dieser Qualitut und Reinheit weder bei Baldini noch etwa bei Runel gerochen hatte: Das schiere ul der Bluten, ihr blanker Duft, hunderttausendfach konzentriert zu einerkleinen Pfutze Essence Absolue. Diese Essenz roch nicht mehr lieblich. Sie roch beinahe schmerzhaft intensiv, scharf und beizend. Und doch genugte schon ein Tropfen davon, aufgelust in einem Liter Alkohol, um sie wieder zu beleben und ein ganzes Feld von Blumen geruchlich wiederauferstehen zu lassen. Die Ausbeute war furchterlich gering. Gerade drei kleine Flakons fullte die Flussigkeit aus der Destillierblase. Mehr war von dem Duft von hunderttausend Bluten nicht ubriggeblieben als drei kleine Flakons. Aber sie waren ein Vermugen wert, schon hier in Grasse. Und um wie viel mehr noch, wenn man sie nach Paris verschickte oder nach Lyon, nach Grenoble, nach Genua oder Marseille! Madame Arnulfi bekam einen schmelzend schunen Blick beim Anschauen dieser Fluschchen, sie liebkoste sie mit Augen, und als sie sie nahm und mit fugig geschliffenen Glaspfropfen verstupselte, hielt sie den Atem an, um nur ja nichts vom kostbaren Inhalt zu verblasen. Und damit auch nach dem Verstupseln nicht das kleinste Atom verdunstenderweise entweiche, versiegelte sie die Pfropfen mit flussigem Wachs und umkapselte sie mit einer Fischblase, die sie am Flaschenhals fest verschnurte. Dann stellte sie sie in ein wattegefuttertes Kustchen und brachte sie im Keller hinter Schloss und Riegel. 37 Im April mazerierten sie Ginster und Orangenblute, im Mai ein Meer von Rosen, deren Duft die Stadt fur einen ganzen Monat in einen cremigsußen unsichtbaren Nebel tauchte. Grenouille arbeitete wie ein Pferd. Bescheiden, mit fast sklavenhafter Bereitschaft fuhrte er all die untergeordneten Tutigkeiten aus, die Druot ihm auftrug. Aber wuhrend er scheinbar stumpfsinnig ruhrte, spachtelte, Bottiche wusch, die Werkstatt putzte oder Feuerholz schleppte, entging seiner Aufmerksamkeit nichts von den wesentlichen Dingen des Geschufts, nichts von der Metamorphose der Dufte. Genauer als Druot es je vermocht hutte, mit seiner Nase numlich, verfolgte und uberwachte Grenouille die Wanderung der Dufte von den Bluttern der Bluten uber das Fett und den Alkohol bis in die kustlichen kleinen Flakons. Er roch, lange ehe Druot es bemerkte, wann sich das Fett zu stark erhitzte, er roch, wann die Blute erschupft, wann die Suppe mit Duft gesuttigt war, er roch, was im Innern der Mischgefuße geschah und zu welchem pruzisen Moment der Destillationsprozess beendet werden musste. Und gelegentlich gab er sich zu verstehen, freilich ganz unverbindlich und ohne seine unterwurfige Attitude abzulegen. Ihm komme so vor, sagte er, als sei das Fett jetzt womuglich zu heiß geworden; er glaube fast, man kunne demnuchst abseihen; er habe es irgendwie im Gefuhl, als sei der Alkohol im Alambic jetzt verdunstet... Und Druot, der zwar nicht gerade fabelhaft intelligent, aber auch nicht vullig dumpfkupfig war, bekam mit der Zeit heraus, dass er mit seinen Entscheidungen justament dann am besten fuhr, wenn er das tat oder anordnete, was Grenouille gerade "so glaubte" oder "irgendwie im Gefuhl" hatte. Und da Grenouille niemals vorlaut oder besserwisserisch uußerte, was er glaubte oder im Gefuhl hatte, und weil er niemals und vor allem niemals in Gegenwart von Madame Arnulfi - Druots Autoritut und seine pruponderante Stellung als des ersten Gesellen auch nur ironisch in Zweifel gezogen hutte, sah Druot keinen Anlass, Grenouilles Ratschlugen nicht zu folgen, ja, ihm sogar nicht mit der Zeit immer mehr Entscheidungen ganz offen zu uberlassen. Immer huufiger geschah es, dass Grenouille nicht mehr nur ruhrte, sondern zugleich auch beschickte, heizte und siebte, wuhrend Druot auf einen Sprung in die >Quatre Dauphins< verschwand, fur ein Glas Wein, oder hinauf zu Madame, um dort nach dem Rechten zu sehn. Er wusste, dass er sich auf Grenouille verlassen konnte. Und Grenouille, obwohl er doppelte Arbeit verrichtete, genoss es, allein zu sein, sich in der neuen Kunst zu perfektionieren und gelegentlich kleine Experimente zu machen. Und mit diebischer Freude stellte er fest, dass die von ihm bereitete Pomade ungleich feiner, dass seine Essence Absolue um Grade reiner war als die gemeinsam mit Druot erzeugte. Ende Juli begann die Zeit des Jasmins, im August die der Nachthyazinthe. Beide Blumen waren von so exquisitem und zugleich fragilem Parfum, dass ihre Bluten nicht nur vor Sonnenaufgang gepfluckt werden mussten, sondern auch die speziellste, zarteste Verarbeitung erheischten. Wurme verminderte ihren Duft, das plutzliche Bad im heißen Mazerationsfett hutte ihn vullig zersturt. Diese edelsten aller Bluten ließen sich ihre Seele nicht einfach entreißen, man musste sie ihnen regelrecht abschmeicheln. In einem besonderen Beduftungsraum wurden sie auf mit kuhlem Fett bestrichene Platten gestreut oder locker in ulgetrunkte Tucher gehullt und mussten sich langsam zu Tode schlafen. Erst nach drei oder vier Tagen waren sie verwelkt und hatten ihren Duft an das benachbarte Fett und ul abgeatmet. Dann zupfte man sie vorsichtig ab und streute frische Bluten aus. Der Vorgang wurde wohl zehn, zwanzig Mal wiederholt, und bis sich die Pomade sattgesogen hatte und das duftende ul aus den Tuchern abgepresst werden konnte, war es September geworden. Die Ausbeute war noch um ein Wesentliches geringer als bei der Mazeration. Die Qualitut aber einer solchen durch kalte Enfleurage gewonnenen Jasminpaste oder eines Huile Antique de Tubereuse ubertraf die jedes anderen Produkts der parfumistischen Kunst an Feinheit und Originaltreue. Namentlich beim Jasmin schien es, als habe sich der sußhaftende, erotische Duft der Blute auf den Fettplatten wie in einem Spiegel abgebildet und strahle nun vullig naturgetreu zuruck - cum grano salis freilich. Denn Grenouilles Nase erkannte selbstverstundlich noch den Unterschied zwischen dem Geruch der Blute und ihrem konservierten Duft: Wie ein zarter Schleier lag da der Eigengeruch des Fetts - es mochte so rein sein, wie es wollte - uber dem Duftbild des Originals, milderte es, schwuchte das Eklatante sanft ab, machte vielleicht sogar seine Schunheit fur gewuhnliche Menschen uberhaupt erst ertruglich... In jedem Falle aber war die kalte Enfleurage das raffinierteste und wirksamste Mittel, zarte Dufte einzufangen. Ein besseres gab es nicht. Und wenn die Methode auch nicht genugte, Grenouilles Nase vollkommen zu uberzeugen, so wusste er doch, dass sie zur Dupierung einer Welt von Dumpfnasen tausendmal hinreichte. Schon nach kurzer Zeit hatte er seinen Lehrmeister Druot, ebenso wie beim Mazerieren, auch in der Kunst der kalten Beduftung uberflugelt und ihm dies auf die bewuhrte, unterwurfig diskrete Weise klargemacht. Druot uberließ es ihm gerne, hinaus zum Schlachthof zu gehen und dort die geeignetsten Fette zu kaufen, sie zu reinigen, auszulassen, zu filtrieren und ihr Mischverhultnis zu bestimmen - eine fur Druot immer huchst diffizile und gefurchtete Aufgabe, denn ein unreines, ranziges oder zu sehr nach Schwein, Hammel oder Rind riechendes Fett konnte die kostbarste Pomade ruinieren. Er uberließ es ihm, den Abstand der Fettplatten im Beduftungsraum, den Zeitpunkt des Blutenwechsels, den Suttigungsgrad der Pomade zu bestimmen, uberließ ihm bald alle prekuren Entscheidungen, die er, Druot, uhnlich wie seinerzeit Baldini, immer nur ungefuhr nach angelernten Regeln treffen konnte, die Grenouille aber mit dem Wissen seiner Nase traf - was Druot freilich nicht ahnte. "Er hat eine gluckliche Hand", sagte Druot, "er hat ein gutes Gefuhl fur die Dinge." Und manchmal dachte er auch: "Er ist ganz einfach viel begabter als ich, er ist ein hundertmal besserer Parfumeur." Und zugleich hielt er ihn fur einen ausgemachten Trottel, da Grenouille, wie er glaubte, nicht das geringste Kapital aus seiner Begabung schlug, er aber, Druot, es mit seinen bescheideneren Fuhigkeiten demnuchst zum Meister bringen wurde. Und Grenouille besturkte ihn in dieser Meinung, gab sich mit Fleiß dummlich, zeigte nicht den geringsten Ehrgeiz, tat, als wisse er gar nichts von seiner eigenen Genialitut, sondern als handle er nur nach den Anordnungen des viel erfahreneren Druot, ohne den er ein Nichts wure. Auf diese Weise kamen sie recht gut miteinander aus. Dann wurde es Herbst und Winter. In der Werkstatt ging es ruhiger zu. Die Blutendufte lagen in Tiegeln und Flakons gefangen im Keller, und wenn nicht Madame die eine oder andre Pomade auszuwaschen wunschte oder einen Sack getrockneter Gewurze destillieren ließ, war nicht mehr allzu viel zu tun. Oliven gab es noch, Woche fur Woche ein paar Kurbe voll. Sie pressten ihnen das Jungfernul ab und gaben den Rest in die ulmuhle. Und Wein, von dem Grenouille einen Teil zu Alkohol destillierte und rektifizierte. Druot ließ sich immer weniger blicken. Er tat seine Pflicht im Bett von Madame, und wenn er erschien, nach Schweiß und Samen stinkend, so nur, um alsbald in die >Quatre Dauphins< zu verschwinden. Auch Madame kam selten herunter. Sie beschuftigte sich mit ihren Vermugensangelegenheiten und mit der Umarbeitung ihrer Garderobe fur die Zeit nach dem Trauerjahr. Oft sah Grenouille tagelang niemanden außer der Magd, bei der er mittags Suppe bekam und abends Brot und Oliven. Er ging kaum aus. Am korporativen Leben, namentlich den regelmußigen Gesellentreffen und Umzugen beteiligte er sich gerade so huufig, dass er weder durch seine Abwesenheit noch durch seine Gegenwart auffiel. Freundschaften oder nuhere Bekanntschaften hatte er keine, achtete aber peinlich darauf, nicht womuglich als arrogant oder außenseiterisch zu gelten. Er uberließ es den anderen Gesellen, seine Gesellschaft fad und unergiebig zu finden. Er war ein Meister in der Kunst, Langeweile zu verbreiten und sich als unbeholfenen Trottel zu geben - freilich nie so ubertrieben, dass man sich mit Genuss uber ihn lustig machen oder ihn als Opfer fur irgendeinen der derben Zunftspuße gebrauchen hutte kunnen. Es gelang ihm, als vollstundig uninteressant zu gelten. Man ließ ihn in Ruhe. Und nichts anderes wollte er. 38 Er verbrachte seine Zeit im Atelier. Druot gegenuber behauptete er, er wolle ein Rezept fur Kulnisches Wasser erfinden. In Wirklichkeit aber experimentierte er mit ganz anderen Duften. Sein Parfum, das er in Montpellier gemischt hatte, ging, obwohl er es sehr sparsam verwendete, allmuhlich zu Ende. Er kreierte ein neues. Aber diesmal begnugte er sich nicht mehr damit, aus hastig zusammengesetzten Materialien den Menschengrundgeruch schlecht und recht zu imitieren, sondern er setzte seinen Ehrgeiz daran, sich einen persunlichen Duft oder vielmehr eine Vielzahl persunlicher Dufte zuzulegen. Zunuchst machte er sich einen Unauffulligkeitsgeruch, ein mausgraues Duftkleid fur alle Tage, bei dem der kusigsuuerliche Duft des Menschlichen zwar noch vorhanden war, sich aber gleichsam nur noch wie durch eine dicke Schicht von leinenen und wollenen Gewundern, die uber trockne Greisenhaut gelegt sind, an die Außenwelt verstrumte. So riechend konnte er sich bequem unter Menschen begeben. Das Parfum war stark genug, um die Existenz einer Person olfaktorisch zu begrunden, und zugleich so diskret, dass es niemanden behelligte. Grenouille war damit geruchlich eigentlich nicht vorhanden und dennoch in seiner Prusenz immer aufs Bescheidenste gerechtfertigt - ein Zwitterzustand, der ihm sowohl im Hause Arnulfi als auch bei seinen gelegentlichen Gungen durch die Stadt sehr zupass kam. Bei gewissen Gelegenheiten freilich erwies sich der bescheidene Duft als hinderlich. Wenn er im Auftrag von Druot Besorgungen zu machen hatte oder fur sich selbst bei einem Hundler etwas Zibet oder ein paar Kurner Moschus kaufen wollte, konnte es geschehen, dass man ihn in seiner perfekten Unauffulligkeit entweder vullig ubersah und nicht bediente oder zwar sah, aber falsch bediente oder wuhrend des Bedienens wieder vergaß. Fur solche Anlusse hatte er sich ein etwas rasseres, leicht schweißiges Parfum zurechtgemixt, mit einigen olfaktorischen Ecken und Kanten, das ihm eine derbere Erscheinung verlieh und die Leute glauben machte, es sei ihm eilig und ihn trieben dringende Geschufte. Auch mit einer Imitation von Druots aura seminalis, die er mittels Beduftung eines fettigen Leintuchs durch eine Paste von frischen Enteneiern und angegorenem Weizenmehl tuuschend uhnlich herzustellen wusste, hatte er gute Erfolge, wenn es darum ging, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu erregen. Ein anderes Parfum aus seinem Arsenal war ein mitleiderregender Duft, der sich bei Frauen mittleren und huheren Alters bewuhrte. Er roch nach dunner Milch und sauberem weichem Holz. Grenouille wirkte damit - auch wenn er unrasiert, finsterer Miene und bemuntelt auftrat - wie ein armer blasser Bub in einem abgewetzten Juckchen, dem geholfen werden musste. Die Marktweiber, wenn sie seiner anruchig wurden, steckten ihm Nusse und trockne Birnen zu, weil er so hungrig und hilflos aussah, wie sie fanden. Und bei der Frau des Metzgers, einer an und fur sich unerbittlich strengen Vettel, durfte er sich alte stinkende Fleisch- und Knochenreste aussuchen und gratis mitnehmen, denn sein Unschuldsduft ruhrte ihr mutterliches Herz. Aus diesen Resten wiederum bezog er durch direktes Digerieren mit Alkohol die Hauptkomponente eines Geruchs, den er sich zulegte, wenn er unbedingt allein und gemieden sein wollte. Der Geruch schuf um ihn eine Atmosphure leisen Ekels, einen fauligen Hauch, wie er beim Erwachen aus alten ungepflegten Mundern schlugt. Er war so wirkungsvoll, dass sogar der wenig zimperliche Druot sich unwillkurlich abwenden und das Freie aufsuchen musste, ohne sich freilich ganz deutlich bewusst zu werden, was ihn wirklich abgestoßen hatte. Und ein paar Tropfen des Repellents, auf die Schwelle der Kabane getruufelt, genugten, jeden muglichen Eindringling, Mensch oder Tier, fernzuhalten. Im Schutz dieser verschiedenen Geruche, die er je nach den uußeren Erfordernissen wie die Kleider wechselte und die ihm alle dazu dienten, in der Welt der Menschen unbehelligt zu sein und in seinem Wesen unerkannt zu bleiben, widmete sich Grenouille nun seiner wirklichen Leidenschaft: der subtilen Jagd nach Duften. Und weil er ein großes Ziel vor der Nase hatte und noch uber ein Jahr lang Zeit, ging er nicht nur mit brennendem Eifer, sondern auch ungemein planvoll und systematisch vor beim Schurfen seiner Waffen, beim Ausfeilen seiner Techniken, bei der allmuhlichen Perfektionierung seiner Methoden. Er fing dort an, wo er bei Baldini aufgehurt hatte, bei der Gewinnung der Dufte lebloser Dinge: Stein, Metall, Glas, Holz, Salz, Wasser, Luft... Was damals mit Hilfe des groben Verfahrens der Destillation kluglich misslungen war, gelang nun dank der starken absorbierenden Kraft der Fette. Einen messingnen Turknauf, dessen kuhl-schimmliger, belegter Duft ihm gefiel, umkleidete Grenouille fur ein paar Tage mit Rindertalg. Und siehe, als er den Talg herunterschabte und prufte, so roch er, in zwar sehr geringem Maße, aber doch eindeutig nach eben jenem Knauf. Und selbst nach einer Lavage in Alkohol war der Geruch noch da, unendlich zart, entfernt, vom Dunst des Weingeists uberschattet und auf der Welt wohl nur von Grenouilles feiner Nase wahrnehmbar aber eben doch da, und das hieß: zumindest im Prinzip verfugbar. Hutte er zehntausend Knuufe und wurde er sie tausend Tage lang mit Talg umkleiden, er kunnte einen winzigen Tropfen Essence Absolue von Messingknaufduft erzeugen, so stark, dass jedermann d